Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Zeigt, daß Leute, die aus dem Blick entschwinden, darum doch an der rechten Stelle wieder erscheinen können
eingestellt: 5.7.2007
Wer ein sorgenvolles, bekümmertes, schmerzbeladenes Herz hat, der trage es, wenn er es irgend vermag, hinaus auf die großen Wasser. Es liegt etwas Befreiendes, Kräftigendes in dem Schweben auf dem beweglichen Element; der Horizont des Menschen wird weiter auf dem Meere. Es ist ewig dasselbe, und doch immer ein anderes; einfachste tiefste Harmonie ist im Sturm, wie in der Windstille. Das ängstlich Kleine, welches auf der »wohlgegründeten Erde« von allen Seiten her sich
aufdrängt, weicht zurück; der starke Geist empfindet lebhaft, daß es besser ist, in den Armen der lauttönenden Amphitrite erdrückt und erstickt zu werden, als von vier dumpfen Mauern und einem Haufen Federbetten.
Ähnliches empfand Robert, nachdem das deutsche Ufer hinter ihm versunken war und er die Seekrankheit überwunden hatte. Noch mehr empfand er das, als nach tagelangem Kreuzen gegen widrige Winde die Küsten von England und Frankreich, die Scharen wild geschaukelter Fischerboote
dem Auge sich entzogen und das gute Schiff Teutonia durch den freien Atlantischen Ozean westwärts zog. Nun hatte, gewiegt auf dem blauen Wasser, Robert die beste Zeit und Gelegenheit, über sich und seine Schicksale nachzusinnen; und mit jedem andern Erdgeborenen teilte er das Recht, Wunder über Wunder in seinem Leben zu finden. Die geheimnisvolle Tiefe, über welcher er schwebte, schien ihm nicht so viel Wunder zu verbergen wie die eigene Brust.
Seit jene Briefe ihn von jenem grünen
Waldhügel aufgeschreckt hatten, auf welchem er mit den Genossen das Lied vom Glück der Menschen und Neid der Götter sang, war das alte Grübeln, das bittere Wühlen im eigensten, innersten Sein mit verdoppelter Macht zurückgekommen. In alter Weise rief er die Bilder der Vergangenheit zurück, verknüpfte sie miteinander und suchte sich über jede Lebensstunde Rechenschaft zu geben. Über sein Erwachen zum Denken im verborgenen Tal des Winzelwaldes grübelte er und suchte die ersten Anfänge der
Charakter- und Geistesaufbauung mit den Anschauungen des gewordenen Mannes in Einklang zu bringen. Da wurden manche Fragen laut, auf welche es keine Antwort gab, und manch ein Rätsel blieb ungelöst dem Sinnenden. Aber auch in mancher Neigung, in mancher Tat, in manchem Gedanken des Kindes, des Knaben fand er die Wurzel des Daseins des reifen Mannes, und manches, was in dem einsamen Walddorfe in der Seele auf sproßte, war noch lebendig, trieb Ranken und trug bittere oder süße Frucht in dieser
Stunde, wo das große Meer und die hohen Wogen des Lebens den Weltbürger schaukelten. Robert griff nach allen Uranfängen seiner Existenz, im Guten wie im Bösen, zurück; an allen Fäden, welche davon in die Gegenwart hineinliefen, tastete er sich zurück, und daß er das konnte, war auch einer von den Gewinnen, die er aus der Schule, durch welche er geführt worden war, gezogen hatte. Oft beobachtete er ernst das bunte Leben, welches auf dem Schiffe herrschte, und es kam ihm vor, als sei er der
einzige, den nicht eine große, glänzende Hoffnung über den Ozean führe. Da war niemand, jung und alt, Mann oder Weib unter den Fahrtgenossen, der nicht von der Ferne, dem »Drüben« ein mehr oder weniger klar gedachtes, fabelhaftes Glück für sich und andere erhoffte. Sie unterhielten ihn alle gern von ihren Plänen und Aussichten, denn die Hoffnung ist um so mitteilsamer, je verschlossener die Enttäuschung ist, und er horchte ihnen gern und teilnehmend. Er hatte jenseits der Wasser kein Glück zu
erwarten; aber er hatte genug gelernt, um die Hoffenden, Frohlockenden nicht zu beneiden – und auch das war viel gewonnen hienieden, wo das Glück des einen selten, sehr selten den andern glücklich macht. Seines wackern Freundes Ludwig gedachte er. Wo mochte der sein? Hatte der gefunden, was er suchte? Das Grab des Bruders stieg drohend in der Phantasie hinter jeder von diesen Fragen empor.
Nach den ersten stürmischen Tagen hatten die Götter der Teutonia eine gute Fahrt gewährt.
Leicht durchschnitt der schnelle Kiel die Fucusbänke von Corvo und Flores, welche am neunzehnten September des Jahres vierzehnhundertzweiundneunzig das Schiffsvolk des Christof Columbus so sehr erschreckt hatten. Der kühne herrliche Genuese hatte aber das Phönikermärchen vom undurchdringlichen Meer nicht gefürchtet. Vor Märchen weicht der Genius nicht zurück; – und was ist Märchen, und was ist Wahrheit in dieser Welt?
Überall findet der denkende Geist hohe Beispiele, an denen er
sich aus schwerer Trübsal und peinlicher Vergrillung emporrichten kann. So lehnte Robert an der Brüstung des Schiffes, blickte hinauf in die sternenhelle Nacht, hinaus in das leuchtende Meer und sprach:
»Die Mittelmäßigkeit, welche mit wenig Kunst die Erde beherrscht, traut dem Geiste nicht, der nach den Sternen sieht. Wenn sie gnädig ist und das Höchste wagen will, gibt sie ihm eine lecke Karavelle und einen Haufen Galeerensklaven und Verbrecher zu Hilfsgenossen, auf daß ja kein
ehrlicher, verständiger Mann bei dem törichten, närrischen Spaß zugrunde gehe. Aber hohe Götter halten ihre Hand über das morsche Fahrzeug, welches den Entdecker trägt. Wenn das meuterische Gesindel in seiner Angst ihm Ketten an die Hände legt, was schadet es? Auch in Ketten vorwärts! O über die tragische Ironie! Wird nicht fast alles Große mit gefesselter Faust gewonnen? Was wollen wir Kleinen uns kümmern, wenn es den Großen so geht? Für uns nicht weniger als für sie gilt das Wort: Auch in
Ketten vorwärts! Auch in Ketten vorwärts!«
Aus den Wogen tauchte Rio Janeiro mit seinen Palmen, seiner buntscheckigen Bevölkerung auf wie ein wunderlicher Traum; aber auf den sonnigen Glanz der Tropen folgten die Nebel und Schneestürme am Kap Hoorn. Doch die bösen Geister der bei den Schiffern so übelberüchtigten Planetenstelle hatten keine Macht über das gute Schiff Teutonia. Glücklich umfuhr es die gefürchtete Spitze, und stolz zeigte sein Gallionbild dem Stillen Ozean Schild und
Schwert. Noch einmal im Hafen, ehe das Ziel erreicht ist! Das ist Valparaiso auf der westlichen Seite des amerikanischen Kontinents.
Wieder hinaus nach kürzester Frist, zu nahe winkte jetzt das Ziel, als daß man sich Zeit gegönnt hätte zum ruhigen Atemholen auf fester Erde. Als endlich, endlich abermals der Ruf: Land! erschallte, da war die Fahrt vollendet, und die langen Wellen des Großen Ozeans rollten gegen die Ufer der kalifornischen Küste. Im unbeschreiblichen Tumult stürzte die
wilderregte Menge auf der Teutonia gegen die Schiffsbrüstung. Mit gierigen Augen und hochklopfenden Herzen starrte sie in die Ferne auf die Bergzacken, die duftverschleiert, mehr geahnt als gesehen, am Horizont auftauchten.
Da lag es nun vor den Augen dieser armen Menschenkinder, da lag es – das Goldland – das Dorado, nach welchem fast seit Beginn der Geschichte die Menschheit auf die verschiedenartigste Weise sich abängstete, das sie suchte im Stein der Weisen, das sie
sah in den phantastischen Träumen vom Reich Ophir, vom Land Golkonda, vom Reich des Priesters Johann. Immer dasselbe Drängen auf einem andern Wege. Ach mit welchen Blicken klammerte sich dies begünstigte Geschlecht des neunzehnten Jahrhunderts an diese toten kahlen Berge, von denen die goldführenden Ströme sich ins Meer herabstürzten!
Und rückwärts auf der Linie des Meereshorizontes tauchte Segel um Segel auf. Jedes Volk des Erdballs kam, seinen Teil zu nehmen von dem unendlichen
Glück.
Auf dem Deck der Teutonia zitterte das Fernrohr in der Hand des Kapitäns. Mit toller, schwindelnder Hast führten die Matrosen die gegebenen Befehle aus; – immer deutlicher trat das Land hervor; eine hohe Felswand schien den Lauf des Schiffes hindern zu wollen; aber was ihr durch Jahrtausende gelungen war, das gelang jetzt nicht mehr: – das Goldene Tor öffnete sich, auf beiden Seiten traten die Felsen zurück, ein hundertstimmiges Jauchzen stieg himmelan
vom Bord der Teutonia; unwillkürlich machten sich dadurch die zusammengepreßten Gefühle in jeder Brust Luft. Vor den Augen der Seefahrer dehnte sich, blitzend im Strahl der Morgensonne, die Bai von San Francisco.
Wer jetzt – jetzt, wo jene Zeit schon längst old fortynine, alt-neunundvierzig geworden ist, dort anlandet, der findet da eine prächtige Stadt, ein geregeltes Staatsleben, ein geregeltes Leben der Individuen. Das war damals anders. Damals setzte jedermann den Fuß des
Eroberers auf diesen dürren Strand mit dem festen Willen, niemandem zu weichen auf dem Wege zum grenzenlosen Reichtum. Jeder, nur mit sich selbst beschäftigt, sah in dem Mann zur Seite nur den gefährlichen Nebenbuhler, den Todfeind. Selten fand der Strauchelnde eine barmherzige, hilfreiche Hand; nur der Egoismus verband hier und da die einzelnen zur gemeinschaftlichen Arbeit.
Da lagen auf der Reede die Schiffe aller Nationen: die chinesische Dschunke neben der englischen Brigg, das
Fahrzeug aus Honolulu neben dem Bremer Schoner, und von jedem Bord hatte sich der Strom der Abenteurer ans Land ergossen und auf dem Strande die tolle Zeltstadt San Francisco mit errichtet, leicht und wunderlich gleich den Gedanken, welche in den wilden Herzen umwirbelten. Ihren Ankerplatz fand auch die Teutonia, und auch ihre Menschenlast stürzte sich im drängenden Getümmel in die Boote, um so schnell als möglich den glorreichen Boden zu erreichen. Ein klares Denken war in diesem Augenblick
eine Unmöglichkeit; möglich schien nur, daß alles dieses, was Wirklichkeit sein sollte, nur eine Vision war. Jedermann hatte das Gefühl, als könnten diese Gebirge, diese Landzunge mit der beweglichen Stadt, dieses bunte Gewühl der Völker, dieser Mastenwald sich wieder in Nebel und Nichts auflösen. Schwindelnd stand Robert Wolf, nach mehrmonatigem Geschaukel auf den Wogen, auf dem festen Erdreich, fast so schwindelnd wie damals, als das Geschick ihn zum erstenmal ratlos, hilflos in die große
Stadt geschleudert hatte. Der Übergang war zu plötzlich. Eben befand man sich noch auf dem weiten Meere, inmitten der Gestalten, der Gesichter, der Stimmen, an die man sich wohl oder übel durch das lange Zusammensein gewöhnt, über die man sich ergötzt, geärgert, erbost, an die man sich auch wohl mit Zuneigung angeschlossen hatte, – nun war man mit einem Schlag, durch einen Schritt über ein schwankendes Brett, in eine Szenerie, in ein Leben versetzt, von welchem man bis dahin nicht die
geringste Ahnung gehabt hatte. Verschwunden waren die bekannten Figuren. In einem Augenblick hatten sie sich in dem Getümmel verloren. Das Schiff war zu einer Art von Heimat geworden; diesem unbekannten Lande, diesem unbekannten Leben gegenüber fühlte man sich vollkommen heimatlos. Für mutige Charaktere jedoch geht dieses zaghafte Gefühl, dessen sich wohl keiner anfänglich erwehren kann, schnell vorüber, und auch bei dem Schüler des Polizeischreibers Fiebiger war es nicht von Dauer. Fest stand
er und blickte klar in das Wirbeln und Wogen.
Um sein geringes Gepäck brauchte er keine Sorge zu haben. Im Notfall konnte er den leichten Koffer auf den eigenen Schultern zu irgendeiner der Holz- und Leinwandbaracken tragen, welche durch ein flatterndes Banner oder durch eine flüchtig und roh bepinselte Tafel als »Hotels« dem müden Seefahrer sich ankündigten. Aber der junge Deutsche konnte sich nicht losreißen von dem merkwürdigen Schauspiel, welches vor seinen Augen fort und fort
wechselte; er schrak auch nicht wenig zusammen, als er plötzlich eine gewichtige Hand auf seiner Schulter fühlte:
»Holla, Landsmann, seid Ihr nach Kalifornien gekommen, um auf offener Straße ein germanisch Tagträumen zu beginnen? Beim Plutus und Mammon, kein Platz dafür hier, Herr Wolf aus dem Winzelwalde!«
Im höchsten Grade überrascht durch die unvermutete Anrede drehte sich Robert um und sah nun einen hohen, breitschultrigen Mann mit dunklem, graugesprenkeltem Vollbart
und sonnegebräuntem Gesicht, über dessen Stirn eine rote Narbe lief, vor sich. Ein breitrandiger Sombrero bedeckte den charaktervollen Kopf, dazu trug der Mann ein ledernes Jagdwams, hohe Stiefeln, eine Büchse, ein Weidmesser, eine indianische Tasche und unter dem Arm eine zusammengerollte mexikanische Serape. Das Plötzliche der Erscheinung und Anrede wirkte so verwirrend auf Robert, daß er einige Sekunden hindurch nicht imstande war zu sagen, wer vor ihm stehe.
Der Fremde machte dem
schnell ein Ende und sagte:
»Kalkuliere, Ihr kennt mich doch wohl! Erinnert Euch an das Polizeibureau zu – na, Ihr wißt. Schickte auch neulich einen Brief nach dem alten Lande, der Euch leider anging. Gebt mir die Hand, ich wußte, daß Ihr Euch den Weg hierher nicht verdrießen lassen würdet.«
»Konrad von Faber! Der Herr Hauptmann von Faber!« rief Robert Wolf und faßte hastig die dargebotene knochige Hand des berühmten Reisenden. »Dank, Dank für die Hand, die Sie mir
damals reichten, welche Sie mir jetzt entgegenstrecken!«
»Still, still«, sagte Faber, »ich freue mich herzlich, daß ich Sie sogleich traf, Mann. Ja, Sie sind ein Mann geworden, und manch einer hätte Sie nicht sofort erkannt; aber in einem Leben, gleich dem meinigen, schärft sich das Auge für Derartiges. War auch Ihr Bruder mein sehr guter Freund – wackerer Junge! – haben zusammen an manchem Lagerfeuer gelegen, und seine Hand hat mich mehr als einmal zu Wasser und zu Land
vor der letzten Unannehmlichkeit geschützt. Leider habe ich ihn jetzt nicht wieder schützen können. Es gibt Leute, die stehen zueinander, wo sie sich treffen, im Salon wie unter dem Büchsenfeuer, s ist ein hart Ding, daß er jetzt in diesem fatalen Sande liegen muß. Das war das Ende davon, Don Roberto, und es geht manchem hier auf die Art. Man gräbt eine Grube und kratzt und wühlt sich die Finger blutig nach dem blanken Staube, und während dem Kratzen und Wühlen schleicht sich der Tod, das alte
Gespenst, hinter Euch, und ein Tritt von seinem verdammten Skelettfuß stürzt Euch kopfüber in das Loch; die Kameraden werfen den Sand und das Gestein, welche Ihr mit so viel Schweiß und Mühe aus der Grube herausgebracht habt, wieder auf Euch, und dann – dann jeder an sein Geschäft; – go ahead! Aber es ist doch ein glorioses Treiben!«
»Und Eva? Eva – meine Schwägerin?« rief Robert, von neuem die Hände Konrad von Fabers fassend.
Ein schmerzliches Zucken ging
über das Gesicht des Reisenden. Mit einem heftigen Ruck riß er seine Hände aus denen des jungen Mannes, trat einen Schritt zurück und lüftete ein wenig den Strohhut, um ihn sogleich desto tiefer in die Stirn zu drücken:
»Stand firm at your post!« murmelte er, und dann rief er laut: »O Wolf, ich habe niemals mich viel um die Weiber gekümmert, es ist eine beschwerliche Last für einen Wanderer meines Schlages; – zu weichliche Kreaturen für einen Menschen, der das Stillsitzen nicht
vertragen kann! Wolf, Eures Bruders Frau ist die einzige Königin, die mir auf meinem Lebenswege begegnet ist, und ich habe doch manche Damen gesehen, die sich offiziell den Titel ausbaten. Sie ist ihrem Manne keine Last gewesen. Eine Heldin ist sie, und als solche hat sie geduldet. Ach, sie wird nicht lange mehr zu dulden haben; s ist ein Weg von Texas bis zum Stillen Ozean. Die Wälder, die Prärien, die Felsengebirge, die Wüsten könnten den stärksten Mann müde und knielahm machen, Eva Wolf ist
nicht müde geworden. Wenn sich wilde Gesellen im Zuge zu Boden warfen und sterben wollten, haben wir ihnen die Eva Wolf und die andere, die mit ihr war, das kleine Mädchen, ihr Mariechen, gezeigt, wir haben manchen albernen, weichfüßigen Tölpel dadurch wieder auf die Beine und zum Marschieren gebracht. Sie hat auch Glück gehabt hier auf dem goldenen Boden. Sie stieg selbst zum Spaß in solch ein Loch, in welchem nun Euer Bruder begraben liegt. In diesem Augenblick noch klingt mir ihr helles
Lachen ins Ohr, als sie einen blitzenden Klumpen in die Höhe hielt und rief: »Oro, oro! Schau, Fritz, damit kaufen wir das ganze Poppenhagen, Schloß und Dorf!« – Nie vergeß ich das stolze Lächeln, mit welchem Fritz auf sein mutiges Weib blickte; sie war ganz ein Weib für ihn, und nie hat sie kalt eins seiner Luftschlösser von künftigem Glück eingerissen. Welch einen Respekt alle die wilden Kerle in den Minen vor ihr hatten; – es war glorreich! Aber das Fieber, das Fieber! ... Ihr
werdet ja selbst sehen, Robert Wolf – sie wird Euch nichts vorwimmern; aber es ist nur um so herzzerbrechender.«
Mit sprachlosem Schmerz und Stolz hatte Robert diesem Berichte Konrad Fabers zugehört; mit hundert hastigen Fragen bestürmte er den Reisenden jetzt und erfuhr, daß Eva Wolf in einer Blockhütte weit in den Bergen auf den Tod liege.
»Zu ihr! Zu ihr!« murmelte er, und Faber nickte:
»Jawohl, morgen in der Frühe wollen wir zu ihr; der Apotheker wird
seine Drugs bis dahin wohl fertig haben. Jetzt aber kommt, lieber Junge, ich will Euch zu einem Quartier und zu Landsleuten, bei denen Ihr Euch nicht fremd fühlen sollt, führen. Morgen gehen wir zum Grabe Eures Bruders, zum Weibe Eures Bruders. Dies ist Euer Gepäck?«
Robert nickte.
»Gut, packt an! Was auf dieser Seite des Erdballs der Mensch selbst schleppen kann, muß er schleppen. Ihr werdet Euch wundern über die Leute, die uns in unserm Quartier erwarten.«
Den
Koffer zwischen sich nehmend, brachen die beiden Männer sich Bahn durch das Gewühl der Zeltstadt, und der Hauptmann führte den Ankömmling ziemlich bis ans andere Ende derselben, indem er ihn im Gehen auf allerlei Einzelheiten des Getümmels aufmerksam machte.
»Blickt nicht so niedergeschlagen zur Erde, junger Mann!« rief er. »Selbst im Untergehen läßt ein rechter Mann nichts Bemerkenswertes unbeachtet liegen. Blickt auf und um Euch; wenn Ihr später einmal wieder ruhig in Deutschland
sitzt und über Kornfelder, Obstbäume zum Buchenwald hinüberschaut, so mag Euch die Erinnerung der heutigen Stunden wie das bunteste Zauberbild in die Seele treten. Nicht wahr, Don Roberto, das ist ein tolles Treiben? Achtet, ich bitte Euch, auf die Hautschattierungen. Seht den Burschen dort vor dem Gewürzladen, das ist ein Untertan seiner kanakischen Majestät, – eine alte Bekanntschaft von mir; der Schlingel wollte mir mit aller Gewalt seine Tochter gegen meines Großvaters alte silberne
Taschenuhr verhandeln. Da ich nicht darauf einging, stahl er mir natürlich den Gegenstand seiner Wünsche; – heilloser Spektakel drum vor dem Königlichen Tribunal in Honolulu – französische Intervention in Ermangelung der deutschen; britische Eifersucht auf Frankreich – Reverend Mr. Shambling nahm die Uhr und die schöne Kanakin dazu, und meines Vaters Sohn hatte das Nachsehen. Hallo, schaut, Robert, da geht Paddy vom grünen Erin Arm in Arm mit Chinese-John, dem Ausreißer des
himmlischen Reiches. Chilenen, Hindus, Deutsche, Mexikaner, Engländer, Yankees, Juden, Italiener, Spanier, Russen, Franzosen, alle sind da, jeder mit seinem Löffel. Kalkuliere aber, der Breitopf wird doch nicht groß genug sein.«
Einen bessern Führer durch dieses Menschengewirr, als den großen Reisenden, der alle Nationen, ihre Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche im eigentlichsten Sinne persönlich kannte, hätte Robert nicht finden können. Das war wieder einer der Lehrmeister, welche ihm
ein günstiges Geschick immer von neuem zur rechten Zeit in den Weg führte. Mit allen Völkern der Erde stand Konrad von Faber sozusagen auf Du und Du; er war ein lebendiges Lehrbuch der Ethnographie und wußte Bescheid in der Anschauungsweise eines jeden Bruchteils der Menschheit, einerlei, ob dasselbe von der Mutter in einer schwäbischen Wiege geschaukelt oder in einer Bastmatte an den Stamm einer Kokospalme gehängt worden war. Endlich aber sagte er:
»Angekommen! Kennt Ihr vielleicht
den Mann dort mit der Axt, Wolf?«
Und Robert ließ sein Teil vom Koffer fallen und stürzte mit offenen Armen vorwärts: »Ludwig! Ludwig!«
Ludwig Tellering stieß einen ähnlichen Schrei aus und warf sich an die Brust des Freundes; aus der niedern Tür des Bretterhauses blickte die Mutter Anna und eilte herzu, die Hände in der Schürze trocknend:
»O mein Jesus, Sie sind es? Ach du lieber Gott, die Freude, die Überraschung! Der Herr Hauptmann hat doch recht gehabt.«
»Eine Ahnung habe ich gehabt, daß er heute kommen würde«, sagte Konrad von Faber. »Na Mutter, was macht der junge Bürger von Kalifornien, was macht die Frau? Alles noch immer wohlauf, hoffe ich.«
»Nach Umständen, Herr Hauptmann«, antwortete die alte Frau mit glückseligem Lächeln; »aber laßt mich nur dem Herrn Wolf –«
»Kommt, Mutter, laßt die beiden jungen Leute jetzt allein«, fiel ihr Konrad ins Wort, »und erzählt mir etwas mehr vom Enkel.«
Die Alte
nickte:
»s ist schon recht; ja, mein Ludwig mag wohl ein volles Herz haben, und Herr Robert – ach Gott, weiß er denn schon alles?«
»Alles!" sagte der Hauptmann und führte die gute Frau gegen das Haus oder vielmehr die Bretterbude. Die beiden Freunde hatten sich währenddem lange und innig in die Augen gesehen und in den Blick viele Worte gelegt.
»So treffen wir uns hier wieder, und ich finde dich wie gewöhnlich mitten in der Arbeit und auch – ich sehe
es dir an – im Glück!« sagte Robert. »Gott grüße dich, alter, lieber Gesell; – du hast gefunden, was du so heiß suchtest und ersehntest!«
»In der Arbeit und im Glück!« rief Ludwig. »Da schau!«
Ein helles Kindergeschrei ließ sich vom Hause her vernehmen, und auf der Schwelle der Baracke erschien wieder die Frau Anna mit dem Hauptmann. In den Armen der Frau aber lag das kleine Wesen, welches seine klare Stimme lustig erklingen ließ im Brausen des
Völkerdurcheinanders.
»Mein Junge, mein herziger Bube!« rief der Schreiner mit strahlendem Gesicht. »Vorgestern angekommen in der Welt! O wie schade, daß ich dir jetzt meine Frau, meine Marie nicht zeigen darf; aber du weißt – «
»Ich weiß, daß du die beste, wackerste Frau hast. O sage ihr, wie ich ihr danke für alles, was sie an Eva getan hat.«
Ludwig drückte traurig dem Freunde die Hand.
»Ja, ja, das ist der einzige schwarze Schatten, welcher
durch unser Glück geht. Ach die arme Eva! O Robert, Robert, du ahnst nicht, wie sich meine Marie quält, daß sie jetzt nicht bei ihr sein kann; jetzt, wo es am allernötigsten wäre. »Wie sie im ängstlichen Schlaf ihren Namen ruft!«
»Eure Frau hat getan, was sie konnte, Meister«, sagte Konrad von Faber, »und Ihr selbst habt Euch auch als ein braver Mann gegen Fritz und Eva Wolf gehalten. Ach, freut Euch nur des Lebens und Eures Glückes, Ihr Menschenkinder, Ihr habt es in jeder Weise
verdient. Es löst hienieden immer eine Pflicht die andere ab. Auf diesen Pausback hier aber könnt Ihr doppelt stolz sein, Herr. Es ist das erste deutsche Kind, welches auf diesem fremdländischen Boden geboren wurde, Eure Frau müßte eigentlich von Rechts wegen eine Prämie vom alten Lande drüben haben. Nicht wahr, Mutter, es ist ein Labsal, dieser strampelnde deutsch-kalifornische Schreihals in diesem verdammten Gewühl von ausgewachsenen Abenteurern, Schwindlern, Halunken und Narren?«
»s ist ein Gottessegen, Herr Hauptmann!« sagte die Alte; »aber nun muß ich auch ein Wort zum Herrn Wolf sprechen. Ach du lieber Himmel, es stößt einem doch fast das Herz ab, daß man so weit von der Heimat fort ist.«
Eine heiße Träne fiel aus dem Auge der Greisin auf die Stirn des Säuglings, als sie fortfuhr:
»So weit, so unmenschlich weit von hier liegt mein Johannes. Ach, Ihr Herren, Ihr könnts mir aufs Wort glauben, ich wäre doch nicht fortgegangen, wenn ich gewußt
hätt, daß das Kalfonium soweit weg sei von meines Johannes Grab. Der liegt nun da so ganz allein, und niemand kümmert sich um sein Grab!«
»Denken Sie das nicht, Mutter Anna!« rief Robert. »Ist nicht der alte Ulex noch in der Heimat? Der sorgt schon für den Hügel. Und der alte Fiebiger auch. O Mutter, Mutter, wir haben treue Freunde drüben zurückgelassen.«
Die alte Frau küßte ihren Enkel heftig, und dann schluchzte sie:
»Kommen Sie herein, kommt alle herein; Sie
müssen uns alles erzählen von daheim, von der Musikantengasse, von den Nachbarn. Es war doch ein ander Ding im Hof von Nummer zwölf drüben beim Mäuseler, wenns auch ein wenig dunkel und feucht war, als hier in dieser Bude, wo man leben muß wie die Zigeuner. Wer das mir an meiner Wiege gesungen hätte; wer das mir gesagt hätte, wenn ich sonst mit meinem Johannes aus der Kirche kam, die Straße so reinlich dalag und die Wachtparade in der Ferne spielte und Ludwig und Luise uns in der Tür
entgegensprangen! Ja, unser Lieschen – Ihr werdet Euch wundern, wo das ist. Drüben im Texas ist sie geblieben und hat nen Landsmann gefreit, nen guten Mann und sehr wohlhabend; aber ich werde sie auch wohl mein Lebtag nicht wieder zu sehen kriegen. Ach, davon hätt ich mir in der Musikantengasse auch nichts geträumt.«
Neben dem Verschlag, in welchem die Wöchnerin lag, enthielt dieses kalifornische Wohnhaus nur noch ein Gemach, welches durch Vorhänge in verschiedene Abteilungen
geschieden war und allen Bedürfnissen der Familie für jetzt genügen mußte. Einige Jahre später freilich erhob sich auf der Stelle ein stattliches steinernes Gebäude, und Herr Ludwig Tellering hätte die halbe Musikantengasse auskaufen können.
Die Mutter Anna tischte ein einfaches Mahl auf, von welchem jedoch keiner der kleinen Gesellschaft, den Hauptmann vielleicht ausgenommen, vor innerer Aufregung viel genoß.
Dann erzählte Ludwig dem Freunde seine Abenteuer in Texas, wie
er die Karawane Friedrich Wolfs erreicht und seine Marie gefunden habe.
»Die Mutter blieb bei Luise, die, wie du schon erfahren hast, in Galveston ein Heimwesen gefunden hat. s ist eine resolute Frau, meine alte Mutter da; sie hat sich gar nicht lange besonnen, als ich sie hierher nachkommen ließ; aber ich hoffe, ihr auch endlich ein ruhiges, glückliches Alter bereiten zu können. Anfangs war ich natürlich ebenfalls in den Minen, hatte aber wenig Glück beim Goldsuchen – die
tüchtige Arbeit ist doch überall das Beste, selbst hier in Kalifornien. Ein halbes Jahr vor deines Bruders Tode zog ich mit Marie hier herunter, wo mein Handwerk wirklich einen goldenen Boden hatte. Friedrich und Eva bedurften unserer damals nicht; sie waren gesund, und alles, was sie unternahmen, gelang nach Herzenswunsch. Sie hatten ihre Blockhütte damals am Joaquinfluß, und ihnen fiel das Gold, welches ich dort vergeblich suchte, wie von selber in die Hände. Ich richtete hier in San Francisco
meine Werkstätte ein, und da war für den Mann des Handwerks die rechte Stelle; ich quälte mich nicht mehr umsonst. Da hörte ich einmal durch den Herrn Hauptmann hier, daß Fritz und Eva den Joaquin aufgegeben hätten und nach dem Yuba gegangen seien, und dann kam die Nachricht von deines Bruders Tode. Meine Frau lag damals todkrank, und ich konnte nicht fort von ihr; sie hat auch über ein halbes Jahr auf den Tod gelegen, und dann meldete sich der Junge. Von Zeit zu Zeit haben wir Nachricht von der
armen Eva durch den Hauptmann und auch durch andere Boten erhalten. Ach, Robert, ich wollte, wir hätten mehr für sie tun können!«
Robert Wolf drückte stumm dem Schreiner die Hand und seufzte:
»Ihr konntet nicht mehr tun – Gott segne Euch.«
Konrad von Faber nahm jetzt den Hut, um die Arzneien vom Apotheker zu holen, und nun erzählte Robert dem Freunde von dem eigenen Leben. Er verschwieg ihm nichts, und zuletzt schloß er:
»Sieh, so fahre ich denn
durch die Welt, wie es im Märchen heißt: Vor mir Nacht, hinter mir Nacht. Mut und Stärke habe ich, aber nicht mehr die Freudigkeit, welche das Leben zum Leben macht. Einst bin ich wild genug der armen Eva nachgestürmt; aber so tief wie jetzt hab ich damals doch nicht mich nach ihr gesehnt. Was bleibt mir auch anders in der weiten Welt als der Platz neben ihrem Krankenlager? Wenn das Ziel erreicht und wenn Gott wollte, daß auch sie davongehen sollte, zur Ruhe an meines Bruders Seite, was dann?
Ach Ludwig, Ludwig, es ist ein schrecklich Ding um dieses kahle, öde Was dann! Ich finde keine Antwort darauf.«
Ludwig Tellering senkte das Haupt; er wußte keinen Trost für den Freund.
O Heinrich Ulex, weiser Meister, es ist doch oft sehr schwer, an den Sternen nicht zu verzweifeln. Vorwärts, auch in Ketten vorwärts, Wolf; es ist wenigstens ein Trost, daß der Mensch nicht all und jede Verantwortlichkeit für sein Dasein und seine Wege und das Ende seiner Wege zu tragen
hat!
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