Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex; Fräulein Juliane von Poppen bat eine Entdeckung gemacht
eingestellt: 5.7.2007
Der Polizeischreiber Fiebiger klopfte an die Tür des Astronomen Heinrich Ulex. Trotzdem es nicht leicht denkbar war, daß irgendein Unbekannter zu dieser Zeit der Nacht sich hierher störend verlieren könne, war die Pforte doch doppelt und dreifach verriegelt und öffnete sich auch nicht so leicht wie die Tür zum Polizeibureau Nummer dreizehn oder irgendeine andere vielgebrauchte Tür. Sie öffnete sich mit Gekreisch und schloß sich mit Geknarr. Der Mann, welcher den
Riegel weggeschoben hatte, sah fast aus wie der Zauberer im Märchen – ein echter Gelehrter im langen, grauen Schlafrock, graubärtig und grauhaarig. Er nickte dem Eintretenden freundlich, aber kurz zu und schritt schnell zu einem Teleskop zurück, welches gegen den Nachthimmel, der allmählich ziemlich klar geworden war und an dem nur noch dann und wann eine schnelle Wolke hinjagte, gerichtet war. Unbekümmert darum ließ sich der Schreiber in der Nähe des kleinen Kachelofens in einem Lehnstuhl
nieder und sah dem Forscher gleichmütig zu; ein Fremder würde sich jedenfalls verwundert in dem Gemach umgesehen haben. Mit Büchern und Instrumenten war es vollgestopft wie das Studierzimmer des Faust. Merkwürdigkeiten aus allen Naturreichen, Globen, astronomische Gerätschaften waren überall hingestopft, wo Raum war und auch nicht war, und schienen es darauf abgesehen zu haben, den Unvorsichtigen überall zum Stolpern zu bringen. Auf dem grünbehangenen, schwerfälligen Tische neben der Lampe,
unter ungeheuren Haufen beschriebenen Papieres stand ein zierliches Kunstwerk des achtzehnten Jahrhunderts, eine sogenannte Sphaera armillaris, das Kopernikanische Weltsystem kunstreich und ganz vortrefflich darstellend. An der Wand hing eine genaue Abbildung der mensa Isiaca neben einem schönen Bildnisse Keplers. Des Jesuiten Kaspar Schotts Magia naturalis von 1657 lag auf Hegels Naturphilosophie, und Vaninis de admirandis Naturae Reginae Deaeque Mortalium arcanis libri IV neben Kants Kritik
der reinen Vernunft, Giordano Brunos Del infinite universo und Della causa, del principio ed uno neben Schellings Buch über die Weltseele.
Eine geraume Zeit blickte der Sternseher, der Erdenwelt vollständig entzogen, durch sein Rohr, bis er sich endlich mit einem befriedigten Seufzer gegen den späten Besucher umwandte.
»Eine sehr schöne Konstellation, Fritz. Beinahe hätte die Wolke, die jetzt dort zieht, mich ihren Gipfelpunkt verlieren lassen. O die Wolken und die Mauern!
Es ist ein Leiden, da hat mir dort südwärts wieder ein Mensch ein Stockwerk auf sein Haus gesetzt und mir meinen herrlichen Fomahand geraubt, der Barbar, – grad am Maul des mittägigen Fisches. Der Globus aerostaticus ist auch schon fort mit den Schenkeln des Wassermannes. Wie lange wirds dauern, so verliere ich auch den Scheat, den Markab, den Algenib – den ganzen Pegasus. Sie rammen die Gerüste schon ein. Wahrlich, da möchte man wohl Bellerophon sein, um dieses Ungeheuer von
aufschwellender Stadt, dieses schimärische Untier von Mörtel, Ziegel, Elend und Essenqualm niederzureiten in den Schmutz, aus dem es erstanden ist. Das ganze Firmament noch wird es mir dunkel und gierig verdecken. Ach, meine schönen Sterne! Immer höher muß man steigen, je mehr das Irdische andringt. Übrigens freue ich mich, Fritz, daß du noch gekommen bist; in jetziger Jahreszeit muß man auf jeden klaren Augenblick achten und ihn benutzen. Sieh her, ich will – o weh – da sind die
Wolken wieder! Ach, meine schönen Sterne!«
»Laß die Sterne, sie werden in einer andern Nacht um so heller scheinen; ich habe dir etwas anderes mitzuteilen, welches auch dich angeht; denn auf dich habe ich in mehr als einer Hinsicht dabei gerechnet!«
»Nun?«
»Ich will mich verändern!«
Der Sternseher sah den Schreiber höchst verwundert an:
»Du – du – willst dich verändern – jetzt noch? – heiraten, du – o Fritz,
Fritz!«
Lachend schlug Fiebiger mit beiden Händen auf die Knie:
»Sehr gut! Ausgezeichnet! Na, beruhige dich, mein Alter; ganz so schlimm habe ich es doch nicht mit mir im Sinn. In anderer Art will ich mich verändern –«
»Ausziehen?!«
Der Schreiber schüttelte den Kopf:
»Auch das nicht; ich liebe die Musikantengasse und die hintere Aussicht auf diesen wackligen, närrischen Giebel und diesen Tubus, Heinz. Ich bin mit der Laterne
umhergegangen, habe gesucht und endlich den jungen Taugenichts gefunden, den ich adoptieren will. s ist ein Landsmann aus dem Winzelwalde, Heinrich Ulex; s ist ein Poppenhagener.«
»Also das ists; gottlob!« seufzte der Astronom. »Erzähle mir mehr davon. Es ist ein wichtiger Schritt; hast du vorher auch nach den Sternen gesehen, Fritz?«
Der Schreiber zuckte die Achseln:
»So genau wie möglich. Wer kann ihnen aber völlig trauen? Sicherlich nicht ein Polizeischreiber,
der bald sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiert.«
»Erzähle!« sagte Ulex.
Fiebiger gab nun Bericht über Robert Wolf, gab an, wie er zuerst mit dem Knaben in Berührung gekommen sei, wie er sich bemüht habe, den Charakter desselben bis in die kleinsten Einzelheiten zu erkunden, und was er gefunden. Dann erzählte er von den Vorgängen im Zentralpolizeihause, und wie er zuletzt in das Geschick Roberts eingegriffen habe.
Während der ausführlichen Mitteilungen des
Freundes schüttelte der Astronom öfters den Kopf; noch öfters neigte er ihn aber auch billigend, und als Fiebiger endlich seine Erzählung beendet hatte, sagte er:
»Hundertundfünfzig Jahre früher wäre ich statt eines Sternguckers ein Sterndeuter gewesen, und du, Fritz, wärest zu mir gekommen, um das Horoskop deines Schützlings stellen zu lassen. Wir beide hätten dann der großen Kunst im Guten wie im Bösen vertraut, und alles wäre in Ordnung gewesen. Heute liest man nicht mehr der
Menschen Fatum aus den Sternen. Die gehen droben ruhig ihren ewigen Weg; wir irren unruhig hienieden, hin- und hergetrieben wie Blätter im Winde, unsern kurzen Pfad. Wahrlich, man sehnt sich oft nach der Zeit der Astrologie zurück, man wagt nur nicht, es sich und ändern zu gestehen. Übrigens will ich dich nicht tadeln, Fritz, weil du handeltest, wie dein Herz und Wunsch dich trieb. Der eine schiebt, je älter er wird, desto mehr Riegel zwischen sich und die Welt; der andere öffnet ihr, je älter
er wird, desto weiter Tür und Tor. Jeder sieht und empfindet den Sonnenuntergang auf verschiedene Weise; denn jeder hat den Morgen, Mittag und Nachmittag auf eine andere Art hingebracht, hat andere Freuden, hat andere Leiden genossen und erduldet und trägt deshalb eine andere Stimmung in die letzte Stunde des Tages hinein. Du hast vielleicht ein kluges Werk getan, Fritz; ich will dir das beste Glück dazu wünschen. Morgen magst du mir deinen Schützling zeigen; wir wollen sehen, was daraus zu
machen ist.«
»Du willst mir also helfen, ihn zu einem echten, tüchtigen Menschen zu bilden?« fragte der Schreiber.
Der Sternseher seufzte lächelnd:
»Da haben wir es! Was helfen mir nun wieder alle meine Riegel? Ach, meine stillen Sterne!«
»Willst du mir helfen, den Knaben zu erziehen?«
»Kann ich das schöne Mädchen ihm aus Sinn und Seele jagen? Latein und Griechisch will ich ihm beibringen; aber die Leidenschaft aus ihm zu treiben, ist eure
Sache, ihr Kinder dieser Welt. Mit den Leidenschaften habe ich nichts mehr zu tun, seit ich mich den Sternen ergeben habe.«
»Bah, es würde ein hübsches Leben in der Welt werden, wenn wir die Leidenschaft hinauspeitschten, Ulex. Es ist doch besser, wir verstecken uns nicht alle in einem solchen Giebel wie du, Heinrich. Was würde aus diesem Erdball werden? Ein vergessener Käse, der im Küchenschrank zerfließt. Was für eine vita aequivoca würde daraus entstehen – brr! Vivant
homunculi – quanti sunt! Ich hoffe, der Weltgeist braucht noch lange nicht auf ein Sparendchen gesteckt zu werden.«
Es klopfte wieder an die Tür, und Heinrich Ulex fuhr empor; ein heller Schein fuhr über sein Gesicht, als er ungemein schnell öffnete. Der Schreiber rieb die Hände, nickte grinsend und murmelte:
»O Philosophie der Entsagung; armer Heinrich!«
In das Erkerzimmer des Sternsehers trat Juliane von Poppen, und die drei alten Leute bildeten eine
merkwürdige Gruppe in dem merkwürdigen Gemache.
Das Freifräulein trat ziemlich erregt ein, sie brachte aus der Gesellschaft des Bankiers Wienand eine Entdeckung mit, welche für den Polizeischreiber und dessen Schützling von der größten Wichtigkeit sein mußte. Gleich von Anfang an hatte der junge Deutsch-Amerikaner, den der Hauptmann von Faber einführte, ihr höchstes Interesse erregt, und dieses Interesse schien auf der andern Seite ebenfalls vorhanden zu sein; denn Herr Warner wandte
sich im Verlauf der Unterhaltung bei weitem am meisten an das Freifräulein, und so konnte es nicht fehlen, daß das Gespräch sich bald ziemlich zwischen ihnen abspann, und die andern zu Zuhörern wurden, welche nur dann und wann ein Wort einfließen ließen.
Wie es ebenfalls nicht anders sein konnte, kreuzte das Gespräch bald die »große Pfütze«, das Atlantische Meer, wobei jedoch mehr die Poesie der See, ihr Leuchten, ihre wilden und milden Stimmungen als der Jammer der Seekrankheit
berührt wurden. Vom Meere glitt die Unterhaltung hin und her über das unermeßliche Gebiet der großen Republik, und Frederic Warner zeigte sich wohlbewandert in den Antinomien derselben und sprach über Sklavenhalter und Abolitionisten, über Natives, Knownothings, Teatotaler, Locofocos, Republikaner und Demokraten mit dem kühlen Blick des philosophischen Beobachters, der sowohl Sam Slick wie Martin Chuzzlewit gelesen hatte. Aus dem Kongreßsaal zu Washington glitt das Gespräch leicht durch einen
Quadronenball zu New-Orleans, um sich in die feierlichen Schatten des jungfräulichen Urwaldes zu verlieren, und was man so oft in mehr oder weniger gelungenen Schilderungen, in Sealsfield oder Cooper gelesen hatte, mußte erblassen vor dem lebendigen Wort. Der Erzähler hatte selbst alles durchgemacht, war von Indianern verfolgt, von Moskitos zerstochen worden und brachte auf das große Theater zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean so viel individuelle Züge, daß das Freifräulein und
Helene Wienand lauschten wie einst die Damen von Venedig dem unsträflichen Äthiopier, dem rodomontierenden wollhaarigen Feldherrn. Wie aber war es gekommen, daß die Unterhaltung sich aus den Urwäldern der Republik in den von einer hohen Königlichen Forstverwaltung löblich kultivierten Winzelwald versetzt fand? Daran hatte das Fräulein von Poppen allein schuld. Das alte Fräulein, immer noch beschäftigt mit der Geschichte Robert Wolfs, heftete immer schärfere, forschendere Augen auf den jungen
Amerikaner. Es waren demselben einzelne Andeutungen entfallen, welche vermuten ließen, daß der Winzelwald ihm gar nicht unbekannt sei, und hoch hatte Juliane aufgehorcht. Sonst gegen Fremde nicht sehr zur Mitteilung ihrer Gefühle geneigt, wurde sie mit einemmal ganz lebendig, ließ sich zuerst in eine Charakterschilderung der Berge und Wälder ihrer Heimat ein, sprach dann eingehend über das Dorf Poppenhagen und den Poppenhof und erwähnte zuletzt, aus dem Dunkel ihrer Diwanecke scharf nach dem
Amerikaner hinüberlugend, die Forsthütte zum Eulenbruch. Immer nachdenklicher und träumerischer war Mr. Frederic Warner geworden; als aber das Freifräulein den Eulenbruch und die Familie Wolf erwähnte, schien er mit seiner Yankeeselbstbeherrschung zu Ende zu sein, und es war die höchste Zeit, daß Juliane von Poppen diesen Gesprächsstoff fallen ließ. Freundlich nickte sie dem Amerikaner zu und erhob sich, um Helene Wienand zu Bett zu schicken und selbst die Gesellschaft des Bankiers zu verlassen.
Man nahm Abschied voneinander, und auch der Amerikaner nahm Hut und Mantel und begleitete das Freifräulein die Treppe hinunter. Sie traten zusammen vor die Tür, und hier beugte sich der junge Fremde auf die Hand der alten Dame, küßte sie und sagte:
»Sie kennen meinen Namen, – Sie wissen, was meinem armen Bruder geschehen ist. Darf ich Sie bitten, mein Geheimnis noch zu bewahren?«
Das Freifräulein lächelte gutmütig:
»Ich bin nur da eine Plaudertasche, wo es
nötig ist, Herr – Herr Warner.«
In diesem Augenblick wollte ein junger Herr in einem Pelzüberrock vor der Tür des Bankiers vorbeischreiten, hielt aber an und rief mit etwas näselnder Stimme:
»Ah, ma tante, – und auch Mister Warner! Gnädige Tante, ich habe das Vergnügen, Ihnen den angenehmsten Abend zu wünschen.«
»Kennen Sie meinen Neffen, Herr Warner?« fragte das Freifräulein verwundert.
»Ich habe die Ehre«, sagte der Amerikaner, sich
verbeugend.
»Nehmen Sie sich in acht; er besitzt das Talent, sich und andere lächerlich zu machen. Bösherzig ist er nicht, aber albern. Wir sind ein Geschlecht im Niedergang, Herr Warner.«
Der Amerikaner verbeugte sich, Leon von Poppen lachte.
Das Freifräulein stieß ihren Krückstock auf den Boden und rief:
»Sie lachen, Leon; aber andere Leute lachen noch lauter. Es ist nicht angenehm, Herr Warner, unter dem Gelächter einer ganzen Nation zu Grabe zu
gehen.«
Damit ließ sie die beiden jungen Leute stehen und humpelte in die Nacht hinein. Sie bedurfte nie eines Wagens; überall boten sich ihr hilfreiche Hände, bei Tag und Nacht, auf allen ihren Wegen. Sie brachte ihre Entdeckung zu dem Giebel des Sternsehers; noch einmal ließ sie sich daselbst von dem Polizeischreiber genau die Geschichte Robert Wolfs erzählen, dann sagte sie:
»Gut gemacht, Fritz. Haltet Euch an die Jugend, so werdet Ihr selbst jung bleiben. Übrigens
beginnen die Verwicklungen für Sie bereits, Fiebiger!«
»Wieso, Fräulein Juliane?«
»Ihr Schützling hat einen Bruder, welcher vor Jahren in die weite Welt ging. Er ist zurückgekommen – dem Anschein nach ganz ein Gentleman. Heute abend habe ich ihn bei dem Bankier Wienand getroffen. Er nennt sich Warner –- ein hübscher Mann.«
Der Schreiber faltete kläglich-komisch die Hände und rief:
»Und die Polizei, ohne deren Wissen kein Haar vom Kopfe
fallen darf, weiß nichts davon! Der Bursch hat unter andern Bürgerpflichten auch seine Militärpflicht versäumt – Einsperrung und Nachsitzen in der Soldatenschule! Aber das ist in der Tat eine merkwürdige Nachricht! Es lebe die Caprice des Schicksals!«
»Was willst du nun tun, Fritz?« fragte der Astronom.
»Das Vernünftigste«, antwortete der Schreiber, »den morgenden Tag abwarten.«
Keiner von den drei Leuten auf dem Observatorium des Sternsehers ahnte, daß in
diesem Augenblick bereits diese Verwicklung sich ohne ihr Zutun löste. Keiner von ihnen hatte an den Lebensfäden, die sich hier verschlangen, mitgesponnen.
Die Freunde trennten sich bald. Der Schreiber begleitete das Fräulein von Poppen zu ihrer Wohnung, kehrte dann nach der Musikantengasse zurück und fand Robert Wolf noch immer im unruhigen Schlummer. Als er mit der Lampe vor sein Lager trat, fuhr der Knabe erschreckt auf und starrte seinen Beschützer wild an. Der Schreiber drückte
ihn sanft wieder nieder und sagte:
»Liege still, mein Junge, wir wollen schon darüber wegkommen.«
Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.