Frei Lesen: Die Leute aus dem Walde

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Kapitelübersicht

Die hohe Polizei nimmt ein Protokoll auf | Der Polizeischreiber Fiebiger setzt seinen Chef in Erstaunen; Julius ... | Julius Schminken macht sich nützlich; Robert Wolf macht die ... | Treffliche Beschreibung des Hauses in der Musikantengasse und des ... | Große Gesellschaft bei dem Bankier Wienand Mr. Warner aus New-Orleans ... | Expektoration des Autors über die Einsamkeit; Lebensläufe aus ... | Auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex; Fräulein Juliane ... | Herr Leon von Poppen wundert sich ganz ungemein | Die Sterne Eva Dornbluths; Was sie sagten, wie man ihnen folgte und ... | Die Sterne Friedrich Wolfs aus Poppenhagen; Ein Stein des Anstoßes ... | Das Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse erfährt eher ... | Julius Schminkert für immer! Schlaue Bemerkungen des Autors uber die ... | Blick über die Dächer Veränderte Aussichten und Ansichten | Von einem grünen Gartenflecke, einer weißen Marmorbildsäule, einem ... | Herr Leon von Pappen zeigt sich als guter Sohn und liebenswürdiger ... | Viel Schutt und Trümmer fallen auf Helene Wienands Gärtchen, sowie in ... | Unter dem Schutt und der Asche – unter den Trümmern! | Schreckliches Unglück des Fräuleins Aurora Pogge Der deklamierende ... | Glänzende Fäden in dunkelm Gewebe | Zeigt an dem Beispiel des Barons Leon von Poppen, wie leicht es ist, ... | Große Krisis in Nummer zwölf –; höchst tragisches Kapitel Der ... | Die Lebendigen wandeln in Unruhe; – der Tod guckt in das Buch | Es kommt Nachricht von den Wanderern Robert Wolf läßt sich naßregnen ... | Reden der Weisen und Guten Herr Leon von Pappen hält sich aber auch ... | Zwischen Himmel und Erde Stimmen aus der Nähe und aus der Ferne ... | Auf der alten Stelle Zum zweitenmal soll der Schüler die Lektion ... | Robert Wolf beweist, daß man auf den alten Fleck zurückkommen kann, ... | Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium ... | Zeigt, daß Leute, die aus dem Blick entschwinden, darum doch an der ... | Robert Wolf steht an einem Grabe und tritt an ein Sterbebett Konrad ... | Es wird ein neuer Hügel unter den drei Fichten aufgeworfen Konrad von ... | Ein Ritt vom Stillen Ozean zum Missouri Konrad von Faber hält ... | Robert beschleunigt seine Heimreise; der Autor begleitet ihn und ... | Juliane, Freifräulein von Poppen, setzt wieder einmal ihren Willen ... | Es gewinnt den Anschein, daß die Sterne auch ihren Willen durchsetzen ... | Die Sterne setzen ihren Willen durch, ihrem Willen befiehlt der ... |

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Wilhelm Raabe

Die Leute aus dem Walde

Herr Leon von Poppen wundert sich ganz ungemein

eingestellt: 5.7.2007



»Wundern Sie sich nicht so sehr über das, was Sie eben vernahmen, cher ami«, sagte vor der Tür des Bankiers Wienand Leon von Poppen zu dem Amerikaner, nachdem das Freifräulein sich entfernt hatte. »Meine Mama und meine gnädige Tante leben auf dem Kriegsfuße, wie zwei Ihrer indianischen Stämme. Skalpieren werden sie sich freilich nicht, denn sie tragen beide falsche Locken – von meiner Mama weiß ich es genau und von ma tante glaube ich es sicher. Zwischen einer wohlbeleibten Douairiere und dieser dürren alten Jungfer tänzele ich mit gestopfter Friedenspfeife hin und her, kann sie aber durchaus nicht anbringen – ungeheuer gute Schule für einen angehenden Diplomaten, eh?! Freut mich übrigens ungemein, Sie getroffen zu haben, cher. Soll ich Sie jetzt der Krone der Schöpfung, meiner schönen Herrin, meinem wilden Waldvogel vorstellen? Bitte, kommen Sie, ich will Ihnen meine jungfräuliche Teufelin zeigen, und Sie sollen mir als Unparteiischer sagen, ob ich nicht recht habe, mich für solch ein Wesen dem Gespött und Gelächter des ganzen diplomatischen Korps, der ganzen Garde – messieurs von der Linie nicht erwähnt – auszusetzen. Kommen Sie, wir werden noch grade rechtzeitig zum Dessert kommen, und Sie werden das schönste Mädchen der Stadt, Eva Dornbluth, sehen.«

»Führen Sie mich«, sagte der Amerikaner, und der Baron konnte den Ausdruck seines Gesichts für Lächeln nehmen, obgleich Friedrich Warner nicht lächelte. »Sie sollen mir ein guter Führer sein«, sagte Frederic ein wenig grimmig.

Hell waren die Fenster Eva Dornbluths erleuchtet, und schon auf der Treppe, welche in das dritte Stockwerk des Hauses in der Lilienstraße Nummer zwölf führte, vernahmen die späten Besucher Lachen und fröhliche Stimmen in lautester Unterhaltung, und der Baron von Poppen sagte mit komisch-ärgerlichem Achselzucken:

»Hören Sie, Liebster, es ist unglaublich, mit welcher rapiden Schnelligkeit und Sicherheit sich jedes beliebige Weib auf die höchsten Spitzen der Kultur erhebt. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Schönheit, welche ich Ihnen jetzt zeigen werde, vor kaum nennenswerter Zeit ein linkisches Bauernmädchen in einem kleinen Waldnest, dem abscheulichsten Aufenthaltsort unter der Sonne, war. Wir besitzen daselbst ein Gut, wenn die Last der Hypothekenschulden es nicht in diesem Augenblick bereits in den Sumpf, aus welchem es aufgeschossen ist, wieder hinabgedrückt hat. Mir gebührt wohl zumeist der Ruhm, diese holde Blüte, Eva Dornbluth, in ihr rechtes Erdreich versetzt zu haben. Diable, wenn ich nur auch die Schmetterlinge und Hummeln von ihr fernhalten könnte. Hören Sie nur, welch ein Gesumm! Wie viele Insekten mögen meine Zentifolie jetzt wieder mit gespitzten Saugrüsseln umschnurren. Bah – entrons! Ich bins cara mia; du wirst auch immer hübscher, Kleine.«

Die letzten Worte waren an eine junge rotbäckige Magd, welche den beiden Herren entgegenkam, gerichtet; sie knickste, aber die Schmeichelworte des Barons schienen nicht den geringsten Eindruck auf sie zu machen, und einer tätlichen Liebkosung entzog sie sich auf gar nicht duldsame Weise. Durch ein Vorzimmer traten der Baron und der Amerikaner in das Gemach, aus welchem der Lärm der Unterhaltung ihnen so heiter entgegenschallte. Mr. Frederic Warner hatte die Oberzähne auf die Unterlippe gesetzt; aber der sorglose junge Diplomat Leon von Poppen glaubte ihn in der gemütlichsten Stimmung von der Welt. Eine Flut von Licht schlug ihnen hinter den dunkelblauen Portieren entgegen. An einer Tafel, welche mit den Trümmern eines reichen Nachtisches bedeckt war, saß inmitten einer ziemlich erregten Gesellschaft junger Herren der höhern Stände und junger Damen vom Theater und der Oper die schöne Eva, die Herrin des Festes. Mehrere der männlichen Gäste hatten ebenfalls erst vor kurzem den Salon des Bankiers Wienand mit dem Evas vertauscht und schienen sich hier bedeutend weniger zu langweilen.

»Schöne Seelen treffen sich«, rief der eine derselben lachend dem Amerikaner entgegen, indem er den Kork einer Champagnerflasche gegen die Decke fliegen ließ. Allgemeiner Jubel begrüßte den Baron von Poppen, und dieser faßte den Amerikaner am Arm, führte ihn gegen die sich erhebende Eva, stellte ihn vor und empfahl ihn mit einigen Scherzworten ihrer Gunst und Gnade. Niemals in seinem Leben hatten sich die Geisteskräfte Mr. Frederic Warners in solcher Verwirrung befunden wie in diesem Augenblicke, wo die hohe Gestalt sich aus dem Durcheinander der aufgeregten Gesellschaft vor ihm erhob und die Augen gegen ihn aufschlug. Es war ein Glück für den Fremden, daß die allgemeine Heiterkeit schon einen solchen Grad erreicht hatte, daß alle feinere Beobachtung zu einer Unmöglichkeit geworden war.

Einen kurzen Augenblick sahen sich Eva und Friedrich an; ein Schatten zwischen Schreck, Staunen, Zweifel und Beruhigung glitt über das stolze, kluge, schöne Gesicht des Mädchens.

»Seien Sie willkommen, Herr; ... dort ist noch ein leerer Platz!« sagte sie, und der Amerikaner griff nach der Lehne des Sessels:

»Ein leerer Sessel mitten im Fest! Störe ich auch keinen Geist von ihm auf? Ists nicht der Stuhl Banquos im Saal zu Fores?«

Wieder fuhr der Schatten über die Stirn der Herrin des Festes; aber siegreich brach das stolze Lächeln hervor:

»Wir haben nicht den Schlaf ermordet und fürchten die Geister nicht. Setzen Sie sich, mein Herr!«

Man ließ sich wieder nieder an der Tafel, und Warner nahm seinen Platz Eva gegenüber ein. Seine hübschen und etwas albernen Nachbarinnen bemächtigten sich sogleich seiner und zogen ihn in ein lebendiges Geschwätz, während welchem er seiner Aufregung vollständig Herr ward und kalt und klar in das Gewirr der Dinge und Personen um ihn her blicken konnte.

Seine ganze Seele haftete aber nichtsdestoweniger einzig und allein an seinem Gegenüber. Da war wirklich die Schönheit, die hervorbricht gleich Heeresspitzen! Grade so mußte Kleopatra den Becher erhoben und über den goldenen Rand den Triumvir Marcus Antonius angeblickt haben. In die dunkelste Seele mußte sich dieses Auge senken, wie der Blitz der Sonne in das tiefe Meer. Und diese Locken, sie waren nicht zu bändigen; in schwarzen Fluten und Wellen wehrten sie sich mit unbesiegbarem phantastischen Eigenwillen gegen die Goldbänder, welche sie zusammenhalten sollten; triumphierend rollten sie nach anmutvollem Siege über die weißen Schultern. Und diese Stimme! So bekannt und doch so verändert voll und tief. Trotz seiner Selbstbeherrschung stand der Bürger der amerikanischen Republik auf dem Punkte, sich ungeheuer lächerlich zu machen. Er griff nach dem silbernen Dessertmesser wie nach einem mexikanischen Dolch. Aber wieder gelang es ihm, das Zähneknirschen in ein sorgloses, heiteres Lachen zu verwandeln und dem Witz mit Witz zu begegnen.

»Ah, clear the wrack!« stöhnte er dabei in der Tiefe seiner Seele. »Es ist alles aus, aber es wird sich finden – die Falsche, Schamlose!«

Seine beiden holden Nachbarinnen wollten allerlei über die Theaterwelt jenseits des Atlantischen Meeres wissen, und mit komischer Kraft vertiefte sich Frederic in dies inhaltvolle Thema: gleich einem Eingeweihten, gleich dem großen Barnum selber, redete er über managers, über actors und actresses und gestand zuletzt unter lautem und allgemeinem Bravoruf, er selbst habe eine Zeitlang als Sänger money gemacht und großen Beifall errungen auf mehr als einem deutschen Theater unter dem Sternenbanner.

»Originell!« lachte der Baron von Poppen, und die übrige Gesellschaft verlangte fast einstimmig den Beweis der Wahrheit.

Eine kleine Ballettänzerin pirouettierte zu dem Pianino und öffnete es; eine Sängerin bot dem sich ruhig erhebenden Amerikaner den Arm; und einen langen Blick warf Friedrich Warner auf die Wirtin. Diese hatte die letzte Zeit nicht mehr den gewohnten glänzenden Anteil an der Unterhaltung genommen; ernst und stumm saß sie da, stützte das schöne Haupt mit der Hand und blickte starr vor sich hin. In den Lichterglanz ihres Festes, in die heiße Atmosphäre ihrer Gemächer war ein reinerer Schein gefallen, hatte sich ein berauschenderer Wohlduft gemischt. Sie sah den nämlichen Glanz leuchten, welchen der arme Robert sah, als er auf dem schmutzigen Straßenpflastcr lag und Helene Wienand sich über ihn beugte. Eva Dornbluth war ihrer Umgebung entrückt; sie befand sich in ihrer Heimat, sie sah die Morgensonne durch das niedere Fenster der Hütte strahlen, sie hörte den Kuckuck der alten Schwarzwälderin am Ofen und den Kuckuck draußen am Saume des Waldes, sie atmete das frische Wehen, das aus dem Winzelwalde her- überhauchte, und dazu klang ein Lied auf dem steilen Pfade, der von den Bergen niederführte ins Dorf. Die Träumerin fuhr empor; Friedrich Warner hatte sich am Klavier niedergelassen und, nachdem er einige wilde Akkorde angeschlagen, folgendes Lied begonnen:

»Es war ein Schiff aus Portugal,
Das südwärts, immer südwärts fuhr,
Und durch der Tropenmeere Schwall
Zog leuchtend seine Feuerspur.

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