Frei Lesen: Horacker

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Wilhelm Raabe

Horacker

Achtzehntes Kapitel

eingestellt: 1.8.2007



»Die Schuhe trägst du mir auf der Stelle aus dem Hause und wirfst sie in den Dorfbach zu dem übrigen abgelegten Lederzeug der Gemeinde. Es ist zwar bald genug der alten Stiefel und Topfscherben, und ich habe mich auch manch liebes Mal drüber geärgert, wenn ich drüber wegmuß; aber diese unglückseligen Lederfetzen mag ich selbst bei unserm Kehricht nicht wissen. Du schaffst sie mir auf der Stelle aus dem Hause in den Bach; drei Tage lang bleibt mir das arme Geschöpf ja doch still im Bett.«

Also hatte Frau Billa Winckler ungefähr eine Stunde nach der Ankunft Lottchen Achterhangs zu ihrer jetzigen Magd gesprochen, und selbstverständlich war ihr Gebot ausgeführt worden. Die beiden Schuhe, das heißt die kläglichen Reste davon, – die beiden Schuhe, in denen das »arme Geschöpf« seinen weiten Weg zurückgelegt hatte, lagen längst in der Dorfgasse im Dorfbach bei den andern abgelegten Fußbekleidungen von Gansewinckel; und noch nie, selbst in keiner Zeit auf dem Wege von hinter Berlin her, hatte das Kind in dem Dachkämmerchen ein Paar Schuhe – seine Schuhe, ja auch diese beiden Schuhe in seinen Gedanken so nötig gehabt wie jetzt.

Über ein Schlachtfeld nach einem Gaul zu rufen und ein Königreich dafür zu bieten, klingt wohl tragischer, ist es jedoch unter Umständen für den in eigener Tragödie auf der Lebensbühne Auftretenden keineswegs. Ein Königreich für ein Pferd – die ganze Welt für ein paar Schuhe! –

Wir wissen, daß die frühere Magd des Pfarrhauses unter dem Eindruck der atemlosen Benachrichtigung von dem Bevorstehenden die Augen fest geschlossen hatte, daß die Frau Pastorin aber mit derselben Eile das Kämmerchen verlassen hatte, wie sie es betrat. Die zwei Freunde Winckler und Eckerbusch wandelten längst in der beschriebenen Weise und unter dem gleichfalls mitgeteilten anmutigen Gespräch zum Holze hinauf, ehe sich Lottchen Achterhang wieder auf die Erde und ihre Angelegenheiten besann:

»Sie bringen ihn!« – –

Da saß sie aufrecht, und ihre Augen waren nun von neuem weit geöffnet; aber die erstaunliche Ruhe des Nichtwartens war wahrlich nicht mehr in ihnen. Mit zitternden, tastenden Händen griff das Mädchen nach den Kleidern, die ihr aus der Garderobe der weiblichen Bewohnerschaft des Hauses zusammengesucht worden waren. Sie stand schwankend und schwindelnd auf den Füßen; jedoch ohne die geringste Müdigkeit und Schwäche in den armen, doch so übermüdeten Gliedmaßen.

»Sie bringen ihn!«...

Sie bringen ihn!... Sie murmelte das Wort immerfort, während sie sich mit bebendem Herzen und zitternder Hand ankleidete; und wer von uns hat sich nicht schon in diesem Worte ganz und gar zum Volke gezählt und sich nicht mitten unter dem Volke wie die andern auf die Zehen gestellt: »Jetzt bringen sie ihn!«

Wann hat der Ruf in Wut oder Hohn, in Liebe oder Haß, im Scherz oder Ernst je seine Wirkung auf die Masse und den einzelnen verfehlt? Wer ist nicht schon mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüte irgendwie und irgendwo dabeigewesen, wenn – sie ihn endlich brachten?! Selbst auf der Schaubühne verfehlt der Moment, im Trauerspiel wie in der Posse, auch in dem schlechtesten Stück selten seine Wirkung auf das Publikum vom Parkett bis zu der höchsten Galerie; aber jede wirkliche Haustür und Straßenecke, jeder Kirchhof, jeder Markt und jede Gerichtsstätte bieten freilich ein ganz anderes Theatrum für diesen lauten Ruf, dies Geflüster:

»Jetzt bringen sie ihn!«

Es duldet einen kaum dabei auf dem Stuhl, an der Hobelbank, dem Küchenherd oder dem Schreibtisch. Der weise Sokrates ging immer hin, wenn sie jemand brachten; Kant legte sofort die Feder nieder und trat ans Fenster; der Schreiber dieses reckt stets bei der Gelegenheit den Hals so lang als möglich über die Köpfe der vor ihm Stehenden empor; – Lottchen Achterhang in dem ganz speziellen Fall kümmerte sich nicht um ihre fehlenden Schuhe, fühlte ihre wunden Füße gar nicht auf der steilen Treppe, als sie, mit beiden Händen an den Ohren, hinabschlüpfte, um auch – dabeizusein, wenn – sie ihn brachten.

Von niemand im Hause wurden ihre leisen Fußtritte vernommen. Unentdeckt gelangte sie über die Hausflur, und so stand sie denn plötzlich (»wie ein Gespenst!« meinte nachher die Frau Pfarrerin) in der Laube vor den beiden Herren, dem Vorsteher Neddermeier und dem Zeichenlehrer Windwebel, entlockte der Frau Billa ein leises Gekreisch und weinte und brachte nur sehr unverständlich mit größester Mühe die Worte heraus:

»O bitte, bitte, lassen Sie mich dabeisein, wenn er gebracht wird! O bitte, bitte, bitte. Ich komme um, wenn ich nicht dabeisein darf.«

»O mein Leben, welch ein Aufzug! Aber Lottchen?« rief die Frau Pastorin, sobald sie sich zum notdürftigsten ob der unvermuteten, und doch nur allein durch sie selber herbeschworenen Erscheinung gefaßt hatte. »Mädchen, wie siehst du aus? Wie kannst du mir so unter die Leute gehen? Das ist ja ein Elend, daß wir keinen Spiegel da oben in der Kammer haben! Das ist ja schlimmer als ein Schuhu! Auf der Stelle packst du dich wieder ins Haus und kriechst ins Bett. Lachen Sie nicht, Neddermeier, das rate ich ihnen, und wenn Sie tausendmal meinen Kleiderschrank da auf einer Vogelscheuche wiedererkennen! Liebster Herr Windwebel, ich bitte Sie um Gottes willen!«

Der Vorsteher rieb sich mit den Handknöcheln die Nase und lachte wirklich nur, wie er in der Gegenwart und auf das Wort seiner Seelenhirtin zu lachen wagte, das heißt, er grinste ausnehmend. Es war wiederum der ungebändigt laut auflachende Kollege Windwebel, der die richtige Lösung für die trostlose Situation fand.

»Das also ist das Kind – der Schatz – die Jungfer Lotte Achterhang?« rief er, stufenweise aus der größesten Heiterkeit in den größesten Ernst übergehend. »Das ist das berühmte Lottchen? Nun, dann paßt es ganz zu meinem Freund und Fang in der Wildnis, und mir – ist es schön genug ausstaffiert! Nein, Schatz, mein Herz, mein gutes Mädchen, du bist natürlich die Hauptperson, und unter allen Umständen – dabei! Kein anderer hat hier ein größer Recht dazu, und die Frau Pastorin hat auch gar nichts dagegen, daß du dabei bist, wenn er mit dem Herrn Pastor kommt. Gebracht aber wird er nicht, Lottchen; da ich auf das Vergnügen verzichtet habe, ihn zu bringen. Geholt wird er, und zwar vom Herrn Pastor; und nun gucke du nur dreist mit uns über die Hecke. Wer weiß, Neddermeier, wann sie uns einmal in irgendeiner Weise bringen? Mir würde es unbedingt ein Trost sein, wenn Hedwig dann dabei wäre, liebe Frau Billa.«

»So will ich dir wenigstens ein Paar alte Pantoffeln holen, Mädchen«, rief die Pfarrherrin von Gansewinckel. »Das muß wohl mein Schicksal sein, Lotte! Du weißt, es ist nicht das erstemal, daß du mir barfüßig vor die Nase läufst. Auf meinem Kleiderschrank stehen ein Paar abgelegte von meinem Manne.«

»Na jetzt aber Vivat! Da kommt, mein Seel, der Triumphzug richtig her vom Gehölze!« rief der Vorsteher nach der Höhe des Feldweges deutend. »Der Herr Konrektor vorauf mit der Fahne – ja, so gehört es sich für diese Gelegenheit! Soll ich nun vielleicht auch noch die Illumination im Dorfe ansagen?« Und der abgelegten Pantoffeln des guten Christians wurde fürs erste nicht weiter gedacht.

Auf der Höhe des Feldes tauchte der Kollege Eckerbusch zuerst auf; und was der Vorsteher eine Triumphfahne nannte, das war nur der Hut, den der Kollege hoch in der Luft auf dem Knopfe seines Stockes als ein Signal des letzten, vollständigen Gelingens der Expedition trug.

Hinter dem Konrektor schritt der Pastor, den Sünder Horacker am Arm führend, und den Beschluß des Zuges machte die Witwe Horacker. Scharf zeichneten sich die vier Gestalten auf dem graublauen, nach jener Weltgegend hin ruhig klaren Abendhimmel ab.

Auch der Kollege Windwebel schwang wieder einmal seinen Hut in die Luft:

»Hurra!«

»Nun sage mir einer, was ich sagen soll!« sprach die Frau Pastorin, gänzlich willenlos sich an die fernern Ereignisse hingebend.

»Ich nenne es doch und dessenungeachtet einen greulichen Umstand«, brummte Neddermeier; und Lottchen Achterhang – ging wiederum durch, und zwar mit einer Hast, als ob der lange böse Weg von »hinter Berlin her« nicht bereits hinter ihr liege.

»Lassen Sie sie – bitte!« rief Windwebel, die Hand fassend, mit der Frau Billa Winckler nach dem flatternden Rock des Mädchens greifen wollte.

Auf dem Feldwege hatte auch der Pastor seinen Gemeindetaugenichts freigelassen und war mit dem Konrektor stehengeblieben, während Cord lief. Die Witwe Horacker setzte sich auf einen Ackergrenzstein und nahm den Kopf zwischen die Hände; – solch eine alte, durchs ganze Leben einem eingedrückte und angequälte Gewöhnung wird man eben so leicht nicht wieder los, und die durchgreifendsten Menschenerzieher und Moralisten erziehen und moralisieren da oft ganz und gar vergeblich an sich selber.

Und es ist doch ein zart und schön Wesen um die Flamme und das Licht in dieser Welt von Lehm und Ton! Fünf Minuten ließen sie allesamt dem Vagabundenpaar Zeit, um sich zu grüßen; und es sind wenige Kunstwerke auf der Erde vorhanden, die sich mit dem Lächeln, mit welchem der alte Winckler und der alte Eckerbusch dem Dinge zusahen, vergleichen lassen; wir aber beschreiben es nur, wie uns die Feder in die Hand hineingewachsen ist:

»O – du!« schluchzte Lottchen Achterhang.

»Ja, siehst du wohl – o du?!« heulte Horacker, der Räuberhauptmann; und dann schienen sie vollständig fertig zu sein; uns aber überkommt das bedenkliche Gefühl, als hätten wir im Laufe der Zeiten viel Worte unnütz an manch einem Orte verloren.

Ja, seht ihr?!... Unser einziger Trost ist jetzt, daß alle Vorsicht und Fürsorge nichts geholfen hat, daß das ganze Dorf plötzlich doch weiß, daß Horacker wieder da ist, und daß wir mit unsern Privatgefühlen uns unbeachtet unter den Gefühlen der Menge verlieren können. Wer aber war es, der Gansewinckel nun doch aus der Feierabendruhe durch den Ruf auf die Beine brachte:

»Sie haben ihn! Sie bringen ihn! Sie haben Horacker, Horacker ist wieder da!«

Niemand hätte natürlich bei etwaiger spätern Nachfrage eine Auskunft zu geben gewußt. Ein Schlag in den Sumpf bringt mit einem Male sämtliche Frösche zum Schweigen; ein Steinwurf nach dem Düngerhaufen alle Spatzen zum lautkreischenden Aufflattern.

Es kam sozusagen alles in Gansewinckel wieder auf die Füße, und zwar mit den Menschen das Vieh! Aus den Häusern stürzte alt und jung; sämtliche Hunde der Gemeinde waren wie außer sich, in den Ställen brüllte das Rindvieh; die müdesten Ackergäule erhoben die Köpfe. Gänse und Enten zischten und schnatterten, und ein jeglicher Bauerhahn führte seine bereits zu Bett gegangenen Damen wieder die Hühnerstiege hinunter, um gleichfalls an der allgemeinen Aufregung teilzunehmen und zu erkunden, was denn eigentlich vorgefallen sei.

»Juchhe, er ist da! Und daß das Lottchen Achterhang, die Musterprinzessin, noch obendrein und ganz von freien Stücken hergelaufen gekommen ist, das ist das allerschönste!... Im Pfarrhause sitzen sie beide; – die Frau Pastorin hat gesagt, es sei eine wahre Rührung, und den Herrn Pastor kennen wir; aber der Vetter Neddermeier ist gottlob auch noch vorhanden, um sich der Sache anzunehmen. Morgen werden sie wohl ganz woanders sitzen, und der Mensch hat endlich mal wieder Ruhe vor ihnen.«

»Im Pfarrhause sitzt er, mein hochverehrter Herr«, sprach der Kantor Böxendal, mit aller küsterlichen Gravität und Höflichkeit an den Wagenschlag des ins Dorf einfahrenden Staatsanwalts tretend. »Ich kenne ihn von Jugend auf; er hat meinen Unterricht genossen, und daß er den Herrn Konrektor Eckerbusch und Herrn Zeichenlehrer Windwebel totgeschlagen habe, war nur ein Gerücht. Ich bin fünfzig Jahre allhier Lehrer, geehrter Herr, und kenne sie alle – o ja, kenne sie alle – alle!«

»Nach der Pfarre!« rief Freund Wedekind seinem Kutscher zu, und sich zu seinem jungen juristischen Begleiter wendend, sprach er:

»Sie kennen den alten Winckler in Gansewinckel noch nicht? Nun, dann werden Sie ihn mit Vergnügen kennenlernen und künftig nie einer amtlichen oder außeramtlichen Spritze zu ihm aus dem Wege zu gehen suchen. Ich bin gleichfalls seit langen Jahren Beamter hier in der Gegend und kenne sie alle – o ja, ich kenne sie alle – alle. Weder Horacker noch Krischan Winckler sind die Schlimmsten unter ihnen!... Und Freund Eckerbusch! Und der Hasenfuß, der Zeichenlehrer – wie heißt er doch – Freund Windwebel!... Das wird ein ganz außergewöhnlich gemütlicher Abend, verlassen Sie sich auf mein Wort, lieber Freund. Mir in meiner Stellung geht nichts in der Welt über solch eine Exkursion in den braven Voß, den alten Gellert, den Vater Gleim und den Wandsbecker Boten hinein. Sie freilich, Kollege Nagelmann, sind noch jung, schwärmen für Heine und haben in der Tat erst noch einige Jahre älter zu werden, um für eine Amtstour wie diese ganz reif zu sein.«

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