Wilhelm Raabe
Horacker
Viertes Kapitel
eingestellt: 1.8.2007
Wie ein Nest des Friedens lag Gansewinckel mit seinen Gärten, Wiesen und Feldern in den Wald hineingedrückt, und dann war natürlich die Kirche gekommen und hatte die Pfarrei als ein Nestei in die Idylle hineingelegt: wir aber bitten uns vom nächsten Osterhasen eine Belohnung für das liebliche Bild aus. Ach, wenn nur der braven alten Henne Ekklesia nicht so sehr oft Enteneier zum Brüten untergeschoben würden! Aus was für Eiern die Gansewinckler gekrochen sein mochten,
augenblicklich waren sie sämtlich ihrem Pastor davongewatschelt und schwammen, plätscherten und tauchten lustig und höhnisch auf dem Sumpfe menschlicher Verderbnis, und der Pastor Winckler stand am Ufer oder lief dort auf und ab und ärgerte sich und ängstete sich sogar ein wenig – mit gesträubtem Gefieder, das letztere heißt, er hatte bereits seinen schriftlichen Bericht an das Konsistorium in der Feder.
Daß sie, die Gansewinckler Bauern, ein wenig sehr der Wilddieberei ergeben
waren; daß sie dann und wann auch wohl sich selber (das heißt den Nachbar im Dorfe) bestahlen; daß ihre Händelsucht mehr als einen Advokaten redlich ernährte, das alles war ihre eigene Sache, und der alte Winckler wußte sie da wohl zu nehmen. Er hatte den Körper und den Geist dazu, hielt mitten im neunzehnten Jahrhundert den wackern Christian Fürchtegott Gellert für einen Klassiker und hielt das abgegriffene Exemplar der Fabeln desselben in höchsten Ehren, sowohl auf seinem Schreibtische wie im
Kopfe und nach beiden Richtungen hin im täglichen Gebrauch. Er verstands, seinen Fürchtegott bei vorkommenden Gelegenheiten recht passend zu zitieren; – er hat auch heute dem Vorsteher und den Ältesten der Gemeinde gegenüber damit zu wirken versucht, und – diesmal ist er abgeblitzt und sitzt, als wir ihm zu allen übrigen Verdrießlichkeiten auch noch über den Hals kommen, mit erloschener Pfeife, zusammengezogenen Brauen und innerlichem Geknurr an seinem Schreibtische. Die rechte Hand
liegt geballt auf der Konkordanz, die linke schlaff und offen im Schoße. Hohngrienig sind seine Lämmer abgezogen; – sie, seine Bauern von Gansewinckel, glauben ihn diesmal zu haben und zu halten. Jedenfalls haben sie ihn, Christian Winckler, in die äußerste Verblüfftheit versetzt und seine Frau Billa mit. In der Nußbaumlaube an der Gartenhecke, von der aus man den Weg nach dem nächstgelegenen Rande des Waldes übersieht, ist der Nachmittagskaffee schon vor einer Stunde kalt geworden, und es
ist nur der Wärme des Julitages zu verdanken, wenn er nicht noch kälter wird.
»Pfähle mich, Frau Pastorin; wir habens eben mit dem Herrn Pastor abgesprochen«, hatte der Vorsteher Neddermeier, den Bauerngänsemarsch an der Küchentür der Pfarre vorbeiführend, der geistlichen Frau zugegrinset, und der Dickste der Deputation und im Dorfe, der Vollköter Heinrich Degering, hatte sogar gelacht, ohne den Hut vor die »Flegelvisage« zu halten, und nun – saß die Frau Billa Winckler ihrem
gebrochenen Eheherrn im Studierstübchen desselben gegenüber und hatte beide Hände schlaff im Schoße liegen:
»O Krischan!«
Und der Herr Pastor, mit der Linken nach dem Taschentuch suchend, um sich den Schweiß abzutrocknen, läßt die Faust abermals auf die Bibelkonkordanz fallen:
»So wollte ich denn doch, daß – – –«
Wir kennen das hochwürdige Konsistorium, und so versagen wir es uns und den Lesern zum Besten des Gansewinckler geistlichen
Hirten, für die Gedankenstriche die betreffenden Worte hinzusetzen. Das aber, was Krischan Winckler in diesem Augenblicke aus vollem Herzen und mit Hingabe aller seiner Gefühle gern wollte und wünschte, sprachen die von ihm keineswegs verschluckten Worte in vollstem Maße aus; darauf kann man sich verlassen.
»Da triumphieren sie hin, daß sie dich endlich einmal am Wickel haben, Alter«, ächzte die Frau Billa. »O könnte ich doch jetzt im Kruge zwischen sie fahren! Da sitzen sie nun und
stecken ihre Dickköpfe über dich zusammen, und oh! wie sie sich auf den Sonntag und deine Predigt freuen werden! Und oh! wie ich mich darauf freue, wenn ich auch noch nicht weiß, ob ich ihn überleben werde! Selbst meine Haube mag ich nicht mehr über den Zaun zeigen, bis diese Geschichte entschieden ist! Willst du heute noch nach der Stadt, Winckler, und mit einem sachverständigen Menschen sprechen?«
»Erst muß ich selber meine Gedanken wieder zusammensuchen«, stöhnte der Pastor, »wie
kann ich mit einem andern darüber sprechen, ehe ich selber wieder weiß, ob ich auf dem Kopfe oder auf den Füßen stehe?... Das habe ich nun von meiner Herzensgüte!«
»Und was habe ich davor?« fragte die Gattin. »Da guck nur deinen Fußboden an! Nicht einer von dem halben Dutzend Lümmeln ist abgezogen, ohne mir drauf gespuckt zu haben. Ist denn der Kantor noch nicht in Sicht? Auf dessen Mienen nach diesen Enthüllungen bin ich doch auch gespannt. O Krischan, Krischan, du gratulierst, und
Böxendal singt, und das Konsistorium kenne ich, das läßt ihn singen und dich gratulieren; aber ich sage dir, bis an den Landesherrn gehst du wegen der Sache, ehe es so weit mit mir und dir kommt, und das ist meine Meinung, – und da – kommt der Kantor durch den Garten! Hab ich es nicht gesagt? Jesus, wie läuft der Mann, und was macht er fürn Gesicht! Einer von ihren Jungen möchte ich bei ihm jetzt auch nicht sein.«
»Aber ich!« brummte der »treffliche Pfarrherr von
Grünau«. »Es ist immer noch angenehmer als Pastor zu Gansewinckel.«
In diesem Moment riß der Kantor von Gansewinckel die Stubentür auf:
»Herr Pastor – entschuldigen Sie, Frau Pastorin; – Herr Pastor, ich bitte Sie – ist es denn möglich?«
»Ich halte es bis jetzt auch noch für unmöglich, lieber Böxendal; aber die alten Pergamente besagen es leider Gottes: Sie pfeifen für Ihre Vierzeitengelder, und ich tanze für die meinigen. Für die vier Pfennige
alle Vierteljahre haben wir beide uns an jedem Neujahrstage persönlich bei jeglichem Hausvater in der Gemeinde einzustellen« –
»Und ich habe jedem Bauer einen Gesangbuchsvers vorzusingen?! O du Allmächtiger!«
»Und ich bin verpflichtet, einem jeglichen von ihnen in wohlgesetzter Rede alles Gute und Liebe zu wünschen. Böxendal, sie haben es schriftlich, und wir hätten etwas Klügeres tun sollen, als unsern Ablösungsantrag in betreff dieser verruchten Vierzeitengelder zu
stellen.«
»Aber seit mehr als einem Säkulum muß das ja in Vergessenheit geraten sein. Herr Pastor, keiner meiner Vorfahren im Amte seit dem Siebenjährigen Kriege –«
»Deshalb nennt man das auch ein altes Herkommen!« fiel der Pastor seinem Kantor ächzend ins Wort. »Und wir selber haben es wieder aufgerührt; und ich kenne da meine Gansewinckler – o Böxendal, Böxendal, fragen Sie nur meine Frau nach meinen Betrachtungen des Falles –«
»Frau Pastorin,
Sie sollten meine Frau über die Geschichte sehen und hören!« wendete sich der Kantor von Gansewinckel an die zerknickte Matrone.
»Ich komme einfach um«, stöhnte die gute alte Dame. »Böxendal, wenn das Konsistorium kein Einsehen tut, überlebe ich den ersten Januar achtzehnhundertachtundsechzig nicht. Das geht mir freilich noch weit über Horacker!«
»Hören Sie, lieber Freund«, sprach aber jetzo der Pastor zu seinem Kantor, »verdrießlich ist die Historie; aber einmal wenigstens
möchte ich Sie doch für mein Leben gern vor dem Vorsteher und vor dem Vollköter Degering singen hören.«
Er schob dabei lächelnd sein schwarzes Samtkäppchen auf dem würdigen Schädel hin und her.
»Ja, so bist du, Winckler«, sagte die Frau mit ernsthafter Entrüstung. »Ja, geh nur hin und gratuliere – ich für mein Teil hoffe, daß Horacker ihnen allen vorher noch den roten Hahn auf den Gehöften aufsteckt. Ich wünsche keinem Menschen was Böses; aber hier hört doch eben die
Menschheit auf, und mir soll noch einmal einer aus dem Dorfe um meine Krampftropfen und von wegen meines Rezeptes gegen den Durchfall auf die Pfarre kommen!«
»Lieber Böxendal, auch unsere beiderseitigen bessern Hälften werden sich allgemach wieder beruhigen«, meinte der Pastor zu seinem Kantor gewendet. »Überlegen wir verständig und mit Bedacht, was zu tun sei, um dieser übeln Angelegenheit eine Wendung zum allseitigen Besten zu geben, und lassen wir vor allen Dingen Horacker und alle
sonstigen unchristlichen Ideen aus dem Spiel!«
Was uns, den Autor, anbetrifft, so ist es gerade in diesem Moment unsere Pflicht und christliche Schuldigkeit, Horacker hineinzubringen – in das Spiel.
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