Und da sitze ich wieder an meinem feststehenden, soliden Arbeitstisch, den ersten Packen korrigierter blauer Schulhefte auf dem Stuhl neben mir. Nun könnte ich mich selber literarisch zusammennehmen, auf meinen eigenen Stil achten, meine Frau und alle übrigen mit ihren Bemerkungen aus dem Spiel lassen und wenigstens zum Schluß mich recht brav exerzitienhaft mit der Feder aufführen. Wenn ich wollte, könnte ich jetzt auch noch das ganze Ding über den Haufen werfen und
den Versuch wagen, aus diesen losen Pfisters-Mühlen-Blättern für das nächste Jahrhundert ein wirkliches druck- und kritikgerechtes Schreibekunststück meinen Enkeln im Hausarchive zu hinterlassen.
Und es fällt mir nicht ein - es fällt mir im Traume nicht ein! Ich werde auch jetzt nur Bilder, die einst Leben, Licht, Form und Farbe hatten, mir im Nachträumen solange als möglich festhalten!
So schreibe ich weiter, während ich Emmy nebenan fröhlich lachen und meine alte Wärterin
und Pflegemutter »einen wahren Trost im Dasein« betitulieren höre.
Das alte, tapfere Mädchen, die Christine! Sie hat gottlob ihre Beschäftigungen gefunden, die auch in Berlin nicht leicht zu Atem und vielem Nachdenken über das Vergangene kommen lassen! Wir haben alle unsere Beschäftigung: Emmy in ihrem Haushalt und, merkwürdigerweise, in merkwürdig viel Nachdenken über die nächste Zukunft, ich in ebendem und meiner Quinta und Doktor A. A. Asche auf Lippoldesheim oder, wie er sonst
sein großes »Etablissement« zu benamsen beliebt: Rhakopyrgos, arx panniculorum - Lumpenburg. Frau Albertine Asche, geborene Lippoldes, hat auch ihre Beschäftigung vom Morgen bis zum Abend in Lippoldesheim. -
»Lippoldesheim!« brummt der berühmte chemische Universalfleckenreiniger, Schön- und Neufärber. »Klingt es dir nicht auch etwas affektiert, Pfister, wenn man das deutsche Drama im allgemeinen und den wackern, armen, guten Teufel, meinen seligen Schwiegervater, im besondern
dranhält. Ja, aber wie kommen Namen in die Welt!«
»Jawohl, wie kommen Namen in die Welt? Das ist eben eine solche Frage wie die: Wo bleiben alle die Bilder, Freund Adam!«
Da ist er selber, Doktor Adam Asche aus Lippoldesheim und von Rhakopyrgos. Er hat Geschäfte in der Stadt gehabt, sogar Börsengeschäfte, und ladet sich bei uns ein auf kleinbürgerlich Tagesglück und setzt Emmy und Christine glücklicherweise durchaus nicht dadurch in Verwirrung. Uns ladet er ein, am
Nachmittag mit ihm hinauszufahren und den Abend und den morgenden Sonntag in der »schönen Natur« zu verbringen. Er hat die Stirn, die Umgebung seiner großindustriellen Fabrik eine »schöne Natur« zu nennen, und wir freuen uns wirklich sehr auf dieselbe und sind bereit zu der Fahrt, auch Jungfer Christine, auf die Samse sich unmenschlich freut.
Übrigens fängt mein Exmentor merkwürdig rasch an, beleibt zu werden, und das steht ihm gar nicht übel. Seine Nachmittagsruhe hält er seit lange
nicht mehr unter jedem beliebigen Busch im Felde. Diesmal liegt er auf meinem Sofa nach Tisch; aber er hält die Arme noch nach alter Weise dabei unterm Hinterkopf und behält die Zigarre auch im tiefsten, süßesten Schlummer zwischen den Zähnen - einem bemerkenswert intakten Gebiß.
Die Stunden des Sonnabendnachmittags gehören mir mehr als alle übrigen der Woche; nun schreibe ich in ihnen, während das Leben weiter wühlt, von Vater Pfisters letzten Tagen. -
Krickerode
war rechtskräftig verurteilt worden. Das Erkenntnis untersagt der großen Provinzfabrik bei hundert Mark Strafe für jeden Kalendertag, das Mühlwasser von Pfisters Mühle durch ihre Abwässer zu verunreinigen und dadurch einen das Maß des Erträglichen übersteigenden übeln Geruch in der Turbinenstube und den sonstigen Hausräumen zu erzeugen, sowie das Mühlenwerk mit einer den Betrieb hindernden, schleimigen, schlingpflanzenartigen Masse in gewissen Monaten des Jahres zu überziehen.
Das ist
sehr gut für andere Flußanwohner, ob sie eine Mühle haben oder nicht; aber Vater Pfister macht wenig Gebrauch mehr von dem durch Doktor Riechei für ihn erfochtenen Sieg. Das hätte früher kommen müssen - an jenem Tage schon, an welchem er sich zum erstenmal fragte, wo eigentlich sein klarer Bach - der lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquell seiner Väter seit Jahrhunderten - geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und die Gäste verjage. Zu lange hat zuerst der alte Mann das widerwärtige
Rätsel selber sich lösen wollen. Zu sehr hat er sich ärgern müssen innerhalb und außerhalb seines sonst so lustigen Besitzes auf dieser Erde. Der Ärger über seine Nachbarschaft, seine Knappschaft und seine Gäste hat ihm das Herz abgefressen, und so mußte es ihm sogar zu einem Troste werden, daß »sein Junge doch nicht die alte Ehre, den alten Ruhm von seiner Vorfahren wackerm Erbteil aufrecht und im Getriebe halten könne, sondern, Gott sei Dank, einen Abweg ins Gelehrte durch die Welt
eingeschlagen habe«.
Und noch ein schönerer Trost ist ihm gegeben worden, daß die Sonne im Scheiden, wenn nicht so vergnüglich wie sonst, doch ebenso schön, ja noch schöner als sonst über Pfisters Mühle leuchte: des armen, untergegangenen Poeten Kind, Albertine Lippoldes!
Es war im Herbst des Jahres, das der schlimmen Weihnacht folgte, nach welcher das heimatlose Mädchen als letzter, liebster Gast unter meines Vaters freundliches Dach eingeladen und in Zartheit und
Sicherheit gebettet wurde. Ich hatte eben die Bekanntschaft meines jetzigen Schwiegervaters gemacht, und zwar infolge eines andern Miteinanderbekanntwerdens, über das sich Emmy heute noch nicht wenig verwundert stellt, wenn die Rede auf jene Zeiten kommt.
»Und wir dachten doch damals noch gar nicht aneinander«, pflegt mein Liebchen zu sagen; aber - dem sei nun, wie ihm wolle - ich ging eben schon in jenem Herbst zuerst mit Rechnungsrat Schulze auf seinem sonderbaren Spazierplatze
lustwandeln, dachte aber freilich dabei an ihn selber nur so viel, als unumgänglich nötig war, was der Unterhaltung jedoch nicht Abbruch tat, sondern mich sogar bewog, so gesprächig als möglich zu sein und stets der Meinung des grauen, skurrilen Humoristen bei jedem Thema, welches er neben seinem Taxus und seinen Trauerweiden knarrend aufs Tapet brachte.
Es war zu Anfang Oktobers, und warme, sonnige Tage waren, wie die Götter sie nicht immer um diese Jahreszeit über Norddeutschland
hinzubreiten belieben. Die Bäume schienen in diesem Jahre länger als sonst ihre Blätter, die Blumen, sowohl in den Gärten wie auf Vater Schulzes Friedhofe, länger ihre Blüten festzuhalten. Die Zeitungen brachten unter ihrem Vermischten in dieser Hinsicht merkwürdige Einzelheiten, und Fräulein Emmy Schulze sagte zu mir:
»Nein, Herr Doktor, Papa hat ganz recht, es ist eigentlich zu angenehm so! Und, Papa, rede nur nicht, das weiß ja jeder schon selber, daß es so hübsch nicht bleiben
wird.«
Auf Vater Schulzes Kirchhofe hatte mich der Briefträger aus einem der Treppenfenster der umliegenden Häuser erspäht und kam, um mir den letzten Brief meines Vaters aus Pfisters Mühle über das Gitter zu reichen. Einen Brief in sehr veränderter Handschrift, doch im vollkommen unveränderten Stil des alten Herrn:
»Mein Junge, tust mir nen Gefallen, wenn Du für acht Tage Urlaub nimmst. In Familienangelegenheiten, kannst Du vorschieben. Und bring Doktern Asche möglichst
mit. Hätte mit ihm auch einiges zu besprechen. Neuigkeiten nicht zu vermelden als eine Kuriosität, die ich aber auch schon öfters erlebt habe. Eine der Kastanien am Wasser, dritter Tisch in der Reihe rechts, blüht zum andernmal.
Wir grüßen Dich alle. Fräulein Albertine auch. Und sind recht gesund. Aber komm doch lieber auf ein paar Tage.
Dein Vater.«
Doktor Adam Asche hatte wie immer »alle Hände voll« in seinem merkwürdigen, aber gewinnbringenden
Geschäft; als ich ihm jedoch diesen Brief aus der Heimat zu lesen gab, wunderte mich die Hast, mit der er ihn nahm, die Langsamkeit, mit der er ihn zurückreichte, und der Eifer, mit welchem er seine Bereitwilligkeit, mich zu begleiten, kundgab.
Er fragte durchaus nicht: Was kann der Alte mir zu sagen haben? Er nahm mich an der Schulter, schob mich aus seinem modernen Alchemistengewölbe und rief:
»Packen! Sofort packen! Du tust sofort die nötigen Schritte bei Abt und Prior;
ich mit meinem Reisesack bin unter allen Umständen morgen abend auf dem Bahnhof und fahre ab. Wir benutzen den Nachtzug und sind bei guter Zeit in der Mühle. Jetzt halte mich und dich nicht länger auf, Mann! Packe dich und packe so rasch als möglich!« -
Wir kamen diesmal bei hellem, klarem Himmel zu Hause an. Der leichte Dunst auf der sonnigen Ferne deutete tausendmal eher auf einen neuen Frühling als auf den nahen Winter hin. Aber man hatte uns Samse mit dem Mühlenfuhrwerk nach dem
Bahnhof geschickt, und obgleich der getreue Knecht niemals ein allzu fröhlich Gesicht machte, erschrak ich doch heftig, als ich ihm jetzt in es hineinsah.
»Wie steht es daheim, alter Freund?«
»Schlimm«, antwortete Samse kurzab. »Hat er denn gar nichts davon geschrieben?«
»Daß er mich und den Doktor Adam sprechen will, daß ihr alle gesund seid und daß die Kastanien in unserm Garten zum zweiten Male blühen.«
»Du lieber Himmel!« seufzte Samse. »Da bleibt
uns denn wohl nichts anders übrig, als daß wir machen, daß wir möglichst bald nach Hause kommen, um ihn leider Gottes in der Hauptsache Lügen zu strafen. Vor der Apotheke muß ich doch noch mal anhalten.«
Wir warfen in aller Hast unser weniges Gepäck in den wohlbekannten Korbwagen und fuhren im Trabe rasselnd durch die wohlbekannten, auch schon in der Morgensonne lebendigen Gassen der Stadt. Vor der Apotheke ließ mir Samse die Zügel, kam mit einer giftig aussehenden Arzneiflasche aus
dem Hause wieder zum Vorschein und brummte seufzend:
»Wenn das was helfen könnte! Ja, wenn sie es ihm vor Jahren in seinen Bach bei Krickerode hätten schütten und sein Leben und Gemüte dadurch reinlich hätten halten können! Der Doktor weiß es auch selber gut genug, daß es nur eine Komödie damit ist, und der Meister selber weiß es erst recht. Ihr Herren, fragt mich nur nicht weiter; ihr werdet ja bald selber sehen, wie es mit uns steht, trotzdem daß die Bäume in unserm Garten
zum zweiten Male blühen.«
Wir kamen an in Pfisters Mühle, und wir sahen selber. Das heißt, wir fanden den lieben alten Vater zum Sterben krank in seinem Lehnstuhl, in heftigen Atembeschwerden nach Luft ringend, und doch bei unserer Ankunft aus der Welt des Lärms, der pädagogischen Experimente, des Lumpenreinigens und des Gelderwerbens gottlob wieder mit dem alten, guten Lächeln um die trostlos blauen Lippen. Wir fanden ihn reinlichst in seinem hellen Müllerhabit in seiner Urväter
altem gepolstertem Eichenstuhl und zu seinen Füßen auf meiner Mutter Schemelchen Albertine Lippoldes mit einem Buche auf den Knieen.
Sie hatte ihm daraus vorgelesen - aus einem von ihres Vaters Geschichtsdramen nämlich, denn - »er tat in seiner letzten Zeit nichts Lieberes als das anzuhören«, meinte Christine später. »Unsereinem hielt es den Atem an, wenn man auch nur das wenigste davon verstand; aber er atmete besser dabei, und es war ihm eine Beruhigung, daß es selten einem Kaiser
und König und grausamen griechischen und römischen Soldaten und allen vornehmsten Damen gegen Ende ihrer Komödien besser ergehe als dem Müller von Pfisters Mühle.« -
Als bei unserm Eintritt das Fräulein erschreckt und errötend sich erheben wollte, legte ihr Vater Pfister die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft wieder nieder. Die andre Hand streckte er uns entgegen:
»Guck mal, so schnell seid ihr da? Das ist schön! Und du auch, Doktor Adam - trotzdem daß man keine
Zeitung umwenden kann, ohne dich hinten drin zu finden unter Pauken und Posaunen mit deinem Mordgeschäft von Allerweltswäsche. Das ist brav! Und du, Junge, Ebertchen, nun zieh mir nur keine Gesichter; bin ganz zufrieden mit mir und ebenso mit unserm klugen Herrgott, wenn der mal wieder das Beste wissen sollte und den alten Pfister, Jacke wie Hose, in seine wirkliche, gründliche große Wäsche nähme. Ein gar lustiges Trockenwetter schickt er ja dazu schon im vorauf - die beste Luft, die er hat, für
nen Patienten wie ich. Offene Fenster den ganzen Tag und zu Mittag im Rollstuhl unterm blühenden Baum im Oktober! Was will da unsereiner mehr?... Nun legt ab und machts euch behaglich und spielt nicht die Narren, wenns euch auch einleuchtete, daß ihr zum letzten Kommers in Pfisters Mühle verschrieben seid, Kommilitonen! Helft mir Kontenance behalten und tragts euerm alten Schoppenwirt nicht nach, wenn er die letzten Jahre durch zu muffig den Philister herausgekehrt hat. Willkommen denn zum
letztenmal im Bund - und sieh, Ebert, das liebe Fräulein und mein liebes Kind hier hat mich noch in die Schule genommen; und dich, Adam, habe ich diesmal nicht berufen, mir meinen Mühlbach auf Krickerode zu untersuchen, sondern dich mit allen deinen Wissenschaften und Chemikalien und richtigen Begriffen von unserm Verkehr auf der Erde auch noch mal in die Schule zu geben.«
»O, wie gern kniee ich mit umgehängtem Esel auf Erbsen, Vater Pfister!« rief Adam Asche mit sehr unsicherer
Stimme, und das liebe Fräulein fuhr nun doch auf und trat hinter den Stuhl des kranken Greises, wie um ihn als eine Schutzwehr oder als ein Katheder zu benutzen: ein Lachen, das ganz Pfisters Mühle in ihren besten Tagen war, verklärte das fieberheiße Gesicht des guten, schlauen letzten Wirtes von Pfisters Vergnügungsgarten. -
Zu Mittage am andern Tage, als dann wiederum diese Herbstsonne wie im vollen Sommer den leeren Garten anlachte, saßen wir am dritten Tisch in der Reihe rechts
unter dem noch einmal so kurz vor dem ersten Schneefall blütentragenden Kastanienbaum, alle, die wir nach gestelltem Rade und abgenommenem Schenkenzeichen noch dazu gehörten: unser lieber Meister und Vater Bertram Pfister, Fräulein Albertine Lippoldes, Doktor A. A. Asche, Jungfer Christine Voigt, Samse und ich, Doktor Eberhard Pfister; und der Vater Pfister hielt in Atemnot und bei von den Füßen aufwärts steigender Wassersucht seine letzte Tischrede in seinem Garten. Sie floß ihm leider damals
nicht so leicht hin, wie mir jetzt hier aus meiner Feder.
»Kinder«, sagte er, »s ist meine Devise gewesen: Vergnügte Gesichter! Und wenn ich meine letzte Zeit durch selber keins gemacht, sondern konträr mich als ein richtiger Narr und Brummkopf aufgeführt habe, so denkt nicht daran, sondern denkt an den alten, richtigen, fidelen Vater Pfister von Pfisters richtiger Mühle, wenn ich euch später mal bei einem Liede oder bei Tische oder in einer andern Wirtschaft, oder wenn ihr mal still bei euern lieben Frauen
und Kindern sitzet, durch den Sinn gehe. Es ist manch ein Lied hier gesungen und manch eine Rede gehalten, lustig und ernsthaft; manch eine Bowle habe ich hier auf den Tisch gestellt, und manch einer ist auch mal drunter gefallen und gelegen gewesen, und die andern haben weitergesungen und Sonne und Mond ihren Weg unbesehen gehen lassen. Nun, Ebert, mein armer Junge, und ihr andern, liebste Freunde, macht euch gar nichts draus, wenn auch ich jetzo das letzte Beispiel nachahme und unter meinen
eigenen Gasttisch rutsche!... Rede mir keiner drein; wie es gekommen ist, weiß ich in meiner jetzigen Verfassung selber nicht ganz genau anzugeben; aber n bißchen zuviel habe ich, und es ist ein Glück, daß ich nicht weit nach Hause habe. Der Nachwächter, der mich unterm Arm fassen soll, steht, vom Herrgott abgeschickt, mir hinterm Stuhl und hat schon mehrmals gesagt: ›Na, wenns nun beliebt, Herr Pfister!‹ - Laß das Tuch von den Augen, Herzmädchen, dich meine ich eben nicht mit dem
›Wächter‹ mein liebes Leben! Denkt an meine Devise, ihr andern! Ja, es beliebt mir durch alle Knochen und durch die ganze Seele. Und weil ichs weiß, daß es mit mir zu Ende geht, so wird es euch ein Trost sein, zu wissen, daß es mir eine Beruhigung ist, daß kein Fremder da unter dem Dach und hier unter den Bäumen sich auf meinen Ruf und Namen setzt, sondern daß mit dem alten Pfister es auch mit der Pfister uralter Mühle aus ist. - Nun höret mein Testament. Ihr werdets zwar auch
aufgeschrieben im Pult finden, und ich hätte auch wohl den Doktor Riechei dazu berufen können, um es euch vor meinem Bett vorzulesen; aber pläsierlicher ist mir pläsierlicher, und der Baum hier über uns soll nicht vergebens zum zweitenmal seine Maienkerzen aufgesteckt haben. Es soll sein, als ob durch ihn mein Garten mir das letzte vergnügte Gesicht zu meinem letzten Willen mache! Denn sintemalen ich stets ein Mann der Ordnung gewesen bin, trotzdem daß die Welt und die Herren Studiosen mich nur
als den rechten Wirt zu Pfisters Mühle ästimieret haben, so wird ja auch wohl jetzt alles nach seiner Ordnung zugehen.
›Wer selig will sterben,
Soll lassen vererben
Sein Allodegut
Ans nächstgesippt Blut -‹
das ist ein Reim, den die juristischen Herren Studenten mir oftmals auch an diesem Tische zitieret haben, wenn unter ihnen die Rede kam auf ihrer Herren Väter Güter und so ein kleines Konto bei mir. Und so komm her, mein
eigen nächstgesippt Blut, mein lieber Sohn und Philosophiedoktor Ebert Pfister, und tritt mit Verstand und Gleichmut, mit einem vergnügten Herzen, wenn auch im Moment nicht fidelen Gesichte, die Erbschaft an von Pfisters Mühle mit allem, was dazu gehört und was zu deinem Vater in Treue gehalten hat in guten und bösen Tagen, durch Sauer und Süß, durch Sommer und Winter, durch Wohlduft und Gestänke. Darauf gib deine Hand nicht mir, sondern der Christine da und dem Samse; oder, noch besser, leg
jedem, wie sie da bei dir sitzen, den Arm mal um die Schulter und denke: Ich weiß, wie es der alte Mann meint!
Wollen sie am Orte, im Dorfe bleiben, was ich aber nicht vermute, so kriegt die Jungfer Christine Voigt eine volle Altjungferaussteuer an Bett, Geschirr und Geräte nach Wahl aus ihrer Frauen, deiner seligen Mutter, Nachlaß, Samse Wagen und Pferd und item sein Bett und Notwendiges an Tisch und Gestühl und ein jegliches die Zinsen von einem Kapital, so dreihundert Mark abwirft,
so lange sie leben. Das Nähere im Pulte schriftlich - deine sonstigen Verpflichtungen gegen meine zwei allergetreuesten Helfershelfer im Erdenvergnügen ungeschrieben auf deine Seele, Eberhard! Denn wie gesagt, ich glaube nicht daran, daß sie sich hier am Orte halten werden, da es aus und zu Ende sein muß mit meinem, deinem und ihrem Haus, Hof und Garten. Ich täte es auch nicht und lebte unter diesen Umständen fort im Dorfe. Und nun - den schwersten Sack in den Trichter! Nämlich, da mein
eingeborner Junge, Namens- und Erbeserbe gänzlich aus meiner und seiner Väter Art schlug und kein Müller wurde, wofür ich jetzt nur dem Himmel danke, so wünsche ich, daß Herr Doktor Adam Asche, meines alten verstorbenen Freundes Schönfärber Asches aus und wieder in die Art geschlagener Sohn und meines Jungen erster Lehrmeister in der Welt, sich auch hier möglichst der Sache annimmt und Pfisters Mühle mit allen Rechten, Werk und Zeug zu einem für alle Parteien gedeihlichen Abschluß verhilft. Denn
wenn auch Doktor Riechei den Prozeß gegen Krickerode recht glorreich gewonnen hat, so fällt mir doch grade jetzt des alten seligen Rektor Pottgießers öfteres Wort hier am Mittwochsnachmittagskaffeetisch ein, wenn einer zu einer Ehre gewünscht wurde, der nicht da war. ›Ist kein Dalberg da?‹ fragte er dann jedesmal im Kreise herum unter den Herren Oberlehrern und Kollaboratoren und ihren lieben Damen. Es tat dann nie einer den Mund auf und rief ›Hier!‹ und so auch in meinem
Fall. Was helfen mir alle ersiegten Gerechtigkeiten, wenn kein Dalberg und kein Pfister vorhanden ist, sie auszunutzen. So meine ich, Samse und Christine halten sich hier auf dem Altenteil und Adam Asche liegt auf der Lauer und wartet ab, bis ihm die neue Welt und Zeit das Rechte honorig bietet für die Stelle und den Wasserlauf; dann schlägt er ein, und wenn der Doktor Eberhard sein Kapital in seines Freundes neuem Geschäft anlegt, ists mir auch recht. Für seine Mühe aber vermache ich dem Adam
Asche meine Mülleraxt, die er sich über meinem Bette herunterholen soll, wenn sie mich herausgehoben haben, und wobei er manchmal in seinem besagten neuen Geschäft gedenken mag, wie viele Pfister die seit vielen Jahrhunderten mit Ehren in der Faust hielten.«
»Hier, Vater Pfister!« rief mein Freund mit bebender Stimme, dabei mit merkwürdig unsicherer Hand die Hand des Greises fassend, und nun doch, als habe aus der neuen Zeit heraus jemand in eine versinkende hinein auf den fragenden
Ruf: »Ist kein Dalberg da?« geantwortet.
»Gedacht hätte ich es wahrhaftig nicht, wenn ich dich in meinen Bäumen über dem Gelage hängen oder auf meiner Wiese im Heu liegen sah, und noch weniger, als ich dich mir mit deiner Wissenschaft zur Hülfe rief gegen Krickerode«, sagte mein Vater kopfschüttelnd, lächelnd.
Die Augen feucht, voll Tränen, doch auch voll wundervoll anmutigen Glänzens, legte Albertine Lippoldes das Kissen hinter dem alten, müden Haupte zurecht, und der alte
Mann sah zu ihr auf und streichelte ihr leise den hülfreichen Arm und sagte:
»Ja, Kind, ich habe nicht ganz ohne Nutzen an diesen Tischen hinter meinen Gästen im Dasein gestanden. Zu meinem Vergnügen an der verschiedenen Unterhaltung ist es mir auch ein Vergnügen gewesen, zu lernen und zuzulernen. Und so ist es mir jetzt der beste Trost, daß ich genau weiß, weshalb wir nicht mehr recht aufkommen gegen Krickerode, trotz aller gewonnenen Prozesse. Aus jedweder Unterhaltung im Gastzimmer
und hier unter den Kastanien zwischen alt und jung, Gelehrten und Ungelehrten, Bürger, Professor, Bauer und Bettelmann, Weib und Mann, wie das der Herrgott bis zu den Kindern mit dem Kreisel oder im Kinderwagen herunter durcheinander gehen ließ in Pfisters Mühle, habe ich allgemächlich angemerkt, weshalb wir nicht mehr bestehen vor Krickerode. Und, Fräulein Albertine, meines seligen Freundes Schönfärber Asches Junge hat mir das letzte Verständnis dafür eröffnet. Denn das ist derjenige, von dem
ich mir am festesten gedacht habe, daß er eher sein Herzblut hergeben werde, als die Wirtsstube und den Garten, die Wiesen, den Fluß und die Sonne von Pfisters Mühle! Denn ich habe ihn ja aufwachsen und hinbummeln sehen und auf meinem Konto gehabt von Kindsbeinen an, und es ist keiner gewesen, auch dein armer seliger Papa nicht, Kind, der mit solchem Sinn fürs Ideale seine Beine unter meine Tische oder sich ganz der Länge nach auf die Bänke oder in die Gräserei gestreckt hat wie meines alten
Kumpans Schönfärber Aschen nachgelassener Phantastikus, Adam Asche! Da der Partei genommen hat für die neue Welt und Mode und hergekommen ist und den Kopf nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die doppelte Buchhaltung, das Fabrikwesen gesteckt und Krickerode nicht bloß für mich ausgespüret, sondern es in anderer Art für sich selber an euerm Berliner Mühlenbach aufgepflanzet hat, so gebe ich klein bei und sage: dann wird es wohl der liebe Gott für die nächsten Jahre und Zeiten
so fürs beste halten. Fräulein Albertine, wer dieses strubbelköpfige Geschöpfe in seinem seligen Schlummer am Feldwege unterm Hagedorn bekopfschüttelt und es nachher an der chemischen Wäsche gesehen hat und es heute in seinem Wesen und Treiben, Spaß und Ernst sieht, der muß sich bekennen, der richtige Mensch hat am Ende auch nicht die reine Luft, die grünen Bäume, die Blütenbüsche und das edle, klare Wasser von Quell, Bach und Fluß nötig, um ein rechter Mann zu sein.
Hast es dem Vater
Pfister kurios beigebracht, Freund Adam, wie dem Menschen auf dieser Erde alles Wasser auf seine Mühle werden kann; und auf daß du siehst, daß ers dir nicht übelgenommen, wenn du auch mal in betreff von des alten, närrischen Kerls Idealem zu sehr pläsierlich den Gleichmut herauskehrtest, so will er dir jetzt zu deinem Ideal, höchstem Sehnen und schönstem Wunsch, in deinem Schornsteindampf und Waschkesselqualm verhelfen - im heiligen Ernst! Nämlich es ist wohl von vorigen Weihnachten bis jetzt in
diesen Oktober zwischen mir und meinem lieben Kinde hier so von Zeit zu Zeit die Rede auf dich gekommen, Doktor, und da habe ich denn, wie gesagt, manchmal behauptet, grade Leute von deinem Schlage würden wohl noch am ersten die Traditionen von Pfisters Mühle auch unter den höchsten Fabrikschornsteinen und an den verschlammtesten Wasserläufen aufrechterhalten; und, Doktor Asche, Fräulein Albertine hat wirklich meiner Meinung beigepflichtet, und - na, was ist mir denn dieses? Paß auf das
Geschirr, Samse; da fängts an, heiß herzugehen unter den Kastanien - dritter Tisch, Reihe rechts!.....«
Wenn je ein Mensch zu Stein auf einem Stuhle geworden war, so war das mein guter Freund Doktor A. A. Asche. Aber nur einen Augenblick starrte er regungslos von dem alten Vater Pfister auf das junge Fräulein; und wenn je ein Mann ein hübsches, tapferes, kluges Mädchen fest in die Arme gefaßt hatte, so war das mein närrischer Freund Adam ebenfalls.
»Ja, es war so auch meine
Meinung«, flüsterte das Kind des verlorengegangenen Poeten schluchzend. »Du bist sehr gut gegen mich und meinen Vater gewesen; ich aber habe zuerst dich nicht recht gekannt und nachher nicht mehr gewußt, wie ich dir danken sollte.«
Die Stimme, mit der Adam Asche jetzt nichts weiter als: »Vater Pfister!« rief, klang nicht im Alltagston des Gründers von Rhakopyrgos, und Vater Pfister sagte trübe lächelnd:
»Das ist nicht die erste Hochzeit, die in Pfisters Mühle verabredet
worden ist; aber es wird wohl die letzte gewesen sein. Halte dein Weib in Liebe und meine Axt in Ehren, Adam. Räum den Tisch ab, Samse, zieh mir die Decke um den Leib, Christine; und du, mein lieber Junge, schieb den letzten hiesigen Müller und Wirt aus seinem Garten, roll ihn ins Haus. Du hattest gottlob deiner Väter Ehrenstab und Waffe nicht vonnöten bei deinem Kopf- und Handwerk. Halte du in deiner Schule nur einfach diejenigen beim Rechten, zu denen von ihren Vätern her der Ruf von Pfisters
Mühle im Liede kommen sollte!«...
Sieben Tage später ist er nach schwerem Leiden in unser aller Gegenwart sanft und friedlich eingeschlafen, mein liebe Vater, der gute, fröhliche Vater Pfister. Nachher haben Adam und Albertine geheiratet, und Vater Schulze hat seine Einwilligung zu meiner Verlobung mit Emmy, wie ich vermute, mit Vergnügen, selbstverständlich jedoch nicht ohne absonderlichstes Gesperr, Gezerr und Gespreize erteilt.
Wo bleiben alle die Bilder? - - -
Freund Asche hat wieder einmal seinen Nachmittagsschlaf auf meinem Sofa beendet; wir sind mit ihm nach Lippoldesheim hinausgefahren und sind am Sonntag abend wieder nach Hause gekommen. Wo bleiben alle die Bilder? Hier halte ich das letzte des bunten Buches fest; für das Schicksal des Blattes Papier, auf welches es gemalt wird, übernehme ich auch diesmal keine Verantwortung. - -
Die zwei Frauen sitzen in der Veranda von Lumpenburg-Lippoldsheim unter der Klematisblüte und im
Kinderlärm; die beiden Männer wandern am Ufer der Spree, wie vordem zwischen dem Weidengebüsch am Ufer von Vater Pfisters Mühlbach.
Noch ein Mann wandelt von der Villa her auf uns zu und überbringt uns zarten Wunsch in nicht grade ausgelassen vergnügter Art:
»Die Herrens möchten zum Tee kommen.«
Das ist Samse. Er und Christine gehören vollständig zu uns; wir können uns weder Lippoldesheim noch unser Heimwesen in der Stadt Berlin noch die Bilder, die einst waren,
ohne die zwei vorstellen - denken.
Wir gehen zum Tee unter der Veranda. Nebenan klappert und lärmt die große Fleckenreinigungsanstalt und bläst ihr Gewölk zum Abendhimmel empor fast so arg wie Krickerode. Der größere, wenn auch nicht große Fluß ist, trotzdem daß wir auch ihn nach Kräften verunreinigen, von allerlei Ruderfahrzeugen und Segeln belebt und scheint Rhakopyrgos als etwas ganz Selbstverständliches und höchst Gleichgültiges zu nehmen.
Aus der Wiege des jüngsten
Asche schallt plötzlich ein heftigeres Geschrei, und Vater Asche spricht:
»Der verstehts auch! Nun hör ihn nur und richte dich auf Ähnliches ein, Knabe Telemachos. Höre nur das intensive Bedürfnis der Krabbe, ihren Willen zu kriegen! So was hilft. Das ist kein Knüzäma oder Wimmern, keine Ololügä oder Weinen, kein Klauma, keine Oimogä, kein Odürmos - dies ist das Richtige: eine Blächä, Geblöke, ein Orügmos, Geheul, kurz eine Korkorügä, die dem Lümmel sofort zu seiner Mutter Brust
verhelfen wird. Da ist sie ja schon mit aufgehobenen Armen und fliegendem Hyakinthosgelock. Na, Pfister, ich denke, der Junge wird ferner gut werden, nicht aus der Art schlagen und seinem Alten keine Schande machen.«
»Bei allen Göttern von Hellas, wie kommst du aber zu dieser Nomenklatur des Menschen- und Kindergeschreis, von den Hyakinthoslocken deiner Albertine ganz abgesehen, Adam?«
»Ja, siehst du (der junge Molch und Reklamerich hat sich an meiner Frau so fest
verbissen, daß sie nicht sieht und hört), weißt du, das Handwerk ist doch zu stinkend, und selbst eine solche Hausidylle wie die unsrige reicht gegen den Überdruß nicht immer aus. Es ist eben nicht das Ganze des Daseins, alle Abend aus der Wäsche von alten Hosen, Unterröcken, Ballroben, Theatergarderobe und den Monturstücken ganzer Garderegimenter zu der besten Frau und zum Tee nach Hause zu gehen. Da habe ich mir denn das Griechische ein bißchen wieder aufgefärbt und lese so zwischendurch den
Homer, ohne übrigens dir hierdurch das abgetragene Zitat von seiner unaustilgbaren Sonne über uns aus dem Desinfektionskessel heben zu wollen.« -