Willibald Alexis
Der neue Pitaval - Neue Serie, Band 4
Der Tod des Rentier Peter Tixier.
eingestellt: 8.7.2007
Im westlichen Frankreich, in der alten Provinz Poitou, dem heutigen Departement Deux-Sèvres, liegt die Stadt Niort und nicht weit entfernt davon das Landgut La Meillerage, einst Eigenthum der Nachkommen Mazarins, im Jahre 1865 im Besitz von Peter Tixier, der dort als Junggeselle ein ziemlich behagliches Dasein führte. Er war 53 Jahre alt, kräftig gebaut und abgesehen von bisweilen wiederkehrenden Anfällen von Gicht von dauerhafter Gesundheit. Im Laufe des Juni 1865
erkrankte er wieder an der Gicht, Anfang Juli gesellten sich zu diesem alten Leiden ganz neue Krankheitserscheinungen, nämlich sehr heftige Leibschmerzen, Erbrechen und Durchfall, die sich im Laufe des Juli und August immer mehr steigerten und am 11. August seinen Tod herbeiführten. Schon einige Tage vorher hatte sein Hausarzt, Dr. Ganne, die Criminaljustiz davon benachrichtigt, daß seiner Überzeugung nach Tixier vergiftet sei; die Leichenöffnung und die chemische Untersuchung der Eingeweide und
anderer Körpertheile, des zu diesem Zwecke aufbewahrten Auswurfs des Verstorbenen, ja des Holzes der dem Bett zunächst befindlichen, mehrfach durch Erbrechen verunreinigten Dielen bewiefen unwiderleglich, daß eine Vergiftung durch Arsenik stattgefunden hatte und zwar nach der Ansicht der Aerzte in der Art, daß der tödliche Stoff allmählich und in kleinen Dosen dem Opfer beigebracht worden war.
»Von vornherein hatte die Justiz die Überzeugung gewonnen, daß der Verdacht nicht
fehlgehen könne«, sagt die Anklage mit alle dem Pathos, welches derartige Schriftstücke französischer Staatsanwälte auszeichnet und leider in Deutschland gern nachgeahmt wird. Sie führt uns sodann die Schuldigen in den Personen der Witwe Tixier, ihres Vaters Franz Charlot und der Magd Franziska Richard vor.
Frau Honorine Tixier, geborene Charlot, war die Witwe eines schon vor mehrern Jahren gestorbenen Bruders des Ermordeten. Sie hatte zwar, wie die Anklage behauptet, nach dem Tode
ihres Ehemannes mit ihrem Schwager einige kleine Streitigkeiten in Betreff der Erbregulirung gehabt, dies war jedoch längst vergessen und sie lebten auf dem freundschaftlichsten Fuße miteinander. Frau Tixier hatte zwei Töchter, welche hoffen durften, ihren Oheim dereinst zu beerben, nur hatte dieser – sagt der Staatsanwalt – einige kleine Schrullen; darunter gehörte eine ausgesprochene Antipathie gegen die Ehe, und wenn Frau Tixier sich wieder verheirathet hätte, so hätte sie
vielleicht fürchten können, daß er über sein Hab und Gut – dessen Werth auf 300000 Frs. angegeben wird – zu Gunsten seiner Vettern, die er sehr liebte, verfügt hätte. Sie war damals 34 Jahre alt, besaß selbst ein Vermögen von etwa 450000 Frs., erfreute sich eines durchaus makellosen Rufs und war, wenigstens nach der Ansicht unsers Berichterstatters, nicht schön, brünett, mit schwarzen Augen, noch schwärzerm Haar und markirten, viel Energie aussprechenden Zügen.
Ihr
Vater wird als ein rüstiger Greis von 72 Jahren, von blühender Gesichtsfarbe, mit einem sonderbaren Auswuchs auf der Nasenspitze begabt, geschildert; hätte er nicht gerade wegen Theilnahme an einem Giftmorde auf der Anklagebank gesessen, sagt der Referent, so würde er an Silen erinnert haben. Er hatte durch Güterhandel ein beträchtliches Vermögen erworben; die Anklage behauptet, er habe nie in gutem Rufe gestanden und sei in letzter Zeit durch seine Handelsverbindungen und sonstigen vertrauten
Beziehungen zu Martin Neau, einem übelberüchtigten Manne, der 1866 wegen vierfachen Giftmordes verurtheilt worden war, noch mehr in Misachtung gerathen.
Franziska Richard endlich ist 50 Jahre alt, von angenehmer Gesichtsbildung; sie hat seit acht Jahren bei Peter Tixier in Dienst gestanden.
Die Anklage erwähnt nun zunächst, daß Frau Tixier, welche nicht weit von La Meillerage, in Tessonière, wohnte und ihren Schwager häufig besuchte, und die Richard diejenigen waren, welche
Peter Tixier während seiner Krankheit verpflegten, die Nahrungsmittel zubereiteten und reichten; dann trägt sie folgende Einzelheiten vor:
»Am 2. Juli besuchte Frau Tixier ihren Schwager, der eben wieder einen Anfall von Gicht hatte, brachte den Abend mit ihm zu und verließ ihn am nächsten Morgen. Am 4. Juli ließ Tixier den Dr. Ganne rufen, der ihn an Leibweh und heftiger Diarrhöe leidend fand. Am 15. Juli kam Frau Tixier wieder nach La Meillerage, brachte aber gegen ihre sonstige
Gewohnheit ihre Bedienung, ihre Töchter und deren Hauslehrerin mit, als hätte sie vorausgesehen, daß die Krankheit lang und schwer werden würde. Von da an verschlimmerte sich der Zustand des Leidenden; am 16. Juli schon fand Dr. Ganne einige ihm unerklärliche Symptome, besonders Brennen im Halse und schweren Druck in der Magengegend. Das Uebel steigerte sich langsam bis zum 1. August. An diesem Tage gab Dr. Ganne dem Kranken ein Abführmittel, welches sehr heftig wirkte. Noch an demselben Abende
›ging die verbrecherische Hand, welche das Gift täglich und in kleinen Dosen verabreichte, mit weniger berechneter Vorsicht zu Werke‹ und Tixier wurde von entsetzlichen Schmerzen und unaufhörlichem Erbrechen befallen. Die Schmerzenslaute, die er ausstieß, waren im ganzen Hause hörbar und machten einen unaussprechlichen Eindruck auf Frau Tixier. Dieselbe rief um Mitternacht ihre Magd Josephine, welche sie in heftigem Schweiß und am ganzen Körper zitternd fand; dieser Zustand dauerte
etwa anderthalb Stunden. Während desselben sagte sie zu Josephine: ›Ich bin trostlos über den Zustand meines Schwagers; ich sehe, es ist keine Hoffnung mehr! Ich verliere eine treue Stütze an ihm, denn bei dem Alter meines Vaters kann ich auf diesen nicht mehr rechnen!‹ Am nächsten Morgen ließ sie ihren Vater rufen, der sich in einem Nachbardorfe befand. Dr. Ganne hatte inzwischen einen zweiten Arzt, Dr. Ledain, zugezogen. Beide verlangten, daß der Auswurf des Kranken aufbewahrt
würde. Dem setzten aber Frau Tixier und Franziska hartnäckigen Widerstand entgegen. Am 27. Juli hatte Dr. Ganne dies ausdrücklich anbefohlen. Am 29. Juli entgegneten ihm beide Frauen, als er danach fragte: sie hätten es vergessen. Dieselbe Scene wiederholte sich am 1. und 2. August. Es war dieses angebliche Vergessen um so auffallender, als der Auswurf ganz eigenthümlicher Art, nach der Beschreibung von Zeugen schwarz, mit Blut untermischt und von fauligem Gerüche war. Am 6. August hatten
die Aerzte endlich durchgesetzt, daß das Ausgebrochene aufbewahrt wurde. Als sie es in ein Gefäß füllten, um es mitzunehmen, fragte Frau Tixier sehr erstaunt: was sie damit machen wollten, und verlangte dann, die Untersuchung solle sogleich und in ihrer Gegenwart vorgenommen werden. Beide Frauen hatten übrigens dem Arzt von dem Erbrechen nichts gesagt; erst am 27. Juli erfuhr Dr. Ganne, daß der Kranke auch daran litt. Das Erbrechen trat besonders abends ein, wenn er Bouillon genossen hatte;
diese wurde stets von der Richard zubereitet und bald von ihr, bald von Frau Tixier ihm gereicht. Am 11. August, während Fremde dem Opfer die Augen zudrückten, befanden sich beide Frauen in der Küche. Frau Tixier äußerte: in ihrem Interesse liege es nicht, daß ihr Schwager sterbe, sein Nachlaß werde ihr mehr Ungelegenheiten als Vortheil bringen; übrigens, fügte sie hinzu, kenne ich kein Gift; ich weiß wohl, daß es eins gibt, welches man Arsenik nennt, aber ich habe es nie gesehen. Alsbald
erklärte auch die Richard, sie kenne kein Gift, es sei seltsam, daß man glaube, ihr Herr sei vergiftet. Diese Aeußerungen waren dem anwesenden Maire von Beaulieu, Joly, sehr verdächtig.
»Charlot«, fährt die Anklage fort, »hat den beiden Thäterinnen unzweifelhaft bei der Ausführung ihres Verbrechens Hülfe geleistet. Wie seine Tochter, wünschte auch er für seine Enkelinnen die Erbschaft des Unglücklichen und fürchtete, daß sie ihnen entgehen könnte. ›Hätte ich am 10. August La
Meillerage verlassen‹, sagte er, ›so hätte Ganne seinen Einfluß auf Tixier benutzt, um ihn zu einem Testament zu Gunsten des Maire Joly zu bereden.‹ Er hatte aber auch ein persönliches Interesse am Tode Tixiers, denn er schuldete ihm 30000 Frs., zahlbar am 29. September 1865. Er verfolgte ängstlich die verschiedenen Phasen der Krankheit, nahm im August gegen seine Gewohnheit, als die Departementswahlen stattfanden, am Wahlkampfe nicht theil und heuchelte eine Besorgniß für
den Schwager seiner Tochter, die weder durch ihr Verwandtschaftsverhältniß noch durch ihre Freundschaft – denn sie standen nicht in besonders freundschaftlichen Beziehungen – erklärlich war. Vom 2. August an kam er häufig nach La Meillerage; befonders als die Aerzte auf den 9. August einen Morgenbesuch angekündigt hatten, brach er um 4 Uhr früh von Hause auf, um vor ihnen einzutreffen. Als er den Kranken sah, fragte er, ob das Erbrechen noch fortdauere und ob er immer noch Bouillon
trinke; er solle immer etwas davon trinken, fügte er hinzu.
»Am Abend des 9. August fand die Justiz sich in La Meillerage ein. Man argwöhnte eine Vergiftung, hatte aber noch niemand beschuldigt. Es wäre nun wol erklärlich gewesen, daß die Witwe Tixier und ihr Vater im Verein mit den Beamten und den Aerzten sich bestrebt hätten, die Wahrheit an den Tag zu bringen, schon damit die Entdeckung des Giftes die Anwendung eines geeigneten Heilmittels ermöglicht hätte. Die Haltung der
Angeklagten war jedoch eine ganz andere. Zuerst erklärten sie, wenn eine Vergiftung vorgekommen sei, könne man sie nur den Aerzten zur Last legen. ›Herr‹, sagte Frau Tixier zu Dr. Ganne, ›Sie haben ihn in diesen Zustand gebracht; die Arznei, die Sie ihm Donnerstag gegeben, war nicht aus der Apotheke, Sie nahmen sie aus der Tasche, Sie haben sich geirrt, und von da an ist mein Schwager immer elender geworden; er wäre jenen Abend fast gestorben.‹
»Dann sahen
sie aber ein, daß dieses System der Vertheidigung nicht haltbar war und griffen zu einem andern Mittel: sie beschlossen, zu dem sterbenden Tixier noch mehrere Aerzte zu rufen, um durch die Widersprüche in deren nach flüchtiger Besichtigung des Kranken gestellten Diagnosen das Urtheil der behandelnden Aerzte zu entkräften. So kamen die Doctoren Chevallerault und Meynier nach La Meillerage, zogen sich aber zurück, nachdem Dr. Ganne sie über die Sachlage aufgeklärt hatte; ein anderer Arzt, Dr.
Morin, kam am 10. August und nahm irrthümlich an, Tixier leide am Magenkrebs, von dem, wie die Section ergeben hat, keine Spur vorhanden war. Sofort forderten sie von ihm ein schriftliches Gutachten und zeigten es am nächsten Morgen dem Dr. Ganne mit den Worten: ›Das wird unsere Rechtfertigung sein!‹ So bereiteten sie ihre Vertheidigung vor, ehe Tixier noch gestorben war und bevor sie jemand angeklagt hatte!«
Dies war der wesentliche Inhalt der Anklage, die
gegen die Witwe Tixier und Franziska Richard wegen Giftmordes, gegen Charlot wegen Theilnahme an diesem Verbrechen erhoben wurde und gegen welche sich diese in einer mehrtägigen Sitzung, vom 13. bis zum 18. März 1868 , vor dem Schwurgerichte zu Niort zu vertheidigen hatten. Tixier scheint in weiten Kreisen bekannt und allgemein beliebt gewesen zu sein, und so war denn die Betheiligung des Publikums an den Verhandlungen eine ganz außerordentliche. Dieselben bieten von Anfang bis Ende ein
seltenes, sozusagen dramatisches Interesse und sind mit Umsicht und Gewandtheit geleitet, wennschon insbesondere anfangs eine gewisse Voreingenommenheit gegen die Angeklagten bisweilen durchblickt.
Zuerst wird Frau Tixier vernommen. Sie erklärt, ihre Beziehungen zu ihrem Schwager seien die besten, er sei ihr ein Bruder gewesen. Sie hat ihn am 1. Januar 1865 auf eine Woche, in der Fastenzeit mit ihren Kindern, deren Lehrerin und einer Magd wieder auf acht Tage und am 27. Juni auf einen
Tag besucht. Er hatte einen Anfall von Gicht und ein Diener, Pierre Page, sagte ihr, er sei recht krank, Franziska habe ihn noch nie so gesehen. Am 2. Juli kam sie wieder zu ihm. Am 3. Juli reiste sie wieder ab.
Vorsitzender. Ich kann mir Ihr Benehmen nicht erklären! Sie sagen, bei Ihrer Ankunft sei Ihr Schwager sehr krank gewesen; in der Voruntersuchung haben Sie hinzugefügt, er sei vor Erbrechen fast erstickt. Nun wohl, statt für ihn zu sorgen, statt sich über den Zustand
dieses Verwandten, von dem Ihre Töchter 300000 Frs. erben, zu unterrichten, reisen Sie wieder ab! Was ist das für ein Benehmen?
Angeklagte. Ich mußte fort. Ich mußte nach meinen Kindern sehen und hatte Geschäfte.
Vorsitzender. Erlauben Sie, Ihre erste Pflicht, als der nächsten Verwandten dieses schwerkranken Junggesellen, war, ihm die zarte Pflege angedeihen zu lassen, die man Dienstboten nicht überläßt!
Angeklagte. Ich glaubte ihn nicht in
Todesgefahr. Er hat bei seinen Gichtanfällen oft erbrochen und hat mich deshalb nie rufen lassen.
Als Dr. Ganne am 16. Juli wiederkam, sagte Tixier: »Je mehr ich von Ihren Pillen nehme, desto schlechter wird mir!« Ganne antwortete nichts, verschrieb ein Abführmittel und das Erbrechen dauerte fort. Tixier würde gern einen andern Arzt genommen haben, aber er sagte: »Wenn ich es thue, macht mir Ganne irgendwelche Dummheiten.« Angeklagte bestreitet, Bouillon gekocht zu haben, was sie in
der Voruntersuchung zugegeben hat. Auf ihre Erklärung, sie habe nicht bei Tixier gewacht, sich auch nicht darum bekümmert, was er in der Nacht genossen habe, bemerkt der Präsident: dann hätte sie auch in Tessonière bleiben können. Daß Tixier an Erbrechen gelitten, will sie dem Dr. Ganne schon bei dessen erstem Besuche gesagt und am 27. oder doch spätestens am 29. demselben das von Tixier Ausgebrochene übergeben haben. »Ich weiß, daß Dr. Ganne das Gegentheil behauptet, aber das ist eine Lüge!« Am
1. August fragte Dr. Ganne, ob kein Abführmittel im Hause sei; sie gab ihm etwas Magnesia, er sagte aber: »Ich habe etwas Besseres«, und nahm ein Arzneimittel aus der Tasche, wovon er Tixier drei Gläser trinken ließ. Beim Fortgehen sagte er zur Angeklagten: »Ihr Schwager hat nicht mehr vierzehn Tage zu leben!« »Darauf verlangte mein Schwager ein Brechmittel. Ich sagte: ›Wenn Sie sich erbrechen, so werden Sie auch die Arznei nicht bei sich behalten!‹ Er entgegnete: ›Ich will sie
auch wieder von mir geben, Ganne hat mir etwas gegeben, das mich tödtet!‹ Am 9. August sagte Dr. Ganne zu mir: ›Wenn Ihr Schwager vergiftet ist, so muß man den Thäter ermitteln. Ich bin bei der Sache als Arzt compromittirt. Warum haben Sie mir vor der Welt Schaden gethan? Sie hätten sagen sollen, man habe die Ausleerungen fortgegossen, dann hätten Sie sich aus der Affaire gezogen!»«
Vorsitzender. Die Voruntersuchung hat ergeben, daß Ihr Vater gesagt hat:
»Beweise habe ich nicht, aber wenn Tixier vergiftet ist, so hat das nur unser Denunciant thun können!«
Angeklagte. Was mein Vater gesagt hat, weiß ich nicht, aber mein Schwager hat gesagt: »Wenn ich vergiftet bin, so bin ich es nur durch Gannes Medicin!«
Vorsitzender. Ihr Schwager ist todt. Sie können ihn viel sagen lassen! Sie haben sich immer bemüht, glauben zu machen, daß Ihr Schwager durch einen von Ganne begangenen Fehler vergiftet sei. Sagen Sie frei
heraus, was Sie hierüber denken.
Angeklagte in lebhafter Erregung: Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich nicht weiß! Ich habe ein Gewissen, Sie werden mich nicht dazu bringen, es zu sagen!
Vorsitzender. Sie hatten einen nervösen Anfall gerade an dem Tage, an dem die Krankheit am heftigsten auftrat und an dem Dr. Ganne, wie Sie sagen, die Arznei gegeben hat. Waren es nicht Gewissensbisse, die Sie erschütterten?
Angeklagte. Ich weiß nicht, mein
Herr, ob mein Schwager vergiftet worden ist, aber jedenfalls habe ich ihm nichts gegeben. Niemand in der Welt wird behaupten können, daß man gesehen hätte, daß ich ihm irgendetwas zu trinken gab!
Vorsitzender. Und doch hat man Arsenik in seinem Leichnam gefunden und irgendjemand muß ihm denselben beigebracht haben!
Angeklagte. Ich weiß nichts davon; jedenfalls bin ich es nicht gewesen!
Vorsitzender schildert den traurigen Zustand, in dem
Tixier sich am 6. August befand, und spricht seine Verwunderung aus, daß sie dennoch am 7. abreisen konnte. Sie entgegnet, sie, ihre Kinder und die Erzieherin hätten Kleidung und Wäsche wechseln müssen, auch habe sie nicht geglaubt, daß die Gefahr so groß sei, besonders da ihn Dr. Ganne drei Tage lang nicht besucht habe. Am 9. sei sie zurückgekehrt und sei die Justiz ins Haus gekommen. Am 10. habe sie Dr. Chevallerault rufen lassen. Dr. Ganne habe ihn am Krankenbett getroffen und gesagt: »Was
wollen Sie hier? Wissen Sie denn nicht, daß dieser Mann vergiftet ist und daß die Justiz untersucht?« Chevallerault entgegnete: »Wenn ein Kranker mich rufen läßt, so kenne ich keine Ablehnung!«
Vorsitzender. Dr. Chevallerault hat erklärt, die Familie des Kranken habe ihm gesagt, derselbe leide seit sechs Monaten an der Gicht, aber erst seit drei Wochen an Erbrechen. Sie sehen die Wichtigkeit dieser Angabe ein. Wenn am 10. August die Familie erklärt, daß das Erbrechen vor drei
Wochen begonnen hat, so hat es etwa am 16. oder 17. Juli, das heißt nach Ihrer Ankunft in La Meillerage, begonnen und das ist sehr belastend für Sie.
Angeklagte. Das hat Herr Chevallerault nicht sagen können.
Vorsitzender. Nun, wir werden sehen, ob es wahr ist oder nicht; daß er es gesagt hat, ergeben die Acten. Was haben Sie Herrn Ganne entgegnet, als dieser Herrn Chevallerault gesagt hatte, Ihr Schwager sei vergiftet?
Angeklagte. Ich habe
gesagt, wenn eine Vergiftung stattgefunden habe, so sei dieselbe sein Werk. Dr. Ganne erwiderte: »Sie können noch Ihren Herrn Chevallerault und seinesgleichen holen, das sind lauter Esel, denen ich aufs Fell kommen möchte.«
Vorsitzender. Sie sahen zwei Gensdarmen auf das Haus zukommen, um mit Ihnen zu sprechen. Sie sagten zu Ihrem Schwager: »Sie sind noch bei vollem Bewußtsein! Sprechen Sie ein Wort, rechtfertigen Sie mich, halten Sie mich für fähig, Sie zu vergiften?« Was hat
Ihr Schwager hierauf erwidert? Nichts als: »Ich bin ein sehr unglücklicher Mann!«
Angeklagte. Wissen Sie genau, Herr Präsident, daß er weiter nichts erwidert hat?
Vorsitzender. Ich weiß nicht, ob er sonst noch etwas erwidert hat, aber es steht nichts in den Acten!
Angeklagte lächelnd: Schön; aber ich, ich weiß, daß er etwas anderes geantwortet hat!
Mit der Bemerkung des Präsidenten, es sei merkwürdig, daß sie sich in den drei
Wochen, die sie am Krankenbett ihres nächsten Verwandten zugebracht habe, nicht darum gekümmert habe, was diesem verabreicht werde, schließt ihre Vernehmung, während welcher sie eine bewundernswerthe Ruhe und Geistesgegenwart gezeigt und mit klarer, deutlicher Stimme gesprochen hat. Nur zuweilen zeigte ein nervöses Zucken um die Schläfen, ein Falten der Stirn und das Feuer ihres Blickes, daß sie eine Frau von Energie ist.
Es folgt die Vernehmung von Franziska Richard, welche äußerst
befangen ist, weint und zittert und fast unverständlich leise spricht.
Nach ihrer Angabe hat Tixier schon vor Johanni, am 4. Juni, nach einem Diner, welches er seinen Freunden gegeben und bei welchem Dr. Ganne zugegen war, an Erbrechen gelitten, ohne jedoch sehr krank zu sein. Schon ehe sie vor acht Jahren bei ihm in Dienst trat, war Dr. Ganne sein Hausarzt; er hätte gern einen andern genommen, wagte es aber nicht. Er litt schon an Erbrechen, ehe Frau Tixier nach La Meillerage
kam, aber es wurde nach ihrer Ankunft schlimmer. Nachdem ihm Dr. Ganne Pillen gegen das Fieber gegeben hatte, klagte er, daß ihm die paar Pillen, die er genommen, im Leibe brennten. Er hatte auch vor den Pillen schon sich erbrochen. Nach der Medicin erbrach er immer mehr »als wollte er das Herz durch den Mund von sich geben«. Die Bouillon kochte sie, verabreicht wurde sie bald von ihr, bald von Frau Tixier. Als die Rede auf Vergiftung kam, trat Franziska zu ihrem Herrn und fragte: »Herr, wen
beschuldigen Sie denn, Ihnen Böses gethan zu haben, mich oder Frau Tixier?« Er antwortete: »Weine nicht, die Sache wird keine Folgen haben!« Frau Tixier sagte nach dem Tode, als man von Vergiftung sprach: »Ich kenne kein Gift.« Franziska sagte: »Ich auch nicht; man sagt, daß man mit Arsenik die Leute vergiftet, aber ich habe noch keinen gesehen.« Darauf sagte Herr Joly: »Es gibt Weißen, es gibt auch rosa.«
Die Widersprüche zwischen diesen beiden Angeklagten, insbesondere in Betreff
der Bouillonbereitung, werden durch den Gerichtsschreiber constatirt und es folgt am nächsten Tage die Vernehmung des alten Charlot.
Er kam am 2. August nach La Meillerage, ging sofort in Tixiers Zimmer und fragte, was ihm fehle. Dieser antwortete: »Der elende Ganne hat mich mit der Medicin getödtet, die er mir gegeben hat.« Als er am 9. August wieder hinkam, traf er den Dr. Ganne, welcher ihn fragte, was er wolle. Darauf sagte Dr. Ganne zu dem Kranken: »Ich habe ein Mittel für Sie,
das ich selbst zubereiten werde; ich werde es Ihnen heut Abend bringen.« Charlot wunderte sich hierüber, erfuhr aber bald darauf, daß Ganne die Leute im Hause beschuldige, Tixier vergiftet zu haben. Ich sagte, fährt der Angeklagte fort: »Was auch geschehen möge, unsere Unschuld ist unser Schutz.« »Desto besser für Sie«, entgegnete Ganne in grobem Tone. Darauf kam Dr. Chevallerault. »Wozu dieser Ueberfluß an Aerzten«, fragte Ganne, »bin ich nicht Arzt?« »Kehren Sie mit Ihrer Tochter nach
Haufe zurück«, sagte er dann, »was machen Sie hier? Sie compromittiren sich!«
Vorsitzender. Sie haben später geäußert: »Ich habe keine Beweise, aber wenn Tixier vergiftet ist, so hat dies unser Denunciant gethan.« Nun sprechen Sie sich deutlich aus: Glauben Sie, daß Herr Ganne Tixier vergiftet hat?
Angeklagter. Herr Präsident, als der Kranke mir gesagt hatte, Ganne habe ihn getödtet, habe ich meine Meinung für mich behalten. Ich mache es nicht wie er, ich
denuncire niemand!
Vorsitzender. Sehen wir zu! Tixier ist vergiftet! Sie sagen: Ich habe keine Beweise, aber – u. s. w. Nun müssen Sie sich deutlich ausdrücken und sagen, ob Sie die gewissenhafte Überzeugung haben, daß es Dr. Ganne gewesen ist, der Tixier vergiftet hat.
Angeklagter. Herr Präsident, ich behalte meine Meinung für mich. Ich kann Herrn Ganne nicht beschuldigen. Er kann sich geirrt haben, wie dies allen Aerzten begegnet; er kann unwillkürlich
vergiftet haben.
Vorsitzender. Glauben Sie, daß Dr. Ganne, wenn er nicht unwillkürlich vergiftet hat, dies vorsätzlich gethan hat?
Angeklagter. Auf diese Frage kann ich nicht antworten.
Vorsitzender. Geben Sie Acht! Dies ist wichtig und die Jury wird Ihre Antwort würdigen: ich frage Sie, ob Sie glauben, daß Dr. Ganne Tixier vorsätzlich vergiften konnte?
Angeklagter. Ich weiß es nicht, Herr Präsident.
Vorsitzender. Wie, Sie wissen es nicht? Sie müssen wissen, was Sie hierüber denken, und trotz der großen Wichtigkeit der Frage können Sie nicht darauf antworten?
Angeklagter. Sei das so wichtig, als Sie wollen, ich kann nicht antworten. Mein Gewissen verbietet mir, jemand zu denunciren, wer es auch sei. Herr Tixier, das habe ich gehört, hat gesagt: »Der erbärmliche Ganne hat mich getödtet; was will er hier machen? Nachdem er mich mit seiner Medicin gemordet hat, will
er mich wol noch mit seiner Justiz morden!«
Vorsitzender. Gut; was schließen Sie hieraus?
Angeklagter. Ich wiederhole Ihnen, ich behalte meine Meinung für mich und beschuldige niemand!
Er versichert, sehr wohl gemerkt zu haben, daß man – nicht gegen ihn, daran habe er nicht gedacht – aber gegen seine Tochter und die Leute im Hause Argwohn hege, und habe deshalb die Doctoren Chevallerault, Meynier und Morin zugezogen. Auf Befragen des
Vorsitzenden gibt er an, Dr. Ganne sei ihm feindlich gesinnt, und erzählt die Veranlassung folgendermaßen: »Ich hatte vor einiger Zeit plötzlich einen Associé verloren, mit dem ich 20 Jahre lang Geschäfte gemacht hatte. Da bot mir Dr. Ganne an, dessen Stelle in meinem Gütergeschäft einzunehmen. ›Lassen Sie mich so ein 40000 Frs. gewinnen‹, sagte er, ›und Sie werden mir einen großen Dienst erweisen!‹ Ich hatte ihm eben 20000 Frs. geborgt, die er noch jetzt schuldig ist. Es
wird ihm sogar schwer, die Zinsen davon zu bezahlen. Ich versprach ihm also nichts, aber dachte bei mir: Das wäre ein schöner Associé. Später traf er mich einmal bei einem Notar; man sprach von dem Gute des Herrn von Chatenay, das gerade zu verkaufen war, und Ganne schlug mir vor, es mit ihm zu kaufen. Ich lehnte dies ab und später erfuhr er, daß ich es mit Martin Reau getauft hatte. Daher sein Haß!«
Die Reihe der Zeugen eröffnet der vielerwähnte Dr. Ganne, der in
einem dreistündigen, sehr beredten Vortrage seine Wahrnehmungen mittheilt.
Seit 25 Jahren Hausarzt bei Tixier, stand er lediglich in diesem ärztlichen Verkehr mit ihm. Tixier litt an der Gicht und liebte gute Kost, was nicht eben heilsam war; am 4. Juni hatte er gichtische Schmerzen im rechten Handgelenk, Ganne besuchte ihn, wurde zum Frühstück geladen und sie blieben drei Stunden bei Tische, was dem Arzte etwas zu lange schien; auch verschlimmerte sich das Befinden des Kranken
danach. Am 4. Juli wurde Dr. Ganne wieder gerufen und fand denselben in dem in der Anklage beschriebenen Zustande; erst am 25. Juli stieg der Verdacht einer Vergiftung in ihm auf, wurde immer stärker und veranlaßte ihn, am 1. August Dr. Ledain zuzuziehen, welcher ihm, nachdem er den Kranken sorgfältig untersucht hatte, fest ins Auge sah und sagte: »Ihr Patient ist vergiftet! Warum geben Sie mir solche Räthsel auf, da Sie die Auflösung kennen?« Ganne antwortete: »Sie argwöhnen nur, wovon ich
überzeugt bin.« Durch seine Amtsthätigkeit als Maire von Parthenay gehindert, konnte er erst am 6. August wiederkommen, fand den Kranken sehr viel schlechter und erhielt nun endlich die Ausleerungen desselben. Er ließ dieselben chemisch untersuchen und erfuhr zwei Tage später, daß sie ein mineralisches Gift enthielten. Tixier wurde immer elender und er berieth mit Dr. Ledain, was sie thun sollten. »Schweigen wir«, sagte er, »so wird man uns für Dummköpfe oder für Leute halten, deren
Stillschweigen erkauft ist.« Sie beschlossen, alles zu sagen. »Hätte ich nochmals einen Beschluß zu fassen, so würde es derselbe sein!« Sie benachrichtigten den Staatsanwalt und eröffneten dem Kranken geradezu: er sei vergiftet. Dieser dachte einige Augenblicke nach und sagte dann: »Das glaube ich nicht! Wer hätte ein Interesse, mich zu vergiften?« Charlot und Frau Tixier waren äußerst aufgebracht. Tags darauf, nach der Anwesenheit der Doctoren Chevallerault und Meynier, sagte die letztere zu
Dr. Ganne: »Mein Herr, nicht ich habe meinen Schwager vergiftet, sondern Sie mit Ihren Arzneien.« Er entgegnete: »Madame, Sie sind auf recht schlechtem Wege!« Gleich darauf bat sie ihn, diese Worte zu vergessen, sie habe völlig den Kopf verloren, weil sie den Gedanken nicht fassen könne, daß ihr Schwager vergiftet sein sollte. »Nehmen Sie mich in Schutz«, sagte sie, »ich sehe, daß man Verdacht gegen mich hat.« Er erwiderte: »Mein Gott, Madame, man hat keinen Verdacht gegen Sie, aber spielen Sie
nicht oft ähnliche Scenen, das würde Ihnen nicht vortheilhaft sein.«
Dr. Ganne nahm dann mit dem zweiundsiebzigjährigen Dr. Ledain auf Requisition des Gerichts die Leichenöffnung vor. Die Beschaffenheit des Gehirns, des Herzens und des Magens, welche so weit zerstört waren, daß sie ihre normalen Functionen nicht mehr verrichten konnten, sowie der Leber, der Milz und des Zwölffingerdarms bewiesen, daß Tixier weder am Magenkrebs noch an andern Krankheiten, sondern infolge der
Einbringung eines mineralischen Giftes in den Organismus gestorben war; die chemische Analyse der verschiedenen Körpertheile, an welcher sich außer beiden genannten Ärzten noch der Professor der Pharmacie Malapert und der Apotheker Prout aus Parthenay betheiligten, bewies eine allmähliche, periodische Vergiftung.
Auf Befragen des Staatsanwalts erklärt Dr. Ganne: »Ich habe erst seit dem 25. Juli entschieden an Vergiftung geglaubt. Nachher ist mir klar geworden, daß dem Verstorbenen
wahrscheinlich schon vor dem 16. etwas Schädliches beigebracht worden war, denn der Aufguß von China, den ich ihn trinken ließ, brannte ihm im Halse, was leicht erklärlich ist, da derselbe entzündet war, gewiß aber ist für mich, daß die Vergiftung vor dem 25. und möglich, daß sie zu Anfang Juli begonnen hat.«
Schließlich versichert er feierlich: daß die angeblichen Motive zur Feindseligkeit gegen Charlot erdichtet seien, daß er ihn nie gebeten habe, ihn zum Associé anzunehmen, daß die
Zinsen der 20000 Frs. durch eine Versäumniß des Notars der Familie und theilweise auch infolge der Verhaftung Charlots nicht bezahlt seien, daß er aber bereit sei, das Kapital zurückzuzahlen, daß er Tixier, der im Gegentheil sein Schuldner gewesen sei, nie um ein Darlehn ersucht und daß ihn bei der ganzen Angelegenheit nur strenges Pflichtgefühl geleitet habe.
Die Sachverständigen Malapert und Prout bestätigen, daß sie in den von ihnen untersuchten Körpertheilen Arsenik gefunden
haben, und der Apotheker Damenon, welcher die von Dr. Ganne für den Verstorbenen verschriebenen Arzneien angefertigt hat, versichert, daß sich darin nichts Schädliches befunden hat. Sodann wird die von dem Verstorbenen vor dem Untersuchungsrichter abgegebene Aussage verlesen. Darin erklärt er, daß er gewöhnlich an der Gicht gelitten habe, daß aber erst bei diesem letzten Anfall, welcher mehr als zwei Monate andauerte, das Wesen der Krankheit ein anderes und schwereres geworden sei; er habe
an Brennen in der Kehle und im Magen, an Diarrhöe und einem dumpfen Kopfschmerz gelitten. »Besonders abends, längere oder kürzere Zeit nach der letzten Mahlzeit, litt ich an Erbrechen. Welcher Ursache ich dieses Leiden zuschreiben soll, weiß ich nicht, doch glaube ich nicht, daß jemand ein Attentat gegen mein Leben gemacht hat. Ich habe an den Personen meiner Umgebung und besonders an denen, die mich pflegen, nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ich weiß, daß Dr. Ganne und Ledain mehreremal verlangt
haben, daß man ihnen meine Ausleerungen aufbewahre, und daß dies erst in den letzten Tagen geschehen ist, trotz ihrer wiederholten Aufforderung, glaube aber nicht, daß dies böswilligerweise unterlassen ist. Bis zur Stunde habe ich niemand weder durch Testament noch sonst wie etwas zugewendet. Nahrungsmittel und Arzneien haben bald Frau Tixier, bald Franziska zubereitet und mir gereicht.«
Zeuge Pierre Page hat bei Tixier gedient und in dessen Zimmer geschlafen, bis Johanni 1867, hat
aber nichts von Erbrechen bemerkt. Frau Tixier macht ihm bemerklich, daß er seit Mai 1867 nicht mehr das Schlafzimmer seines Herrn theilen durfte, weil er sich oft betrunken hatte. Er gibt dies zu und erinnert sich auch, daß Tixier bei der Gicht oft über Leibschmerzen und Blähungen geklagt hat.
Der Conditor Sulter aus Parthenay war am 14. und 18. Juli in La Meillerage. An beiden Tagen wurde gefischt. Am ersten Tage nahm Tixier, der sich an den Tisch hatte rollen lassen, am Diner mit
guter Laune und großem Appetit theil. Am 18. blieb er im Bett, war leidend, freute sich aber über die schönen Krebse, die gefangen waren. Frau Tixier gab ihm auf seinem Bett zu essen und zu trinken; sie schnitt ihm selbst die Bissen zu.
Zeuge Clisson, Jugendfreund der Gebrüder Tixier: Dr. Ganne und Tixier schätzten einander sehr. Dr. Ganne kam nicht so oft nach La Meillerage, als jener es wünschte:
Pächter Paindessault hörte am 10. August, wie
Charlot den Verstorbenen aufforderte, etwas Bouillon zu trinken. Tixier bat ihn, Herrn Prout aus Parthenay zu ersuchen, zu ihm zu kommen, und sagte: »Ich weiß nicht, was man mir verordnet, welches Gebräu man mich nehmen läßt, aber es zerreißt mir die Kehle und ich speie Blut danach.« – Er achtete und liebte seine Magd Franziska.
Joly, weitläufig mit dem Verstorbenen verwandt, behauptet, derselbe habe Charlot nie leiden können. Er hat nie gesagt, daß er seine Schwägerin
enterben würde, wenn sie wieder heirathete. Er war sehr zufrieden mit Franziska, und fürchtete nur, da sie einen Liebhaber hatte, er würde sie durch eine Heirath verlieren.
Hausbesitzer Gaby besuchte Tixier am 7. August und machte auch Frau Tixier seine Aufwartung. Sie war in sehr peinlicher Lage, da ihr Ganne den Zutritt zu ihrem Schwager mit den Worten verweigert hatte, ihre Stellung dürfe nicht die einer Krankenwärterin sein, und wenn sie darauf bestände, eine solche
vorzustellen, würde sie sich compromittiren. Der Zeuge, der ihre Beziehungen zu ihrem Schwager nur von der besten Seite gekannt hatte, sprach ihr seine Theilnahme aus. Tixier sagte auch zu ihm in Bezug auf die Doctoren Ganne und Ledain: »Haben die mich aber gestern gequält!« Zeuge bezog das auf die geistige Qual, die ihm die Reden und Fragen der Ärzte in Betreff einer Vergiftung verursacht hätten.
Zum Pachter Bireau sagte Tixier: »Ganne hat mir eine Arznei gegeben, die
mich umbringt.« Auf dessen Rath, einen andern Arzt zuzuziehen, entgegnete er: »Sie wissen ja, wie Ganne ist; er würde viel Lärm machen und nicht wieder herkommen.«
Joly, Maire von Beaulieu: Er kam, während Tixier im Todeskampfe lag, in die Küche. Frau Tixier war außer sich, daß man sie für eine Giftmischerin hielt. Franziska weinte. Erstere sagte: »Man sagt, ich hätte meinen Schwager vergiftet. Ich kenne keine Art von Gift, ich habe nie Arsenik gesehen!« Franziska sagte auch:
»Ich weiß wohl, daß es Gift gibt, welches man Arsenik nennt, aber ich habe nie welchen gesehen.« Er entgegnete: »Es gibt weißen uud rosa.« Im Krankenzimmer sagte er zu der Krankenwärterin: wenn der Kranke sterbe, so solle er so wie er sei, ohne Aenderung seines Anzugs, ins Bett gelegt werden.
»Wird man die Leiche nicht öffnen?« fragte mich Charlot. Ich antwortete: »Es gibt nur dies Eine Mittel, die Wahrheit zu ermitteln.« »Ach‹, fügte er hinzu, ›Dr. Morin hat uns gesagt,
er habe Krebs im Magen oder eine Geschwulst.«
Zeuge war bei der Leichenöffnung zugegen. Er und Charlot sahen, daß der Magen mit schwärzlichen Flecken übersäet war. »Herr Charlot fragte, was ich von dem allen dächte, und ob eine Vergiftung stattgefunden habe. ›Ja‹, antwortete ich, ›gewiß, ich bin davon überzeugt.‹«
Vertheidiger. Sie sind wol ein sehr tüchtiger Anatom, Herr Zeuge, daß der Anblick Eines Organs Sie überzeugt? Der Vorsitzende
ersucht ihn, sich nicht direct an den Zeugen zu wenden.
Vertheidiger. Nun Wohl, Herr Präsident, bitte, fragen Sie den Zeugen – halt – das heißt – nein, fragen Sie ihn nichts!
Es erscheint demnächst der Pfarrer von Beaulieu, Herr Faugon. Er besuchte Tixier am 24. Juli und rieth ihm gemeinschaftlich mit Frau Tixier, einen andern Arzt anzunehmen. Tixier entgegnete: »Später!« Am 1. August wiederholte er auf Frau Tixiers Bitten diesen Rath noch
dringender. Der Kranke entgegnete: »Ganne ist so heftig, er würde bis an die Decke springen, wenn er andere Ärzte hier fände.« Am 3. August bittet ihn Frau Tixier abermals, ihren Schwager doch zur Zuziehung anderer Ärzte behufs einer Consultation zu bewegen, und klagt über die falsche Sicherheit, in der Ganne den Kranken hinhalte. Dieser sagt, Ganne habe sich geirrt und ihm ein zu starkes Abführmittel gegeben. Am Tage der ersten gerichtlichen Vernehmung fällt Frau Tixier ihm zu Füßen und ruft:
»Beten Sie zu Gott, daß man die Schuldigen und Unschuldigen entdecke, Herr Pfarrer!« Dann wendete sie sich zu dem Kranken und sagte: »Sie, Schwager, solange Sie noch unter uns sind, sprechen Sie – rechtfertigen Sie mich! Halten Sie mich dessen für fähig, dessen man mich anklagt. Sie, der Sie so gut, der Sie ein Vater für mich gewesen sind?« »Nein«, entgegnete Tixier, »beruhigen Sie sich, die Sache wird keine Folgen haben.« Dann sagte er zum Pfarrer: »Dieser Bursche, der Ganne, hat mich in
diesen Zustand gebracht und nun kommt er noch mit seiner Justiz! Wenn ich aber durchkomme, soll er mir nicht wieder ins Haus!«
Vorsitzender. Wie kam es aber, daß Tixier zögerte, einen andern Arzt anzunehmen?
Zeuge. Es war nur die Furcht, die er vor Dr. Ganne hatte. Ich habe ihn zittern sehen, wenn Ganne mit ihm sprach.
Dr. Morin, welcher Magenkrebs angenommen hat, sagt: »Ich prüfte den Zustand des Patienten und sah wohl, daß er verloren
war. Seine Ausleerungen waren schwarz, und da so ausgezeichnete Ärzte, wie die Herren Ganne und Ledain, eine Vergiftung angenommen haben sollten, so war ich erstaunt, daß sie nicht versucht hatten, sie durch ein Gegengift und insbesondere durch schwefelsaures Eisenoxydhydrat zu bekämpfen, welches in den Fällen von Metallvergiftung, die schwarzes Erbrechen erzeugt, unfehlbar ist. Ich glaubte also, die Herren hätten keine Vergiftung angenommen, und ich entschied mich nach den Symptomen
für ein krebsartiges Leiden. Die Section hat ergeben, daß eine Magenverletzung das schwarze Erbrechen hervorgebracht hatte, ich hatte mich also nur theilweise getäuscht.«
In dem Bericht über die Leichenöffnung findet er Widersprüche und erklärt ferner:
»Ich glaube nicht an eine Vergiftung in kleinen Dosen, die schon vor dem 1. August begonnen hätte. Man würde dann in der Leber kleine Quantitäten Arsenik gefunden haben, und die faulige Masse derselben würde nicht von Würmern
gewimmelt haben; wenn arsenige Säure darin gewesen wäre, wäre jedes thierische Leben unmöglich gewesen. Eine Einsaugung des Giftes konnte auch nicht stattfinden, da die Schleimhäute des Magens ihren Dienst nicht mehr thaten. Ich glaube, daß der Tod infolge schon früher bestandener Magenleiden und einer am 1. August stattgehabten Arsenikvergiftung eingetreten ist.
Dr. Ganne erklärt zunächst: Auf die böswilligen Verdächtigungen, die Herr Morin gegen ihn ausgesprochen habe
und in denen das Lächerliche mit dem Gehässigen vermengt sei, werde er nicht antworten, da sie ihn nicht treffen könnten. Dann geht er auf den wissenschaftlichen Theil der Morinschen Auslassung über, bestreitet zunächst, daß Tixier an irgendwelcher krebsartigen Krankheit gelitten haben könne, da er hierzu zu corpulent gewesen sei und nicht die gelbe Gesichtsfarbe und das leichenhafte Aussehen aller Krebskranken gehabt habe, und fährt fort: »Was Gegengifte betrifft, so hätte man deren allerdings
dem Kranken beibringen können. Aber erstens darf man in den Magen von Kranken, die man für vergiftet hält, keine Substanzen einbringen, welche später die chemische Analyse beeinträchtigen können« – hier entsteht ein lange anhaltendes Murren unter der Zuhörerschaft – »und dann habe ich Herrn Tixier Eiweißwasser gegeben, welches ein kräftiges Gegengift und, nach Orfila und Devergier, besonders wirksam gegen Arsenik ist, wenn es auch Herr Morin nicht anerkennt.«
Er bleibt bei
seiner Behauptung, daß die Dosis Gift, die am 1. August gereicht worden, nicht allein genügt haben würde, den Tod herbeizuführen; sie habe nur stärker gewirkt, und das komme auch daher, daß der Magen durch das von ihm gereichte Abführmittel fähiger gemacht worden sei, schädliche oder unschädliche Stoffe zu absorbiren. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er nicht Arzneimittel bei sich zu führen pflege, erklärt er, es gebe gewisse Arzneien, die der Arzt, wenn er über Land fahre, stets bei sich
führe, Arsenik aber habe er nie bei sich, und habe in seiner dreißigjährigen Praxis nur einmal dieses Gift in einer Dose von 5 Centigrammen angewendet; der Kranke sei beinahe daran gestorben.
Dr. Morin bleibt dabei, Herr Ganne hätte schwefelsaures Esenoxydhydrat anwenden müssen, ohne an die chemische Analyse zu denken, denn die erste Pflicht des Arztes sei, den Kranken zu retten (Murmeln der Zustimmung), und wenn die Vergiftung schon vor dem 1. August begonnen hätte, so hätte man
den Arsenik nicht in unendlich kleiner Quantität, sondern centigrammenweise vorfinden müssen; auch hätten dann im Magen keine Würmer leben können. Herr Ganne entgegnet, diese Würmer seien noch Larven gewesen und es gebe Klassen von Würmern, welche sich im Gift vollkommen wohl befänden. Herr Malapert erklärt, für gewöhnlich lebten keine Würmer im Arsenik, aber die im Magen Tixiers gefundene Quantität Gift sei zu gering gewesen, um ihnen zu schaden.
Hiermit schließt die ärztliche
Debatte, welche jedenfalls ergeben hat, daß die gefundene Quantität Arsenik eine sehr unbedeutende war.
Es folgen mehrere Dienstboten aus La Meillerage. Louis Sabiron hat seit Ende Juni gewußt, daß Tixier an Erbrechen litt. Pelagie Moreau hat vor der ersten Ankunft der Frau Tixier von Franziska gehört, daß Tixier an heftigem Erbrechen gelitten habe. Dasselbe bekundet Jean Lafagerie. Gegen Alexander Petraud hat Dr. Ganne einmal geäußert, Tixier wolle keine Arznei nehmen, »so möge er
denn crepiren, zum Henker«! Dr. Ganne stellt dies in Abrede.
Dann wird die Erzieherin der Kinder von Frau Tixier, Fräulein Eugenie Lassalle, vorgerufen, und hält in gewählter, blumenreicher Sprache ihrer Principalin und dem alten Charlot eine begeisterte Lobrede; sodann erzählt sie die Vorgänge in La Meillerage in schon bekannter Weise. »Als die fremden Ärzte sich entfernt hatten, sagte Dr. Ganne zu Frau Tixier: ›Sie sind es, die den ganzen Lärm gemacht hat. Aber fürchten
Sie nichts, ich werde Ihnen heraushelfen.‹ Frau Tixier entgegnete: ›Ach, wenn Sie meine Unschuld an den Tag brächten, so hätte ich, glaube ich, den Muth, Sie zu umarmen!‹
Als ich eines Tages mit dem kranken Herrn Tixier allein war«, erzählt die Zeugin weiter, »wurde der Maire, Herr Joly, angemeldet. Ich sprach mein Erstaunen hierüber aus, da ich wußte, daß er mit Herrn Tixier sehr schlecht stand. Dieser sagte lächelnd: ›Vielleicht sind es Gewissensbisse, die
ihn herbringen.‹
Während der Krankheit verreiste Dr. Ganne einmal auf mehrere Tage nach Paris, um sich um einen Orden zu bewerben, den er, wie er sagte, für die Dienste, die er der Justiz geleistet, verdient habe.«
Als Frau Tixier verhaftet worden war, suchte Dr. Ganne die Erzieherin auf und fragte sie, nachdem er sie gebeten hatte, die Kinder fortzuschicken: »Was denken Sie von alledem?« »Was ich denke«, entgegnete sie; »daß ich nichts denken will.« »Tixier ist
vergiftet«, fuhr er fort, »ich weiß es, ich bin davon überzeugt.« »Ich glaube, daß Sie davon überzeugt sind!« »Haben Sie nie Frau Tixier und den alten Charlot hierüber sich verständigen hören?« »Nein.« »Parbleu, sie werden Sie nicht ins Vertrauen gezogen haben! Was denken Sie jetzt zu thun?« »Die Kinder zu beaufsichtigen.« Darauf erkundigte sich Dr. Ganne, wieviel Gehalt sie bekomme, that sehr erstaunt, daß es so gering sei, und fuhr fort: »Sie werden in Verlegenheit sein, wie Sie sich im
Verlauf dieser Angelegenheit benehmen sollen. Wenn ich Ihnen rathen soll, so schicken Sie alle Briefe, die Sie erhalten, an den Untersuchungsrichter – oder nein – halt – schicken Sie sie lieber mir, ich werde sie ihm schicken, das ist dasselbe!«
Zeugin hat sehr lange, stets in untadelhaftem Stil, mit unverwüstlicher Ruhe und niedergeschlagenen Augen, gesprochen. Der Vorsitzende macht sie darauf aufmerksam, daß sie Verschiedenes vorgebracht hat, was sie in der
Voruntersuchung verschwiegen hatte. Zeugin entgegnet, der Untersuchungsrichter habe ihr erklärt, sie mache zu viel Worte, man müsse abkürzen, was sie sage; was sie vom Orden sage, sei eine Albernheit, deren Fortlassung er verantworten wolle; übrigens müsse man dumm – sehr dumm – erzdumm sein, um so etwas zu erzählen.
Vorsitzender. Zeugin, Sie gehen zu weit. Es ist unmöglich, daß ein Beamter Ihnen dergleichen gesagt hat!
Staatsanwalt. Dabei haben
Sie andererseits Verschiedenes ausgelassen, was Sie früher gesagt haben. So haben Sie nicht von dem Project einer Heirath zwischen der Witwe Tixier und Martin Reau gesprochen!
Frau Tixier heftig: Aber das ist absurd!
Staatsanwalt. Zeugin, haben Sie früher hiervon gesprochen?
Zeugin. Ich habe gesagt, daß man im Publikum, nicht daß man im Charlotschen Hause von diesem Eheproject gesprochen hat.
Frau Tixier. Ja, im Publikum, da
mag man so etwas gesagt haben, aber nie im Hause meines Vaters.
Die bisher vernommenen Zeugen waren als Belastungszeugen aufgeführt. Es folgen verschiedene Entlastungszeugen. Alle sprechen mit höchster Anerkennung von Charlot.
Herr Monnier weiß, daß Tixier den Maire Joly als seinen Feind betrachtete; Fräulein Lassalle hat sich bald nach ihrer Vernehmung bei ihm über den Untersuchungsrichter beklagt, der nicht alles aufgenommen, was sie angeführt habe. Auf
seine Bemerkung: dann hätte sie nicht unterzeichnen sollen, entgegnete sie: »Was wollen Sie; ich bin Frau, ich verstehe nichts davon, ich fürchtete, Frau Tixier und ihren Vater zu compromittiren, endlich hatte ich den Kopf verloren!«
Der Notar Allard kennt Charlot seit vielen Jahren als höchst ehrenwerth. Sein Grundsatz in Geschäften war: Lügen heißt Stehlen! Vor zwei Jahren hat Charlot dem Zeugen erzählt, daß Ganne ihm eine Geschäftsverbindung vorgeschlagen habe.
Ganne versichert, nur einmal im Scherz etwas Ähnliches gesagt zu haben. Charlot wiederholt seine frühere Behauptung.
Auch davon hat Charlot Herrn Allard erzählt, daß Ganne den verstorbenen Tixier um ein Darlehn von 30000 Frs. ersucht, und daß dieser es auf seinen Rath verweigert habe. Ganne stellt dies wieder feierlichst in Abrede und erbietet sich, sofort die Bilanz seines Vermögens zu ziehen, dann werde man sehen, daß er, Gott sei Dank, kein Darlehn brauche.
Eine große
Menge von Pächtern, kleinen Grundbesitzern, Kaufleuten und Gewerbtreibenden geben Herrn Charlot das Zeugniß, daß sie ihn stets als Ehrenmann erfunden haben. Die Witwe seines frühern Compagnons, Madame Violleau, hatte von ihrem Ehemann das Miteigenthum von Grundstücken ererbt, die dieser gemeinschaftlich mit Charlot gekauft hatte. Sie wollte ihren Antheil an Charlot verkaufen. Charlot rieth ihr, damit noch zu warten, die Güter würden im Preise steigen, was auch wirklich geschah. Der Pfarrer
Catineau zu La Ferrière hat Frau Tixier seit ihrer Verheirathung als eine Würdige Frau gekannt, die den Verlust ihres Gatten aufs tiefste und aufrichtigste beklagt hat und noch beklagt; er hat bestimmte Beweise dafür, daß sie weit entfernt ist, geldgierig zu sein, wie man ihr nachsagt. Gutsbesitzer Denipeau bekundet, daß Dr. Ganne nach Tixiers Tode zu ihm gesagt hat: »Ja, Tixier ist todt; morgen wird man ihm die Gedärme in die Sonne legen!«
Am wichtigsten ist die Aussage des
Pachters Paseau, dem Tixier gegen Ende Juni, eine Woche vor der Ankunft der Frau Tixier, geklagt hat: er leide sehr, er habe Gift im Leibe, Dr. Ganne habe ihm eine Arznei gegeben, die ihn verbrenne, er weiß bestimmt, daß Tixier schon damals an Erbrechen gelitten hat; am 5. Juli hat letzterer sich in ähnlicher Weise gegen den Schweinschneider Adrien über die ihm von Ganne gegebene Arznei beklagt.
Dies waren die Ergebnisse der langen Verhandlungen, denen ein vierstündiger Vortrag des
Staatsanwalts folgte. Wir wollen in dessen Einzelheiten nicht eingehen; er bildet eine ausführlichere Wiedergabe dessen, was die Anklage behauptet, aber, der Herr Staatsanwalt möge uns verzeihen, nicht erwiesen hat. Denn erwiesen scheint zwar, daß Tixier an einer, ob langsamen, ob einmaligen, Arsenikvergiftung gestorben ist. Aber nicht erwiesen ist, daß deren Symptome, das Erbrechen und das Brennen im Leibe, erst nach Ankunft der Frau Tixier begonnen haben, vielmehr sind die direct
entgegenstehenden Aussagen einzelner Zeugen nicht widerlegt; nicht erwiesen ist, daß Frau Tixier mit Heirathsgedanken umging, mag auch im Publikum, wie wol bei jeder reichen, jungen Witwe, darüber gesprochen worden sein; nicht erwiesen, daß Tixier für diesen Fall irgendetwas zum Nachtheile seiner Schwägerin oder seiner Nichten verfügt haben würde; erwiesen ist, daß Frau Tixier andere Aerzte zugezogen wünschte, ehe Dr. Ganne eine Vergiftung geargwöhnt hatte, erwiesen endlich, daß sie im
besten Rufe stand und nicht habgierig war. Freilich bleibt der Umstand, daß sie leugnet, ihrem Schwager Arznei und Bouillon gereicht zu haben, verdächtig, aber er steht ihr auch fast allein belastend entgegen.
Dessenungeachtet hielt der Staatsanwalt die Anklage gegen sie aufrecht, während er die gegen Charlot und Franziska Richard fallen ließ. Wir heben aus seinem langen und beredten Vortrage nur hervor, daß er rühmend erwähnt, welche Verdienste sich Dr. Ganne seit 20 Jahren um die
Criminaljustiz erworben hat, und sein Verfahren im vorliegenden Falle des höchsten Lobes würdig findet; »man muß ihm danken für diese edle Festigkeit, und ich stehe nicht an, dies im Namen der Gesellschaft zu thun und ihm zuzurufen: Herr Ganne, ich wünsche Ihnen Glück und ich danke Ihnen!«
Die Vertheidigung hatte leichtes Spiel. Der Vertheidiger der Frau Tixier, Herr Lachaud, behauptet gleich zu Anfang seiner Rede, der Herr Staatsanwalt sei jedenfalls der einzige, der noch an die
Schuld der Angeklagten glaube; die Anklage sage, Herr Tixier sei vergiftet worden, er, der Vertheidiger, wisse es nicht und es sei nicht seine Sache, es zu beweisen, denn er sei nicht Staatsanwalt und tröste sich darüber; übrigens sei es ihm gleichgültig, möge es nun in kleinen Dosen oder in einer großen geschehen sein, keinenfalls sei seine Clientin die Thäterin. Denn nehme man Vergiftung durch fortgesetzte kleine Dosen an, so habe sie jedenfalls begonnen, ehe Frau Tixier am 2. Juli nach La
Meillerage kam; glaube man dagegen an eine Vergiftung in einer starken Dose, so solle man sich nur die Scenen des 1. August ins Gedächtniß zurückrufen.
»Aber wenn es nun die von Herrn Ganne gegebene Arznei gewesen wäre, die alles Unheil gestiftet hat? –
Gibt man zu, daß eine Vergiftung feststand, so gab es schwefelsaures Eisenoxydhydrat, ein kräftiges Gegengift, und man hätte es anwenden können. Aber da haben Sie von Herrn Ganne jenes unvergängliche Wort gehört,
welches er gewiß lieber nicht ausgesprochen haben möchte: ›Man darf keine Stoffe anwenden, die die chemische Analyse beeinträchtigen könnten!‹ Nein, Herr Ganne, Sie haben nicht an Vergiftung geglaubt! Sie haben nicht daran geglaubt, denn nach Ihrer Consultation mit Ledain haben Sie sechs Tage verstreichen lassen, ohne den Kranken zu besuchen. Ich weiß, daß Sie mit den Wahlen beschäftigt waren. Aber vor der Politik verlangt die Menschlichkeit ihr Recht. Seien Sie Maire, wenn Sie
wollen, aber dann seien Sie nicht mehr Arzt! Erfüllen Sie Ihre politischen Pflichten, aber, um Gottes willen, lassen Sie dann den Unglücklichen, die Sie erwarten, die Möglichkeit, andere Ärzte an ihr Schmerzenslager zu rufen!«
Herr Ganne hat noch eine Reihe ähnlicher und, wir müssen zugeben, nicht ganz unverdienter Angriffe zu erdulden; dann geht der Vertheidiger auf die der Frau Tixier untergelegten Motive zur That über:
»Ja, sagt der Herr Staatsanwalt, sie wollte sich
verheirathen! Und der Herr Staatsanwalt hat ihr eine recht passende Partie ausgesucht, Martin Reau. Davon kann wol nicht im Ernst die Rede sein. Reau war ein häßlicher Bauer, zum zweiten mal Witwer und besaß 150000 Frs., von denen die Hälfte seinen Kindern gehörte. Er war als Giftmischer verurtheilt und gewiß nicht verführerisch.«
Zum Schlusse seiner dreistündigen Rede läßt sich Herr Lachaud von tiefer Rührung über die unschuldigen Kinder der Frau Tixier ergreifen, welche nach
seiner Schilderung sorglos spielen, das schreckliche Schicksal ihrer Mutter nicht ahnend. (Schluchzen und lärmende, unwillkürliche Beifallsrufe unter den Zuhörern.) – Frau Tixier stößt einen Schrei aus und verfällt in Nervenzuckungen. Der Vorsitzende wird zornig: »Diese Beifallsbezeigungen sind unanständig. Man schadet der Angeklagten, indem man so einen Druck auf die Geschworenen ausüben will! Seit 30 Jahren habe ich den Vorsitz, aber solchen Skandal habe ich nie erlebt. Wenn er sich
wiederholt, werde ich den Saal räumen lassen!« Frau Tixier wird ohnmächtig – Lachaud will sie aufheben – Charlot kommt ihm zuvor und trägt sie, von Gensdarmen umgeben, aus dem Saal. Die Sitzung wird auf eine Stunde ausgesetzt; niemand verläßt seinen Platz; der Wiedereintritt der Frau Tixier, nachdem die Sitzung wieder eröffnet ist, veranlaßt eine allgemeine Bewegung. Der Vorsitzende ertheilt Herrn Ricard, dem Vertheidiger der beiden Mitangeklagten, das Wort. Er erklärt, die Replik
des Staatsanwalts abwarten zu wollen. Dieser behauptet, alles, was von der Vertheidigung vorgebracht sei, schon im voraus beantwortet zu haben, und will »die wohlwollende Aufmerksamkeit, die ihm die Herren Geschworenen geschenkt haben, nicht noch einmal unnütz auf die Probe stellen«. »Dann«, sagt Herr Ricard, »ist alles zu Ende. Es bleibt nichts mehr zu thun, als daß Sie, meine Herren Geschworenen, sich in Ihr Berathungszimmer begeben und gegenüber einer Anklage, die sich nicht mehr
vertheidigt, die sich für ohnmächtig erklärt, ein freisprechendes Verdict abgeben. Das ist es, was alle Welt von Ihnen erwartet.«
Nach einem halbstündigen Résumé des Vorsitzenden und nach ganz kurzer Berathung sprechen die Geschworenen alle Angeklagten frei.
Sie konnten nicht anders. Aber der Tod des Herrn Tixier ist nicht gesühnt. Haben die Geschworenen dennoch geirrt? Hat Herr Ganne im Interesse der Wissenschaft einen fehlgeschlagenen Heilungsversuch an seinem
unglücklichen Patienten vorgenommen? Hat eine fremde Hand verbrecherisch in das Leben des allgemein beliebten Mannes eingegriffen? – wir wissen es nicht, wir können nicht einmal Vermuthungen hinstellen, die wir doch nicht zu begründen vermöchten, aber wir denken unwillkürlich der bescheidenen Türken, die nicht wie wir unter ihre Urtel ein stolzes »Von Rechts wegen!« setzen, sondern die demüthigen, aber wahren Worte: »Allah weiß es besser!«
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