Frei Lesen: Der neue Pitaval - Neue Serie, Band 4

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Kapitelübersicht

Vorwort. | Der Buchbindermeister Ferdinand Wittmann | Criminalistische Miscellen aus Nürnbergs Vergangenheit. | Die Fenier-Verschwörung. | Timm Thode, der Mörder seiner Familie. | Der Bootsmann Paulino Torio aus San-Tomas. | Miles Weatherhill. | Der Wildschütz Hermann Klostermann. | Die Selbstanzeige der Witwe Kruschwitz in Gassen. | Der Tod des Rentier Peter Tixier. |

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Willibald Alexis

Der neue Pitaval - Neue Serie, Band 4

Der Buchbindermeister Ferdinand Wittmann

eingestellt: 8.7.2007



Ende October 1865 zog der Buchbindermeister Wittmann von Wollin nach Posen. In Wollin hatte er seine Buchbinderei nebst allen Werkzeugen verkauft, und in Posen machte er keinerlei Anstalt, ein neues Geschäft zu begründen, trat vielmehr als Rentier auf und ließ sich als solcher auch bei der Polizeidirection anmelden. Seine Wohnung miethete er in der geschäftsstillen, von Rentiers und Beamten sehr gesuchten Berliner Straße und zwar für jährlich 320 Thlr., kaufte zur Einrichtung seiner Zimmer für mehr als 500 Thlr. Möbel und lebte so, daß man ihn für einen sehr bemittelten Mann halten mußte. Er gab Gesellschaften, besuchte fast täglich die öffentlichen Locale und reiste zu seinem Vergnügen in ziemlich weite Ferne. Oft hörte man ihn klagen, daß er in Wollin kein Familienglück gehabt habe, und in der That waren ihm dort drei Frauen und ein Kind aus der ersten Ehe gestorben. Kurz vor seinem Wegzuge aus Wollin hatte er sich zum vierten male verheirathet, aber auch diese Ehe sollte traurig beginnen, denn fünf Tage nach ihrer Einsegnung war sein Stiefkind, ein liebliches Mädchen von fast zwei Jahren, welches ihm von seiner vierten Frau aus deren früherer Ehe zugebracht war, gestorben. Mit großer Zärtlichkeit hatte er das kranke Kind gepflegt, und auch von der Leiche mochte er sich nicht trennen. Er nahm den kleinen Sarg mit nach Posen und ließ ihn daselbst auf dem evangelischen Kirchhofe beisetzen. Selten verging ein Tag, ohne daß er mit seiner Gattin das Grab des Kindes besuchte. Aus seinen frühern Ehen hatte Wittmann nur einen dreijährigen Knaben am Leben behalten, Mitte Juli 1866 wurde ihm jedoch von seiner Ehefrau ein Töchterchen geboren.

Um diese Zeit lief von der Polizeiverwaltung zu Wollin unter der Ueberschrift »zu secretiren« bei der Polizeidirection zu Posen ein Schreiben ein, durch welches die Aufmerksamkeit der letztern auf Wittmann gelenkt wurde. In Wollin war schon längst die große Zahl von Todesfällen in der Wittmannschen Familie und der rapide Verlauf der Krankheiten auffällig gewesen, man hatte den Bürgermeister der Stadt um Einleitung einer Untersuchung gebeten; der betagte Vorsteher der Stadtgemeinde hatte jedoch den Verdacht nicht ausreichend gefunden, um dem competenten Staatsanwalt zu Kammin eine Anzeige zu machen. Jetzt war ein Wechsel im Amt eingetreten, der neue Bürgermeister, ein junger energischer Mann, ließ sich von den Verdachtsgründen unterrichten, und als sich in Wollin das Gerücht verbreitete, auch die vierte Frau des Wittmann sei kürzlich mit Tode abgegangen, setzte er die königliche Polizeidirection in Posen davon mit dem Zusätze in Kenntniß, alle diese Todesfälle seien um so bedenklicher, weil Wittmann von jeder seiner Ehefrauen erhebliche Vermögensobjecte durch Erbschaft erlangt habe. In Posen ward der Polizeicommissarius des betreffenden Reviers mit den discret vorzunehmenden Recherchen beauftragt; derselbe begab sich unter dem Vorwande einer Nachfrage in Klassensteuerangelegenheiten in die Wittmannsche Wohnung, fragte nach dem Ergehen der Wöchnerin, von deren Entbindung ihm amtlich Mittheilung zugegangen war, und erhielt die Antwort, daß es der Frau Wittmann recht gut gehe. Der Beamte beruhigte sich bei dieser Antwort, denn er hörte die Bestätigung aus dem Munde der Todtgeglaubten selbst, die sich im Nebenzimmer singend mit ihrem Töchterchen beschäftigte.

Am 19. September 1866 wurde demselben Beamten der Tod der Frau Wittmann polizeilich mit dem Bemerken, daß sie am 18. September an der Cholera gestorben sei, und mit der Bitte von dem Rentier Wittmann angezeigt, zur Vermeidung von Ansteckung die Beerdigung der Leiche schon für den 19. September zu gestatten. Sogleich erinnerte sich der Polizeibeamte des früher gegen Wittmann erhobenen Verdachts, er fragte nach den Einzelheiten des traurigen Ereignisses, und Wittmann erzählte unter vielen Thränen, daß die Verstorbene nur einen Tag krank gelegen habe und daß alle Pflege und Bemühung des Arztes umsonst gewesen. Er überreichte dabei ein von einem praktischen Arzte, dessen Namen wir wol verschweigen dürfen, ausgestelltes Attest, wonach die Frau Wittmann an der Cholera verstorben sein sollte.

Die Cholera trat im Juli und im August 1866 in der Stadt Posen sehr heftig auf. Hunderte von Menschen wurden von der bösen Krankheit hinweggerafft, und scheu mied man das Haus, welches eine Choleraleiche beherbergte. Im September hatte die Epidemie allerdings nachgelassen, aber es wurde täglich doch noch eine Reihe von Todesfällen gemeldet, das Gesuch des Witwers erschien daher wohlbegründet, und für die Zweckmäßigkeit der frühzeitigen Beerdigung fiel noch ein zweiter Erwägungsgrund ins Gewicht: An dem Tage der Meldung sollte in der Stadt Posen ein Fest gefeiert werden, ein Fest, das wie kein anderes einen Widerhall in den Herzen der Bewohner fand. An der Spitze des 5. Armeecorps sollte der ruhmgekrönte Sieger von Nachod, Skalitz und Schweinschädel, der commandirende General Steinmetz, seine siegreichen Truppen in die Stadt Posen führen, und hierbei mußte gerade die Berliner Straße passirt werden. Wenn auch mancher in den Reihen fehlte, der auf blutiger Walstatt gefallen, oder im fremden Lande der Seuche erlegen war, und wenn auch manches Herz fühlte, daß dieser Krieg ihm theuer zu stehen gekommen und das Liebste, was es befaß, gefordert hatte, so überwog doch die eine große, gemeinsame Empfindung des Dankes und der Begeisterung für Führer und Truppen, welche mit verhältnißmäßig kleinen Opfern so Gewaltiges vollendet hatten!

Schon vor der polizeilichen Meldung hatte Wittmann sorglich alle Vorbereitungen zu der schleunigen Beerdigung in Gemeinschaft mit dem ihm bekannten Tapezierer Weimann getroffen, der ihn an dem Todestage aufgesucht, die Nacht bei ihm geschlafen hatte und ihn nun auf seinen Gängen begleitete. Er zeigte beim Prediger Herwig den Tod seiner Frau an, bestellte die Leichenwäscherin, kaufte einen gelblackirten Sarg mit Beschlägen für 16 Thlr., erwarb, als es ihm nicht gelang, neben dem Grabe seines Stiefkindes einen Platz zu bekommen, einen andern und ließ sich sogleich vom Pastor Schönborn die Erlaubniß der Translocation der Leiche des Kindes ausstellen. Am 19. September mittags um 1 Uhr wurde der Sarg gebracht, Wittmann legte seine von der Leichenwäscherin Wolf angezogene Frau mit Hülfe der letztern in den Sarg, weinte und küßte die Todte mehreremal. Seitens der Polizei war man indessen nicht unthätig gewesen. Man erfuhr, daß ein Arzt bei der Krankheit der Frau Wittmann gar nicht zugezogen worden war, daß Wittmann auch die Hülfe seiner Hausgenossen nicht in Anspruch genommen, daß er ihnen im Gegentheil von der schweren Erkrankung erst dann Mittheilung gemacht hatte, als die Leidende bereits bewußtlos war. Man hörte, daß viele Hände im Hause bereit gewesen wären, der Frau Wittmann beizustehen, wenn man nur eine Ahnung von ihrem Zustande gehabt hätte. Entscheidend war endlich eine Aeußerung der Leichenwäscherin Wolf, welche offen erklärte:

»Ich habe viele Choleraleichen gewaschen, aber die Leiche der Wittmann kommt mir doch ganz sonderbar vor, die kann unmöglich an der Cholera gestorben sein.«


Nach diesen Ermittelungen war es dem Polizeipräsidenten von Bärensprung nicht mehr zweifelhaft, daß das Begräbniß zu inhibiren und daß in dem Wittmannschen Hause nunmehr eingehende Nachforschungen nach den Spuren des anscheinend begangenen Verbrechens anzustellen seien. Damit der Angeschuldigte das nicht vereitelte, wurde er unter dem Vorgeben, über die Beerdigung sei noch eine polizeiliche Rücksprache erforderlich, zur Polizeidirection geführt und dort einstweilen in Haft genommen. Als die Polizeibeamten in seine Wohnung kommen, finden sie den Leichenwagen schon vor der Thür und den Geistlichen anwesend. Sogleich wird die Beerdigung als inhibirt erklärt und die ganze Wohnung versiegelt. Am andern Tage nimmt man eine genaue Durchsuchung der Wohnung vor und findet in ihrem äußersten Winkel, in einer Art von Vorrathskammer, eine verschlossene Kiste aus Kiefernholz. Der Schlüssel dazu fehlt und ist, wie sich später herausstellt, in Wittmanns Besitz. Durch einen herbeigerufenen Schlosser wird die Kiste geöffnet; ihr Inhalt besteht aus Briefschaften, Rechnungen, allerlei andern Papieren, Fläschchen und einer Schachtel mit Vergoldungspulver. Neben und unter diesen Gegenständen liegt sorgfältig in Papier gewickelt ein Stück weißer porzellanartiger Masse, von der Größe einer Kinderfaust, welche der Polizeisergeant Schuster zum Munde führt, um ein Stück abzubeißen und sich durch den Geschmack zu überzeugen, was es ist. Besorgt springt jedoch der Polizeiinspector Eitelt hinzu, verhindert ihn daran und schafft dieses Stück zum Apotheker, welcher nach der chemischen Untersuchung dasselbe als arsenige Säure oder sogenannten weißen Arsenik erkennt und die Masse für groß genug erklärt, um Hunderte von Menschen zu vergiften. An dem Stück Arsenik war, wie man deutlich sah, gekratzt und geschabt. So war denn das erste, schwere, handgreifliche Belastungsmoment gefunden und dem dunkeln Verdacht die erste sichere Grundlage gegeben. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde die Section der verstorbenen Frau Wittmann vorgenommen.

Die Erscheinungen bei Choleraleichen unmittelbar nach Eintritt des Todes: auffallend lange Körperwärme, Contraction einzelner Muskeln, vermöge welcher die Extremitäten oft mehrere Stunden nach dem Tode ihre Stellung verändern, sowie die höchst charakteristische Stellung der Extremitäten – hatten hier nicht beobachtet werden können, weil der Todesfall erst am nächsten Tage polizeilich angemeldet worden war. Dagegen fehlten andere charakteristische Merkmale, die sich auch jetzt noch hätten zeigen müssen. Bei Personen, die an der Cholera gestorben sind, pflegt das Gesicht so entstellt zu sein, daß man es kaum wiedererkennt; die Augen sind in ihre von breiten blauen Ringen umgebenen Höhlen tief eingesunken und die Augenlider halb geschlossen; die Nase ist spitz und ragt weit über die Wangen hervor; Fett und alles Zellgewebe in der Umgegend der Muskeln ist völlig geschwunden; die Lippen und Nägel an Händen und Füßen sind dunkelblau, überhaupt ist ein großer Theil der übrigen Körperoberfläche deutlich cyanotisch; die Lungen zeigen einen schnellen und vollständigen Collapsus und eine trockene Beschaffenheit; die schlaffen und schwappenden Dünndarmschlingen haben ein eigenthümliches rosenrothes Aussehen. Eine den Reiswasserstühlen der Cholerakranken ähnliche ungefärbte, mit weißen Flecken gemischte Flüssigkeit findet sich in großen Mengen. Das wichtigste Kennzeichen ist die massenhafte Abstoßung der Schleimhautepithelien, welche der Darmwand unter der Form von schleimigen Fetzen anliegen, oder als jene weißlichen Flecken in dem Transsudate schwimmen.

An der Leiche der Frau Wittmann machte man dagegen folgende Wahrnehmungen: guter Ernährungszustand, kein auffälliger Collapsus der Weichtheile und kein Schwinden des Fettes. Die Augen der Leiche waren geschlossen, Lippen und Zahnfleisch sehr bleich und nirgends cyanotische Färbung, die Lungen waren schwammig und lufthaltig, die Außenfläche der Därme und des Magens hatte eine bleiche Färbung. Weiter war der Magen mit einer ziemlich dünnflüssigen gelbgrünen Masse gefüllt, seine Innenfläche mit einem dicken grünlich-gelben zäh anhaftenden Schleime bedeckt, und die Schleimhaut des Magens in ihrer ganzen Ausdehnung verdickt.

Aus diesem Befunde ergab sich also das Gegentheil von allen vorzüglichen und charakteristischen Erscheinungen der Choleraleichen. Nur in einer Beziehung waltete eine gewisse Aehnlichkeit ob: die Schleimhaut des Darmrohres war aufgelockert, geschwollen und mit blutigen Ekchymosen versehen, und auch bei der Cholera kommen ödematöse Durchtränkungen der geschwollenen und aufgelockerten Darmschleimhaut und nicht selten Blutaustretungen in das Gewebe und auf die freie Fläche der Schleimhaut verbunden mit zahlreichen Ekchhmosirungen vor. Allein der Sitz dieser Erscheinungen sind bei der Cholera die tiefern Theile des Dünndarmes, in der Leiche der Frau Wittmann waren dagegen der Magen und der Zwölffingerdarm der Hauptherd. Bei der Section zeigte sich auch, daß diese Entzündungserscheinungen sich nach unten verminderten, während bei den Choleraleichen gerade von dem Dünndarm an gerechnet eine Verringerung der Krankheitserscheinungen auch nach oben wahrgenommen wird.

Hiernach mußte von den Gerichtsärzten das Gutachten dahin abgegeben werden, daß die Frau Wittmann unmöglich an der Cholera gestorben sein könne, dagegen waren dieselben nicht im Stande, aus den Resultaten der Section allein die Todesursache zu erkennen, dazu war eine chemische Analyse erforderlich. Es wurden der Schlund, der Magen, der Zwölffingerdarm, die Dünndärme, die Dickdärme und ein Stück Leber in verschiedene vorher sorgfältig gereinigte Glaskrausen gethan und versiegelt dem Medicinalassessor Reimann zu Posen übergeben.

Der Sachverständige fand im Magen, im Dünndarm, im Dickdarm und in der Leber Arsenik vor. Das Quantum des Schwefelarseniks, welches bei der Analyse des dazu verwendeten Magenstücks von dem Chemiker ermittelt wurde, betrug fast 2 Gran und war einem Quantum von 1½ Gran arseniger Säure oder weißen Arseniks gleich. Da zur Analyse nur der sechste Theil des Magens genommen war, müssen in dem ganzen Magen etwa 9 Gran Arsenik gewesen sein, und da ein Theil des den Körper zugeführt gewesenen Giftes durch Erbrechen und Laxiren bei Lebzeiten ausgestoßen war, ein anderer Theil aber in andere Verdauungsorgane und ein fernerer durch Säfteumlauf sich im ganzen Körper verbreitet hatte, mußte die Verstorbene eine sehr große Quantität Arsenik genossen haben.

Außer diesem Resultat der chemischen Untersuchung und außer den vorerwähnten Wahrnehmungen bei der Obduction war für die Gerichtsärzte bei ihrer Begutachtung noch maßgebend, daß sich bei der Aufschneidung der Leiche ein eigenthümlicher widerlich-süßlicher Geruch bemerkbar gemacht hatte und daß an den innern Häuten des Verdauungsapparats, insbesondere des Magens Anschwellung der Schleimhaut, Blutaustritt, Ekchymosirung und Geschwürbildung vorhanden waren, welche aus der Einwirkung heftig reizender corrodirender Stoffe erklärt werden mußten. Alle diese Beobachtungen gewannen durch die Auffindung des Arsens ihre ungezwungene Erklärung und sonach mußten die Aerzte gutachtlich sich dahin aussprechen:

daß der durch die chemische Analyse in dem Körper der Frau Wittmann vorgefundene weiße Arsenik mit dem Tode derselben in Verbindung stehe wie Ursache und Wirkung.

Weiter war den ärztlichen Sachverständigen die Frage vorgelegt worden:

auf welchem Wege dem Körper der Frau Wittmann das Gift zugeführt sei? und wie lange vor dem Tode es geschehen sein müsse?

Die Gerichtsärzte führten bei der Beantwortung dieser Fragen Folgendes aus:

»Die sogenannte acute Arsenikvergiftung, um welche es sich hier nur handelt, äußert sich entweder

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