Willibald Alexis
Der neue Pitaval - Neue Serie, Band 9
Anna Böckler.
eingestellt: 16.8.2007
Es ist noch in unser aller frischester Erinnerung, daß in der zweiten Hälfte des Jahres 1872 die Kunde durch die Zeitungen lief: am 24. Juni sei das 4½jährige Töchterchen des Domänenpachters Böckler, Anna, von dem Gehöfte ihres Vaters in Treuen bei Loitz, Kreis Grimmen (Neuvorpommern) durch Zigeuner geraubt worden. Fast ein ganzes Jahr lang brachten die öffentlichen Blätter die verschiedenartigsten Nachrichten, Vermuthungen, Rathschläge und Prämienausbietungen
bezüglich der Wiederauffindung des geraubten Kindes. Eine förmliche Hetzjagd ward hinter den Zigeunern her eröffnet, mehr als ein halbes Hundert von ihnen wurde verhaftet und wochen-, ja monatelang in Haft behalten. Sogar die Landesvertretung befaßte sich mit der traurigen Angelegenheit. Nach und nach aber flossen die Nachrichten über das Kind immer spärlicher, die Hoffnung, es wiederzuerlangen, schwand immer mehr, das Verfahren gegen die Zigeuner mußte endlich eingestellt werden.
Das
in seinen heiligsten Gefühlen verletzte, in seinen werthvollsten Gütern sich bedroht fühlende Publikum staunte über das grauenhafte Räthsel, daß es trotz aller Anstrengung unsers so vorzüglich organisirten Staates, trotz der bereitesten Hilfe sogar der Nachbarstaaten, trotz der Mitthätigkeit aller Privaten einer ärmlichen, halb rechtlosen Schar von Landstreichern gelungen war, das scheußliche Verbrechen des Menschenraubes mit Erfolg ins Werk zu setzen und sich der Strafe zu entziehen!
Nicht geringeres Staunen aber erregte sodann im Sommer 1873 wiederum die neue Nachricht, daß das so lange in den weitesten Fernen vergeblich gesuchte Kind – als Leiche zufällig aufgefunden worden sei in einer Scheune des väterlichen Gutes, nur 45 Fuß von dem Vaterhause entfernt! Und als darauf die deshalb gegen den Dienstjungen Fritz Schütt wegen Mordes geführte Untersuchung gar noch ergab, daß das Kind schon an dem Tage seines Verschwindens ermordet und die Leiche sofort dort, wo
sie gefunden wurde, vergraben worden sei, das ganze Verfahren gegen die Zigeuner also auf nichts beruht hatte als auf einem kaum begreiflichen Irrthum: – da mußte man billig fragen, wie ist es möglich gewesen, daß nicht nur die unglücklichen und doch immer noch hoffenden Aeltern, denen man einen solchen Irrthum vielleicht eher verzeihen möchte, und nicht blos das wenig prüfende Publikum, sondern auch die gesammten Staatsbehörden, Gerichte und Polizei, Staatsanwaltschaft und innere
Verwaltung, die Ministerien sogar und die Diplomatie sich einlassen konnten auf eine solche wilde Jagd nach einem – Phantasiegebilde! Können die Personen und Behörden, die mit so ungewöhnlichen Mitteln eine so lächerliche Schattenjagd in Scene setzten, können sie dem Vorwurfe einer groben Selbsttäuschung, einer unverantwortlichen Voreingenommenheit entgehen?
Eine Apologie der in der Sache thätig gewesenen Beamten ist nicht der Zweck der gegenwärtigen Schrift. Vielleicht wird
sie nebenbei auch diesen Erfolg haben. Hervorgegangen ist dieselbe aus dem Gedanken, daß das Publikum den Gang dieser Untersuchung, die von der ganzen gebildeten Welt mit so ungewöhnlicher Theilnahme verfolgt worden ist, in allen seinen Einzelheiten kennen lernen muß. Zwar ist das Schlußdrama öffentlich verhandelt und das Resultat der Hauptverhandlung gegen Schütt durch die Presse in weite Kreise getragen worden. Allein was bisjetzt noch gar nicht, oder doch nur sehr unvollkommen in die
Oeffentlichkeit hat dringen können, das ist die Vorgeschichte dieser Untersuchung, das sind die Nachforschungen nach dem, wie man damals annahm, geraubten Kinde. Natürlich! Solange die Nachforschungen noch nach dieser Richtung hin fortgesetzt wurden, durfte amtlich davon nichts verlauten, um die Nachforschungen nicht selbst zu schädigen, – und als die Untersuchung sich nach der andern Richtung hinwandte, verloren nunmehr jene Nachforschungen von selbst ihre materielle Bedeutung und kamen
in den Verhandlungen nicht weiter vor. Es darf aber das dort zusammengetragene Material in den Acten nicht vergraben bleiben. Es hat die Wissenschaft ein Recht auf die daraus zu erhoffenden neuen Erfahrungen, und das Publikum hat ein Recht auf die Lösung des vor seinen Augen stehenden Räthsels, und endlich – diejenigen Personen, welche mit Aufbietung aller ihrer Kraft, mit Dahingehen ungemessener Geldopfer, mit den größten Aufregungen des Gemüths bei der Sache betheiligt waren, haben ein
Recht darauf, daß das Publikum in den Stand gesetzt werde, über ihr verkehrtes Thun und Mühen ein gerechtes Urtheil zu fällen.
Wenn aber der geneigte Leser sich uns anvertrauen will, um zu jenem gerechten Urtheile zu gelangen, so ersuchen wir ihn, sich nicht von vornherein auf den Standpunkt zu stellen, daß ja doch die Arbeit eine vergebliche, daß alle Nachforschungen nach dem geraubten Kinde gegenstandslos gewesen, daß das Kind gar nicht geraubt, sondern ermordet worden
sei.
Das erkennende Gericht hat diese Überzeugung in der Untersuchung wider Schütt allerdings ausgesprochen, aber die Vertheidigung hat die gegentheilige Ansicht bis zuletzt festgehalten, und es sind sogar noch in der Hauptverhandlung drei Zeugen aufgetreten, welche mit voller Bestimmtheit versicherten: sie hätten die Anna Böckler bei den Zigeunern gesehen. Hatten diese Zeugen sich nicht geirrt, mußte man ihren Angaben Glauben schenken, dann durfte nach der eigenen Ausführung des
Gerichts das Schuldig gegen Schütt nicht gesprochen werden.
Wir beginnen unsere Darstellung, bei der wir überall streng an den Acteninhalt uns halten und die Aussagen der vernommenen Personen möglichst wortgetreu wiedergeben werden, mit der Auslassung des Vaters der Anna Böckler zur gerichtlichen Verhandlung vom 8. August 1872, weil dessen Mittheilungen, obwol erst später zu Protokoll verschrieben, doch von Anfang an für sämmtliche Maßregeln die Grundlage gebildet
haben:
»Am 24. Juni Abends gegen 8 Uhr vermißten wir meine Tochter Anna. Eine sofort angestellte Nachfrage ergab, daß der Dienstjunge Fritz Schütt dieselbe zuletzt etwa gegen 4 Uhr gesehen hatte. Er hatte sie beim Dorfteich getroffen und sie war mit ihm gegangen bis zum Hof, von wo aus sie die Richtung nach dem Wohnhause eingeschlagen hatte, während Fritz Schütt sich nach der Scheune Nr. 4 gewendet. Als wir meine Tochter Anna vermißten, eilten sogleich meine Leute, welche
inzwischen vom Felde kamen, sowie auch Leute aus den benachbarten Gassen in den Garten und die nächste Umgebung des Hofes, laut den Namen meiner Tochter rufend, da ich annahm, daß sie verunglückt sei. In dieser Voraussetzung schickte ich auch Leute nach dem Teich in der Brache, auf dem mein Boot mit flachem Boden lag. Dieser Teich wurde bis in die Nacht um 12 Uhr mit Harken und Haken durchsucht, aber keine Spur gefunden. Ebenso wurde noch in derselben Nacht die Scheune Nr. 4, deren Thür am Tage
offen gestanden hatte, mit Laternen untersucht, wobei laut der Name meiner Tochter gerufen wurde. Alle übrigen Wirthschaftsräume waren am 24. Juni verschlossen gewesen, mit Ausnahme noch einer Thür des Schafstalles Nr. 2. Der Roggenschlag am Gehöft Nr. VII wurde bis zu dem daranstoßenden Tannengehölz noch in der Nacht unter lautem Rufen nach meiner Tochter untersucht, jedoch nicht systematisch, sondern wie jeder es für am besten hielt, da die Aufregung zu groß war. Mit den Nachforschungen wurde
erst gegen 1 Uhr morgens aufgehört.
»Am 25. Juni begannen die Nachforschungen mehr systematisch. Ein Theil meiner Leute unter Anleitung meines Wirthschafters oder des Tischlers Häse aus Sassen durchsuchten den ganzen mit Winterkorn besäeten Schlag VII, indem die Leute in einer Entfernung von etwa einer Ruthe nebeneinander gingen. Ein anderer Theil durchsuchte unter Leitung des Statthalters Blohm alle in der Nahe des Hofes liegenden Wasserflächen in der Weise, daß das Boot quer über
die Teiche u.s.w. gezogen und von vier in demselben stehenden Leuten mit großen Haken die Gewässer bis auf den Grund durchzogen wurden. Dies ist auch noch wieder an den Tagen des 26. und 27. Juni in derselben Weise wiederholt worden, bis der Fischer Anders aus Loitz dann noch sämmtliche Teiche und Seen der Feldmark Treuen durchsucht hat. Im Laufe des 25. Juni durchsuchte der Küster Schreiber aus Sassen die an meine Feldmark stoßende Forst mit der Schuljugend, was in den nächsten Tagen
wiederholt von meinen Leuten unter Führung meines Wirthschafters Blank geschehen ist.
»An den folgenden Tagen ist sowol der Roggen im Schlage VII als auch im Schlage IV b in der Weise kreuz und quer durchzogen worden, daß die Leute nur so weit entfernt waren voneinander, daß sie sich die Hände reichen konnten. In derselben Weise wurde der hinter dem Hause liegende Garten und die kleine Weidenplantage hinter demselben, woran der Teich liegt, durchsucht. Auch die Mauern und
deren Hecken sowie alle Räumlichkeiten des Hauses und der Wirthschaftsgebäude und die Kathengärten sind auf das sorgfältigste durchsucht worden. Das Sommergetreide hatte nur eine Höhe von etwa 6 Zoll und war darin ein Verunglücken nicht möglich. Die in der Nähe liegenden Teiche und Seen wurden in den folgenden vierzehn Tagen noch täglich, die entfernt liegenden einigemale von außen besichtigt, ob etwa eine Leiche an die Wasseroberfläche gekommen sei. In den nächsten Tagen nach dem 24. Juni ist
auch die Feldmark Sassen diesseit des Dorfes bis zu meiner Feldgrenze und den Tannen durch den Wirthschafter Blank mit einer großen Anzahl meiner Leute, welche in geringer Entfernung voneinander gingen, abgesucht worden. Meine Tochter haben wir aber nicht gefunden.«
Die erste Behörde, bei der Böckler von dem Verschwinden seines Kindes Meldung machte, war das Landrathsamt des grimmer Kreises. Dieses setzte sofort am 25. Juni telegraphisch die Polizeibehörden in Hamburg, Lübeck,
Berlin, Bremen, Rostock und nicht minder in umfangreichster Weise die der nähern Umgebung, namentlich die Landrathsämter der benachbarten Kreise, in Kenntniß. Demnächst erschienen (zuerst am 3. Juli, dann am 7. u.s.f.) als Inserate in den verschiedensten Zeitungen und als besondere Plakate öffentliche Bekanntmachungen von dem Vorfalle mit der Anzeige, daß der Vater für die Wiederherbeischaffung seines Kindes eine Prämie von 100 Thlrn. ausgesetzt habe, später, neben der Staatsprämie von 300
Thlrn., weitere 500 Thlr., zuletzt 2000 Thlr. – und für den bloßen Nachweis der Leiche 1000 Thlr. Diese Bekanntmachungen enthielten genaue Beschreibungen, einzelne (zuerst die vom 7. Juli) auch das Porträt der Anna Böckler, außerdem ward letzteres in den Photographenschaukästen vieler Orte, auf den Bahnhöfen und sonst ausgehängt, sodaß das Signalement und die Bekleidnng des kleinen Mädchens bald allgemein bekannt waren. Anna Böckler, die als ein Kind von schüchternem Wesen geschildert
wird, hatte kurzgeschnittenes, hellblondes, durch einen Rundkamm zusammengehaltenes Haar, blaue Augen, eine stark hervortretende Stirn und stark gebräunte Gesichtsfarbe; sie trug ein rothbuntes schottisches Kleidchen, schwarze Lederstiefeln und einen braunen, mit schwarzem Sammtband garnirten Strohhut. Als besonderes Kennzeichen war eine Schnittnarbe an der linken Brust angegeben.
Die Publicität der Personenbeschreibung und der ganzen Sache sowie die hohen Prämien, die ja freilich
entscheidend sein konnten für das Auffinden eines entführten Kindes, waren die Ursache, daß die Untersuchung von vornherein in falsche Bahnen lenkte.
Voll Theilnahme für das Unglück der armen Aeltern, angelockt durch die hohen Prämien, fingen gar zu viele Personen an, dem verlorenen kleinen Mädchen nachzuspüren und den Behörden Mittheilungen zu machen, die, weil sie eine zutreffende Beschreibung des Kindes enthielten, nicht sofort als werthlos erkannt werden konnten. Alle diese
Nachrichten gingen davon aus, das Kind sei geraubt. Die Möglichkeit, daß Anna Böckler vielleicht auch infolge eines andern Verbrechens verschwunden sein könne, wurde gar nicht in das Auge gefaßt, und die Untersuchung hatte sich zunächst nur damit zu beschäftigen, die verschiedensten Spuren, daß das Kind da und dort gesehen worden sei, zu verfolgen. Schon am 4. Juli meldete sich eine Frauensperson Namens Rohrbeck, welche vorgab, das vermißte Kind in den Händen von Zigeunern gesehen zu haben,
denen sie am 28. Juni bei Spantekow (Kreis Demmin) begegnet sei. Andere Zeugen wollten dasselbe am 28. Juni bei einer Zigeunerbande auf der zecheriner Fähre, nach Usedom übersetzend, dann wieder andere am 30. Juni in Pencun ebenfalls unter Zigeunern gesehen haben. Eigentlich verwendbare Spuren jedoch fanden sich erst, als am 8. Juli der Gensdarm G. aus Angermünde, auf einer Dienstreise nach Schwedt a. O. begriffen, erfuhr, daß kurz vorher eine Zigeunerbande das Dorf Telchow (Kreis Angermünde)
passirt habe, um sich über Schönow nach Pencun (beide letztern Ortschaften im Kreise Randow, Regierungsbezirk Stettin, gelegen) zu begeben, und daß bei dieser Bande ein kleines, blondes Mädchen sich befinde, welches ganz anders als die übrigen Kinder aussehe und das geraubte Kind wol sein könne. Im Kruge zu Schönow traf er eine Weibsperson Namens Pauline Stanke. Sie gehörte nach ihrer Angabe zu jener Zigeunerbande, hatte sich aber von derselben wegen eines Zwistes getrennt und wollte in Schönow
übernachten, weil sie, wie sie sagte, zum Weiterreisen zu müde sei. Die Stanke erzählte, daß ihre Bande nach Lützlow ziehe, bestritt aber, daß dieselbe ein fremdes Kind mit sich führe. Sofort begab sich der Gensdarm auf den Weg nach Lützlow. Er erfuhr jedoch bald, daß die Angaben der Stanke falsch gewesen, daß nämlich die Zigeunerbande nicht nach Lützlow, fondern nach Wartin (ebenfalls im randower Kreise) gezogen sei, und eilte demgemäß nach Wartin. Auffälligerweise traf in Wartin am
folgenden Morgen (9. Juli) auch die Pauline Stanke ein, die, obwol sie früher wegen Ermüdung im schönower Kruge übernachten wollte, diesen dennoch gleich nach dem Gensdarmen verlassen hatte. Möglich sogar, daß sie nicht erst am 9., sondern schon am 8. Juli mit den wartiner Zigeunern sich in Verbindung zu setzen gewußt und sie von ihrem Zusammentreffen mit dem Gensdarmen benachrichtigt hatte.
Der Gensdarm erreichte Wartin um 10 Uhr abends (am 8. Juli) und fand auch wirklich die von ihm
verfolgten Zigeuner, die kurz zuvor, um 6 Uhr abends, dort angekommen waren, im Kruge übernachtend vor. Sofort wurde eine Revision der von ihnen eingenommenen Räumlichkeiten und ihrer beiden Wagen vorgenommen, das blonde Kind aber –- nicht mehr bei ihnen gefunden.
Die Bande wurde die Nacht über bewacht und am nächsten Morgen denjenigen Zeugen vorgeführt, die dem Gensdarmen von der Anwesenheit des blonden Kindes Mittheilung gemacht hatten. Alle diese Zeugen bekundeten mit
absoluter Bestimmtheit, daß unter den ihnen vorgestellten Zigeunerkindern das blonde Mädchen nicht sei, welches sie tags zuvor gesehen hätten. Insbesondere sagte die königl. Opernsängerin Martha Schwenke:
»Gestern, am 8. Juli, zwischen 12 und 1 Uhr etwa, kam ich aus dem schönower Walde von einem Spaziergange und sah in der Nähe des Kruges eine Zigeunerbande lagern. Ich wollte mir die Gesellschaft näher ansehen und ging darauf los. Hier fiel mir ein Wagen auf mit einem schwarzen
Plan überzogen und mit Thüren versehen, von denen die eine geöffnet, die andere geschlossen war. Aus der geöffneten Thür wollte zweimal ein hübsches Kind mit hellblauen Augen und kurz abgeschnittenen hellblonden Haaren heraussehen, wurde aber jedesmal von einem kleinen Knaben, der am Wagen stand, zurückgeschlagen und mit alten Sachen überworfen. Als die Bande später abfuhr, hörte ich ein Kind weinen, und erfuhr dann von meiner Cousine Anna, die noch vorher am Wagen gestanden hatte, daß es dieses
hübsche blonde Kind gewesen sei. Das Kind mochte etwa drei bis vier Jahre alt sein. Mit der größten Bestimmtheit kann ich behaupten, daß dieses Kind unter der mir, heute 19. Juli, vorgestellten Zigeunerbande nicht vorhanden ist. Den Knaben, der am Wagen stand und das Kind zurückschlug, habe ich in dem sechsjährigen Franz Friedrich Anton Strauß sofort wiedererkannt.«
Der Handelsmann Schmul gab zu vernehmen: »Gestern, am 8. Juli, war ich beim Schneider Schröder in Wartin, als eine
Zigeunerbande die Straße entlang kam. Bald darauf trat eine alte Zigeunerin zu uns herein und bat um Kleidungsstücke und Geld. Vor der Thür fah ich drei Kinder auf einem Karren sitzen, von denen mir besonders ein Mädchen auffiel, welches ein schottisches Kleid trug und hellblonde kurzabgeschnittene Haare hatte, sodaß ich zu Schröder äußerte: Sieh doch mal, was die für ein nettes Kindchen haben, das sieht gar nicht so aus wie die andern. Das Kind konnte drei bis fünf Jahre alt sein. Ich kann mit
Bestimmtheit behaupten, daß ich heute unter den mir vorgestellten Kindern der Bande weder ein Mädchen mit so hellen Haaren, noch mit einem solchen Kleide gesehen habe.«
Ganz in Uebereinstimmung mit Schmul ließen sich die vierundzwanzigjährige Wilhelmine Schröder und der siebzehnjährige Schneiderlehrling Karl Meier aus, und in der Folge bestätigten noch neun andere Zeugen: sie hätten am 6. und 7. Juli an verschiedenen Orten, welche die Bande passirte, ein kleines, blondhaariges
Mädchen bei den Zigeunern gesehen, dasselbe befinde sich nicht unter den ihnen vorgestellten Kindern und habe anders ausgesehen als diese. Mehrere von diesen Zeugen behaupteten, das Kind habe sehr viel geweint und, während die andern Kinder frei herumgelaufen seien, sich bis zur Ankunft in Wartin stets in dem Wagen mit dem schwarzen Plan befunden; die Zigeuner seien auf dieses Kind ganz besonders aufmerksam gewesen, und hätten es den Blicken der Zeugen zu entziehen gesucht. In Niederlandin z.B.
hätten sie unter dem Vorgeben, daß das Pferd bissig sei, niemand an den Wagen herangelassen, bei der Bahnwärterbude hinter Schönow hätten sie den Vorhang vor die Wagenthür gezogen, als das Kind von Zuschauern fixirt worden sei.
Aus der von so vielen Zeugen bestätigten Thatsache, daß ein kleines blondes Mädchen vom 6. bis 8. Juli bei der Zigeunerbande gewesen und am 8. Juli in der Zeit von 6 bis 10 Uhr Abends fortgeschafft worden war, sowie ferner daraus, daß ein Zeuge Simdom während
der Durchsuchungen durch den Gensdarmen die eine Zigeunerin klagen gehört hatte: »Warum haben wir doch das gethan?« wurde der Schluß gezogen, daß die Zigeuner das Kind geraubt, deshalb es den Blicken der Leute entzogen und endlich, als die Polizei nachforschte, auf die Seite gebracht hätten. War dies richtig, so war auch die Vermuthung gerechtfertigt, daß das Kind identisch sei mit Anna Böckler, denn von dem Raube eines andern Kindes war in jener Zeit nirgends etwas bekannt geworden. Die
Vermuthung wurde sozusagen zur Gewißheit, als drei von den erwähnten Zeugen, der Handelsmann Schmul, die Sängerin Martha Schwenke und der Schneiderlehrling Meier nach Vorlegung der Photographie der Anna Böckler erklärten:
»Wir erkennen in dem Bilde mit voller Bestimmtheit dasjenige Kind wieder, welches in dem Wagen des Strauß gesessen hat, und am 8. dieses Monats hier in Wartin gewesen ist.«
Nunmehr begannen auch die Zigeuner selbst, welche anfänglich sämmtlich
bestritten hatten, daß das fremde Kind sich bei ihnen befunden habe, dies zuzugeben, und erkannten in der Photographie der Anna Böckler jenes Kind wieder.
Zum Verständniß ihrer Auslassung ist zu bemerken, daß die Zigeunerbande auf zwei Wagen reiste, der eine mit einem schwarzen, der andere mit einem weißen Plane überzogen; in dem ersten befand sich die Familie Strauß, in dem zweiten die Familien Hennig-Anton; die letztern hatten zwei Mädchen und zwei Knaben, die Familie Strauß
hatte nur vier Knaben.
An diese Kinder wandte man sich, als die Erwachsenen jede Wissenschaft von dem verschwundenen Kinde ableugneten, und erhielt von ihnen folgende Auskunft.
Der sechsjährige Franz Friedrich Anton erzählte:
»Als wir in Schönow waren, habe ich an dem Wagen mit dem schwarzen Plan gestanden, während das Fräulein (Martha Schwenke) etwa drei Schritte von uns entfernt war. In dem Wagen hat ein kleines Mädchen gesessen, das etwas kleiner war
als ich, und ein etwas dickeres Gesicht gehabt hat. Es ist wahr, daß ich dieses Kind in Schönow zurückgestoßen habe, während es den Kopf zum Wagen hinaussteckte, und dann alte Kleider darüber gedeckt habe. Daß ich dieses thun sollte, hat mir Straußen seine Frau gesagt. Der andere Junge von Strauß sollte sie zudecken, der that es aber nicht. Später hörte ich, wie das Kind im Wagen geschrien hat. Am Anfange unserer Reise war das Kind noch nicht bei uns u. s. w. Gestern ist es nicht mehr hier
gewesen. Wer es fortgeschafft hat, weiß ich nicht. Vorgestern (8. Juli) ging ich mit meiner Schwester und diesem fremden Mädchen hier in Wartin in ein Haus hinein, um Wasser zu trinken. Wir saßen vorher auf einer Karre, und ehe wir da herankamen, hatten wir uns alle drei umfaßt und das fremde Mädchen in die Mitte genommen.«
Die fünfjährige Josephine Wilhelmine Auguste Anton:
»Wir sind schon viele Wochen auf Reisen. Das fremde Mädchen ist nicht immer bei uns
gewesen. Sie war beinahe so groß wie mein Bruder. Ihre Haare waren weißer wie meine Haare. Sie war auch etwas dicker im Gesicht wie ich. Gespielt hat sie gar nicht mit uns. Sie war sehr unartig, weil sie immer weinte. Wie sie heißt, weiß ich nicht. Sie hat immer in dem schwarzen Wagen gesessen. Hier in Wartin ist sie noch gewesen. Sie ging mit mir und meinem Bruder in ein Haus, wo wir uns Wasser geben ließen. Sie ging in der Mitte, wir hatten uns alle drei umfaßt. Vor dem Hause saßen wir auf
einer Karre. Später ging das Mädchen mit einer Frau mit schwarzen Haaren von uns fort und kam nicht wieder; ich habe sie nicht wiedergesehen.«
Die zehnjährige Johanna Anton:
»Mit Strauß sind wir zusammengetroffen, und einige Tage später sah ich ein fremdes Mädchen in dem schwarzen Planwagen sitzen, das mir wegen der hellern Haare auffiel. Sie hatte auch helle Augen. Ich habe das Mädchen hier noch am ersten Tage gesehen, wie sie mit Franz und Josephine in ein Haus
hineinging. Als wir schlafen gingen, war das Mädchen nicht mehr da. Gestern und heute (den 9. und 10. Juli) habe ich sie nicht mehr gesehen, auch weiß ich nicht, wo sie geblieben ist.«
Von den Insassen des schwarzen Wagens bekundete der siebenjährige Alexander Strauß:
»An einem Montage im vorigen Monat, ich glaube, es war am 24. Juni gegen Mittag, waren wir in einem Dorfe bei Grimmen eingekehrt. In diesem Dorfe befand sich ein Herrenhof. Ich und mein Bruder
Martin sind nach dem Herrenhofe gegangen, um dort Wasser zu trinken. Nachdem wir uns wieder zu unserm Wagen begeben hatten, kam kurz darauf meine Mutter mit einem fremden Kinde hinzu. Das Kind hatte sie fest an ihre Brust gedrückt. Geschrien hat das Kind nicht. Erst später, als sie sich mit demselben in den Wagen gesetzt hatte, schrie es. Das Kind hatte ein gleiches Kleid wie die mir vorgezeigte Taille (der Anna Böckler) an. Auf der ganzen Tour hierher war das Kind, soviel ich weiß, stets in
unserm Wagen. Abends ist meine Mutter mit dem Kinde stets von uns fortgegangen und hat sich dann am andern Morgen erst wieder zu uns herangefunden. In Begleitung meiner Mutter, wenn sie mit dem Kinde fortging, war stets die Josephine Anton. – Am 8. Juli, in der Schummerstunde, als wir schlafen gehen wollten, sah ich, wie meine Mutter das fremde Mädchen in ein Laken gehüllt und vor sich genommen hat. Sie ist dann mit der Josephine Anton zum Dorfe hinausgegangen. Gegen Morgen, als ich
bereits aufgewacht und das Pferd gefüttert war, kam meine Mutter mit der Josephine zurück, jedoch ohne das Kind. Wie ich dann später aus den Reden meines Vaters entnommen habe, hat meine Mutter das Kind im blumenberger Walde umgebracht, und zwar in der Art, daß sie ihm die Kehle zugedrückt hat. Die Josephine war zugegen. Mein Vater hat mir auf das strengste verboten, über den Vorfall, namentlich über die Ermordung des Kindes, das Geringste zu sagen.«
Als hierauf den Zigeunerkindern
die Photographie der Anna Böckler vorgelegt wurde, erklärten sie, ebenso wie die vorher erwähnten Zeugen:
»daß sie in dieser Photographie das Kind wiedererkennten, von dem sie gesprochen«.
Es darf nicht verschwiegen werden, daß die Aussagen der Zigeunerkinder nicht ganz freiwillige waren. Der Besitzer von Wartin, von B., hatte sich veranlaßt gesehen, einige Zigeunerkinder und später noch andere Mitglieder der Bande durch etliche Hiebe mit der Reitpeitsche zum Sprechen zu
bringen. Aber trotzdem mußte man Gewicht legen auf ihre Aussagen, denn sie schienen ja nur zu wiederholen, was von andern Zeugen bereits glaubhaft bekundet war.
Die nun folgende Episode berühren wir nur kurz. Herr von B. nahm die beiden durch Alexander Strauß des Mordes bezichtigten Frauenspersonen, die verehelichte Strauß und die unverehelichte Josephine Anton, in der gleichen Weise wie die Zigeunerkinder, nämlich unter Anwendung der Reitpeitsche, ins Verhör und erlangte von beiden
Geständnisse. Es sagte zunächst die Josephine Anton:
»Eines Tages im vorigen Monat, es kann am 30. Juni gewesen sein, kam ich an den Wagen der Strauß und sah dort ein mir bis dahin ganz unbekanntes Mädchen. Nach der mir vorgelegten Photographie erkenne ich dasselbe ganz bestimmt wieder. Vom 30. bis zur Ankunft in Wartin war das Kind stets in dem Wagen der Strauß. Am 8. Juli kurz vor der Ankunft des Gensdarmen, der uns spät abends visitirte, ist es von der Frau Strauß
fortgebracht worden. Ich stand gerade in der Stallthür. Die Frau Strauß forderte mich, als sie mich erblickte, auf, mit ihr zu gehen. Ich that dies und habe ganz genau gesehen, wie die Strauß das Kind mit ihrem Rocke welchen sie aufgenommen hatte, vor sich getragen hat. Bis zum Blumenberger Walde habe ich die Strauß begleitet. Dort angelangt, ging die Strauß etwa 12 Schritte weit allein in den Wald. Ich hatte sie gefragt, was ich in dem Busche machen sollte, und sie hieß mich darauf
zurückbleiben. Die Strauß war etwa 10 Minuten fort, da hörte ich das jämmerliche Gewimmer eines Kindes. Obgleich ich ahnen konnte, daß die Strauß das Kind umgebracht hatte, so fragte ich sie, als sie ohne das kleine Mädchen herauskam, dennoch, wo sie das Kind gelassen habe. Sie antwortete darauf: es kümmere mich nichts.«
Die verehelichte Rosalie Strauß gab an:
»Die von meinem Sohne gemachte Aussage beruht in allen Punkten auf Wahrheit. Dagegen ist die Aussage der
Josephine Anton nicht wahrheitsgetreu. – Am 24. Juni befanden wir uns mit unserer Karavane in dem Dorfe Treuen, in welchem ein Herrenhof ist. Ich drehte mich um den Hof herum. Kurz nach dem Mittagessen kam ein kleines Mädchen, welches am herrschaftlichen Zaune spielte, zu mir heran (es ist dasselbe Kind, welches mir hier in der Photographie vorgezeigt ist) und sagte zu mir einige unverständliche Worte. – Da ich kein Mädchen, sondern nur Söhne habe, beschloß ich, mir dieses Mädchen
anzueignen. Ich nahm es auf und lief damit nach meinem Wagen, neben welchem Albert Hennig stand. Geschrien hat das Kind nicht. An dem Wagen angelangt, kroch ich sofort mit demselben hinein. – Später, nach einigen Tagen, habe ich meinem Manne von dem Raube des Kindes gesagt und ihm das Kind gezeigt. Hierauf hat er mich gemishandelt, wovon ich die Zeichen noch am Leibe trage. – Am 8. Juli langten wir zuerst in Schönow an, wo uns das Fräulein (Schwenke) besuchte und auch das Kind
gesehen hat. Die Aussage des Knaben Franz Friedrich Anton ist richtig. Ich hatte ihm gesagt, er solle das Kind, falls es aus dem Wagen hinaussähe, zurückstoßen und alte Kleider auf dasselbe decken. – Am 8. Juli, als wir uns bereits hier in Wartin befanden, kam nun die Pauline Stanke und erzählte uns, daß wir wegen des Kindes von einem Gensdarmen verfolgt würden. Ich beschloß sogleich, mich des Kindes zu entledigen. Gegen Abend, es konnte nach 9 Uhr sein, entfernte ich mich mit der
Josephine Anton und dem Kinde nach dem nächstgelegenen Busch (Blumenberger Walde). Anfänglich trug ich das Kind, später trug es die Josephine. Wir gingen gemeinschaftlich in den Wald etwa 100 Schritte hinein. Dann blieb ich auf Zureden der Anton etwas zurück. Kurz darauf, als die Anton einen Vorsprung von etwa 100 Schritten gewonnen hatte, hörte ich einen jämmerlichen Aufschrei. Hierauf war wieder alles still. Als dann die Josephine Anton zu mir zurückkam, fragte ich sie, obgleich ich sehr gut
wußte, daß sie das Kind umgebracht hatte, wo das Kind geblieben sei. Sie erwiderte: es sei todt! – Mit der Bande in Pencun (von der sogleich die Rede sein soll) standen wir insofern in Verbindung, als wir uns auf der Reise stets Nachricht gaben. Am 30. Juni habe ich das Mädchen an diese Bande abgegeben, damit dasselbe nicht etwa bei mir vorgefunden würde. Ich hatte dem Adam (einem Mitgliede der pencuner Bande) gesagt, das Kind sei von mir geraubt worden. Derselbe war erbötig, das Kind zu
sich zu nehmen, und hat es mir später, nach einigen Tagen, wieder zurückgegeben.«
Nunmehr erklärte auch der achtzehnjährige Albert Hennig, der früher von dem Kinde nichts hatte wissen wollen:
»Es ist richtig, daß ich, als die Frau Strauß mit dem Kinde von dem Herrenhofe in Treuen ankam, bereits vor dem Wagen der Strauß, vor welchen das Pferd gespannt war, gestanden und die Zügel gehalten habe. – Das mir hier vorgelegte Bild von Anna Böckler ist dasjenige
des Kindes, welches die Strauß in den Wagen gebracht und darin verborgen hat. Auch in Wartin habe ich das Kind am 8. dieses Monats noch gesehen. Wer das Kind später fortgebracht hat, kann ich nicht wissen, da ich bei den Pferden im Stalle zu thun gehabt habe. Dagegen kann ich mit voller Bestimmtheit behaupten, daß die Josephine Anton mit der Frau Strauß stets bei dem Kinde gewesen ist. – Die Zigeunerbande Adam und Genossen ist mir sehr wohl bekannt. Einige Tage vor dem 8. Juli hat diese
Bande das Kind an sich genommen und später wieder an uns, namentlich an die Strauß, abgegeben. Diese Bande soll, soviel ich weiß, in Pencun sich aufhalten. Am 8. Juli sah ich, wie die Frau Strauß sich in der Schummerstunde, das Kind in ihrem Rocke tragend, in Begleitung der Josephine entfernte, und zwar nach dem Walde hinaus. Nach längerer Zeit, als sie wieder zurückkamen, hatten sie das Kind nicht mehr bei sich.«
Diese Erzählungen der Zigeuner waren, zum Theil wenigstens, erlogen,
wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte. Als man die Reisetour der Strauß-Antonschen Bande von Wartin rückwärts verfolgte, stellte sich heraus, daß dieselbe am 24. Juni in Brietzig (Kreis Pyritz), d. h. 25 Meilen von Treuen entfernt, gewesen war, sodaß also Rosalie Strauß den Raub des Kindes so, wie sie und Albert Hennig denselben erzählt hatten, gar nicht ausgeführt haben konnte. Und auch das muß als erlogen angesehen werden, daß die Strauß und die Anton in Wartin ein Kind ermordet
haben. Denn ein tagelang fortgesetztes Suchen nach der Leiche des Kindes, bei dem die beiden Weiber fortwährend in ihren Angaben wechselten, bald den Wald, bald irgendein Gewässer angaben, wo die Leiche verborgen worden sei, hat zum Auffinden der Leiche nicht geführt.
Das durch die erfolglosen Nachforschungen nach der Leiche in Wartin erlangte, bezüglich der Ermordung rein negative Resultat wurde verhängnißvoll für die Untersuchung wegen Menschenraubes. Nach der damaligen Lage der
Sache mußte man als feststehend ansehen, daß Anna Böckler sich am 8. Juli bei der Strauß-Antonschen Bande befunden hatte. Da sie sich jetzt nicht mehr dort befand und auch nicht ermordet worden war, so blieb nur noch die Annahme übrig, daß Anna Böckler lebendig fortgeschafft worden sei.
Für eine solche Annahme boten ja die Aussagen der Rosalie Strauß und des Alexander Strauß schon einen gegründeten Anhalt. Denn danach sollte Anna Böckler schon einmal von ihrer Bande zu der pencuner
Bande und von dieser wieder zu der erstern gebracht worden sein.
Sogleich, nachdem Rosalie Strauß und Alexander Strauß ihre Aussagen erstattet hatten, begab sich der sie vernehmende Polizeibeamte mit beiden nach Pencun. Hier war am 10. Juli eine andere Zigeunerbande angehalten worden, zu welcher der schon oben erwähnte Handelsmann Adam, die Gymnastiker Remiersche Familie u. a. gehörten. Mit diesen wurden Rosalie Strauß und Alexander Strauß confrontirt.
Rosalie Strauß
erklärte:
»An die mir hier vorgestellte Christiane Remier habe ich das Kind einige Tage vor dem 30. Juni abgegeben. Sie sollte es ganz behalten und hatte auch versprochen, es zu thun. Später, vor dem 8. Juli, gab sie mir das Kind dennoch zurück.«
Alexander Strauß sagte aus:
»Ich habe ausdrücklich gesehen, wie die mir hier vorgestellte Christiane Remier das vermißte Kind auf dem Arme getragen hat. Es ist dies vor dem 30. Juni gewesen. – Ferner habe
ich gesehen, daß die Remier das Kind von Schönow – wann, weiß ich jedoch nicht genau, wenigstens vermag ich mich nicht mehr auf das Datum zu besinnen – an meine Mutter abgegeben hat.«
Bestritten nun auch die Mitglieder der Remierschen Bande aufs hartnäckigste, mit dem Kinde zu schaffen gehabt zu haben, so bestritten sie doch nicht, was übrigens auch sonst feststand, daß sie am 30. Juni in Pencun gewesen waren. Bezüglich dieses ihres Aufenthaltes bekundeten nun weiter drei
Kinder von pencuner Bürgern, die zwölfjährige Helene Jonas, die zehnjährige Anna Rohder und die achtjährige Marie Nürrenberg, nach Vorlegung der Anna Böcklerschen Photographie übereinstimmend:
»Am 30. Juni haben wir dasselbe Kind, welches die Photographie vorstellt und welches wir ganz genau wiedererkennen, hier in Pencun gesehen. Wir erkennen es nicht allein mit aller Bestimmtheit nach der uns vorgelegten Photographie, sondern auch an der uns hier vorgelegten Taille – das Kleid
war ebenso – und an den Hosen. Wir fragten das Kind, wie es heiße, worauf es uns den Namen Lieschen nannte, weiter aber dürfe sie, wie sie sagte, nichts sagen. Die Anna Remier hatte die Kleine an der Hand, als wir mit ihr sprachen.«
Bei der spätern gerichtlichen Vernehmung wiederholten sie diese Aussage und erzählten noch ausführlicher ihr Begegniß mit dem kleinen blonden Mädchen. Namentlich setzte die Marie Nürrenberg, welche zuerst mit ihr zusammengekommen war, hinzu:
»das Kind habe sich zuerst nicht Lieschen, sondern Anna genannt, sei dafür aber von der sechsjährigen Anna Remier auf den Mund geschlagen worden.«
Diese jugendliche Zeugin gewann dadurch nicht wenig Gewicht, daß diese Aussage von ihr bereits am 30. Juni, als man in Pencun von dem Verschwinden der Anna Böckler noch gar nichts wußte, in gleicher Weise ihrem Vater, einem Handelsmann in Pencun, gegenüber erstattet worden war. Der Vater selbst hatte bemerkt, daß ein Mann, den er als den
Handelsmann Mock wiedererkannte, und der auch in Wartin bei der Straußschen Bande gesehen wurde, sich am 30. Juni bei der Bande in Pencun befunden hatte, am 10. Juli aber nicht mehr anwesend gewesen war.
Es bekundeten aber auch weiter noch der fünfzehnjährige Schlosserlehrling Hermann Endler:
»In dem mir vorgezeigten Bilde der Anna Böckler erkenne ich mit aller Bestimmtheit dasjenige Kind wieder, welches ich hier am 30. Juni bei der mir hier vorgestellten
Zigeunerbande gesehen habe.«
Und die verehelichte Arbeiter Logé:
»Mit aller Bestimmtheit vermag ich nach dem Bilde das Kind nicht wiederzuerkennen, nur so viel kann ich mich mit aller Bestimmtheit erinnern, daß dieses Kind, welches die Zigeunerbande am 30. Juni hier hatte, gerade von demselben Stoffe, wie die mir hier vorgelegte Taille, ein Kleid angehabt hat. Das Kind hatte hellblonde, kurz abgeschnittene Haare und ein volles, rundes Gesicht. Ich glaube, daß es
dasselbe Kind ist, welches die Photographie vorstellt.«
Die drei Remierschen Kinder, Stephan, neun Jahre, Anna, sechs Jahre und Hermann, drei Jahre, erklärten dem Polizeibeamten gegenüber, der ihnen die Photographie der Anna Böckler vorlegte: »das ist ja Schwester Lieschen!« und gaben an, daß das fremde Mädchen nur einige Tage, namentlich in Pencun, bei ihnen gewesen, jetzt aber wieder fort sei.
Sonach durfte man also kaum zweifeln, daß auch die Remiersche Bande vor
kurzem ein Kind bei sich gehabt hatte, welches jetzt fehlte, und daß das Kind Anna Böckler gewesen sei, bestätigte nicht allein die Recognition der Photographie und der Kleider durch die Zeugen, sondern auch der Umstand, daß Remiers zugaben, mit der Strauß und ihrem Sohne vor kurzem zusammengetroffen zu sein.
Als man die Reisetouren der beiden Banden rückwärts verfolgte, ergab sich zwar, daß sie sich in der Zeit vom 30. Juni bis zum 6. Juli in ziemlicher Entfernung voneinander bewegt
hatten, sodaß Anna Böckler in jenem Zeiträume nicht wohl von der Remierschen zur Straußschen Bande zurückbefördert worden sein konnte. In dem Zeitmoment indeß, in dem wir uns bei unserer Darstellung befinden, am 11. Juli nämlich, konnte von einer solchen klaren Uebersicht nicht die Rede sein; denn man kannte die Reisetouren der beiden Banden noch nicht.
Außerdem aber war man ja durchaus nicht gehalten anzunehmen, daß Anna Böckler von Wartin aus wieder zu der pecuner Bande
zurückbefördert sein müsse. Viel wahrscheinlicher sogar war das Gegentheil, und es kam gar nicht sowol darauf an, einen Verkehr der wartiner und der pencuner Bande nach dem 8. Juli festzustellen, als vielmehr darauf, die neuen Wege aufzufinden, die irgendein Mitglied der wartiner Bande mit dem Kinde ins Weite, wahrscheinlich zu andern Banden, genommen hatte. Die Ereignisse bei der pencuner Bande schienen ja zu beweisen, daß die verschiedenen Banden untereinander in einem solchen Zusammenhange
standen, daß es ihnen möglich war, Kinder verschwinden zu lassen, indem sie dieselben aneinander abgaben. Ja man durfte sogar glauben, die Person, durch welche das Kind von Wartin weiter fortgeschafft worden war, gefunden zu haben.
Es bekundete nämlich die vierundzwanzigjährige Ernestine Mätzke, daß sie am 8. Juli von der Bodenluke des wartiner Kruges aus bei der Zigeunerbande außer den demnächst verhafteten vier Männern noch einen fünften gesehen habe, einen Mann, den sie
beschrieb als ziemlich groß, von dunkler Gesichtsfarbe, mit schwarzem Backenbart und von stark gekrümmter Haltung. Während die andern Zigeuner die Anwesenheit dieses fünften Mannes bestritten, räumte Rosalie Strauß dieselbe ein und nannte den Mann Rudolf Schröder.
In diesem Stadium ungefähr gelangte die Untersuchung aus den Händen der Polizei in die des Gerichts, und zwar in die Hände des Untersuchungsrichters beim Kreisgerichte Stettin, Kreisgerichtsrath von Rönne,
weil Wartin, der Ort des ersten Angriffs, in dessen Bezirk belegen ist.
Dem Untersuchungsrichter fiel die doppelte Aufgabe zu: einmal die Spur des Kindes nach den bisherigen Anzeichen weiter zu verfolgen, sodann das bereits zusammengetragene Material zu sichten und nach Glaubwürdigkeit und Schlüssigteit zu prüfen. In welcher Weise er sich der zweiten Aufgabe zu entledigen suchte, davon möge zunächst Zeugniß geben sein unterm 3. August an die Kreisgerichtscommission Loitz erlassenes
Requisitionsschreiben, welches wir in seinen erheblichen Theilen hier wörtlich wiedergeben.
»In der Untersuchung betreffend den anscheinend an dem viereinhalbjährigen Kinde des Domänenpachters Böckler zu Treuen verübten Menschenraub bedarf es einer gerichtlichen Feststellung des objectiven Thatbestandes und insbesondere einer sorgfältigen Erörterung der Frage, ob die Möglichkeit, daß das Kind am Orte des Verschwindens durch irgendeinen Zufall verunglückt sei, für völlig
ausgeschlossen zu erachten ist ober nicht. – Die Kreisgerichtscommission ersuchen wir ergebenst, die auf die Erörterung dieser Frage bezüglichen Ermittelungen gefälligst recht schleunig an Ort und Stelle vornehmen zu wollen.
»Wir fügen einen Situationsplan des Gutes Treuen bei, und bitten festzustellen, an welchen Orten und in welcher Art ein Verunglücken des Kindes überhaupt möglich gewesen sein könnte, und bitten, diese Stellen auf dem Plane zu vermerken. Sodann wird zu
constatiren sein, was geschehen ist, um die volle Ueberzeugung zu gewinnen, daß das Kind nicht in der einen oder andern Art verunglückt ist. Wir bitten, hierüber Herrn Böckler sowie alle von ihm zu bezeichnenden, bei dem Aufsuchen des Kindes thätig gewesenen Zeugen recht eingehend zu vernehmen, wobei wir bemerken u. s. w. (folgen einzelne Notizen über den augenblicklichen Stand der Sache). Es wird sich fragen, ob auch eine Durchsuchung der etwa vorhandenen Mistkuhlen, Kloaken, Brunnen u. s. w.
vorgenommen ist, und ob auch die sämmtlichen Räume in den vorhandenen Gebäuden, wo etwa eine Verunglückung des Kindes stattgefunden haben könnte, durchsucht worden sind.
»Sodann erscheint es von Wichtigkeit, noch folgende Fragen durch Vernehmung des Herrn Böckler und der sonstigen Auskunftspersonen zu eruiren:
1) Ist anzunehmen, daß das Kind sich verirrt haben könnte?
2) Wann und wodurch ist zuerst die Vermuthung entstanden, daß das Kind geraubt sein könnte?
Welches Motiv zu dieser That läßt sich annehmen? Sind etwa in früherer Zeit einmal gegen Böckler von umherreisenden Banden Drohungen ausgestoßen und aus welchen Ursachen?
3) Wie und in welcher Art kann die Entführung des Kindes, welche am hellen Tage stattgefunden haben muß, ausgeführt worden sein?
4) Sind zur Zeit des Verschwindens verdächtige Personen auf dem Gute und in der Nähe desselben und von wem gesehen worden?«
Man ersieht aus diesem Schreiben, daß
den Untersuchungsrichter der Vorwurf blinder Voreingenommenheit nicht trifft, daß derselbe dem vorsichtigen Zweifel das Ohr nicht nur nicht verschlossen, sondern sogar schon Ausdruck gegeben hat zu einer Zeit, da man noch mit vollem Rechte auf der richtigen Spur zu sein glauben durfte.
In Erledigung dieser Requisition wurde zunächst Böckler selbst vernommen. Er erstattete die schon im Eingange mitgetheilte Aussage und beantwortete die speciell hervorgehobenen Fragen wie folgt:
»Ich habe auf dem Hofe zwei Pumpen mit Brunnenwasser und zwei Jauchpumpen. Von den erstem ist die eine mit vollständig festem Belage versehen, bei der andern war ein Bret des Belages losgegangen, lag aber noch in seiner frühern Lage. Dieser Brunnen ist von dem Fischer Anders untersucht. Von den beiden Jauchpumpen enthielt die eine nur eine geringe Menge Jauche; der eingemauerte Kufen war übrigens bedeckt. Die zweite Jauchpumpe, deren Belag mit einer Klappe versehen ist, wurde leer
gepumpt. Mistkuhlen und Kloaken sind nicht vorhanden, die Abtritte mit kleinen Wagen zur Aufnahme der Exkremente versehen, übrigens auch untersucht. Im Dorfe ist ein Brunnen nicht.
»Auf den Boden des Schafstalles Nr. 2 waren kurz vor dem 24. Juni circa 20 Fuder Kleeheu gebracht, und ist auch dieses durch den Schäfer Gahl, wie ich glaube, untersucht worden.
»Alle Scheunenräume sind inzwischen von dem darin gewesenen Stroh geräumt worden.
»Mein sämmtliches Korn
ist inzwischen bis auf einen geringen Rest Sommergetreide abgemäht und eingefahren, und hat sich hierbei keine Spur meines Kindes ergeben.
»Daß meine Tochter Anna sich vom Hofe entfernt, dann verirrt haben und in einer entferntem Gegend verunglückt sein sollte, ist nicht anzunehmen, weil sie, von scheuem, ängstlichem Wesen, sich allein nie weit vom Hofe entfernte.«
Was den Ursprung des Verdachtes gegen Zigeuner anlangt, so gab Böckler an:
»Als die am 24. Juni und
den nächstfolgenden Tagen angestellten sorgfältigen Nachforschungen auf der Feldmark Treuen, der benachbarten sassener Feldmark und der angrenzenden Forst ganz erfolglos blieben, stieg bei mir die Vermuthung auf, daß meine Tochter geraubt sein könne. Diese Vermuthung wurde durch folgende Mittheilung bestärkt. Meine Schwester, die Rittergutsbesitzer v. B. auf Guelzow, theilte mir mit, etwa schon am 26. oder 27. Juni, daß in Guelzow am Mittag des 24. Juni mehrere Weiber, welche Seife und
künstliche Blumen zum Kauf ausgeboten hätten, gewesen seien. Guelzow ist von Treuen etwa ½ Meile entfernt und führt der Weg dahin durch die königliche Forst. – Am 27. Juni kam der Viehhändler S. aus Greifswald zu mir, um gekaufte Hammel abzunehmen. Hierbei erzählte er mir, daß er am Sonnabend, den 22. Juni, mit einer großen Gesellschaft Zigeuner, welche mehrere Wagen mit sich geführt, von der Insel Rügen über die stahlbroder Fähre nach Pommern gekommen sei. Stahlbrode ist von Treuen
etwa 3½ bis 4 Meilen entfernt. – Am Mittwoch, den 3. Juli, wie ich glaube, wurde ein Frauenzimmer mit einem zehn bis elf Jahre alten Knaben zu mir gebracht, welche sich Rohrbeck nannte und mir mittheilte, daß sie, in Buschmühl hinter Demmin, im Kruge von dem Verschwinden meines Kindes gehört habe, und daß ihr hierbei eingefallen sei, sie habe kurz nach dem 24. Juni in der Gegend von Spantekow zwischen Jarmen und Friedland drei Wagen mit Zigeunern getroffen und auf einem dieser Wagen ein
blondes Kind bemerkt, welches entschieden nicht zu dieser Bande gehöre, da sie mehrere Mitglieder derselben seit Jahren kenne. Am andern Morgen machte die Rohrbeck dieselbe Aussage auch vor dem Landrathe.
»Ein Motiv zum Raube meiner Tochter wüßte ich nicht, als die Aussicht auf eine etwaige Belohnung oder um das Kind an Gaukler und Seiltänzer zu verkaufen.
»Drohungen sind von herumziehenden Banden niemals gegen mich ausgestoßen worden, ich bin auch niemals mit Zigeunern in
Collision gerathen.
»Die Möglichkeit eines unbemerkten Raubes«, fährt er weiter fort, »hat insofern bestanden, als in der Zeit von 4 bis 5 Uhr nachmittags der Hof wenig belebt gewesen ist, sodaß irgendjemand, durch den 4 bis 5 Fuß hohen Roggen gedeckt, sehr Wohl unbemerkt aus der Forst bis an das Gehöft gelangen, das draußen spielende Kind ergreifen, durch Ansichdrücken am Schreien verhindern und mit demselben nach der Forst zurücklaufen konnte.
»An verdächtigen Personen
sind in der Nähe des Gehöftes am Nachmittag des 24. Juni gesehen worden:
1) Von der Schäferfrau Gahl und der Arbeiterfrau Drews eine Person, welche sich in der Wasserfurche zwischen den Schlägen V und VI hin- und herbewegt haben und schließlich in einer Mergelgrube verschwunden sein soll.
2) Der Tagelöhner Karl Mehardel hat auf dem von Loitz nach Sassen führenden Wege einen ihm unbekannten Mann mit röthlichem Barte, grauem Rock und Hut und einer Wunde auf der Backe
getroffen und mit ihm gesprochen; ein ebenso aussehender Mann ist, nach der Mitteilung des Dienstmädchens Karoline Grauholm, am selben Nachmittage beim Wohnhause gewesen und hat von ihr drei Pfennige Almosen erhalten, Essen jedoch, um das er gebeten, nicht, weil die Wirthschafterin nicht gegenwärtig gewesen ist; darauf hat er sich nach einem Nebenhause gewendet, aber niemand anwesend getroffen. Er ist nun ins Dorf gegangen, wo eine Kathenfrau Schult ihn gesehen hat. Später soll dieser Mensch
über die Brache des Schlages I bei den Gänsehirten vorbei nach Sassen gegangen sein, hier das Dorf abgebettelt, dann beim Krüger Otto in Sassen übernachtet und sich erst am folgenden Tage von dort entfernt haben.«
Auf Grund dieser Aussage, welche von zwanzig andern Zeugen, unter denen namentlich der Fischer Anders eine genaue Beschreibung davon gibt, in wie minutiöser Weise sämmtliche Gewässer der Umgegend durchsucht worden sind, in allen Einzelheiten bestätigt wurde, durfte nunmehr
jede andere Möglichkeit des Verschwindens der Anna Böckler, als durch einen Raub, als ausgeschlossen angesehen werden.
Es schien also ein ganz besonders wichtiges negatives Resultat gewonnen zu sein, ein Resultat, welches wohl geeignet war, dem Gerichte die Ueberzeugung zu begründen, daß das Kind nicht verunglückt, sondern geraubt sei, und daß in dieser Richtung die Untersuchung fortgeführt werden müsse.
Eine Zeit lang schien es auch wirklich, als wenn die Anstrengungen,
welche der Untersuchungsrichter machte, um das Kind zu entdecken, von Erfolg gekrönt sein sollten.
Es wurde ermittelt, daß ein kleines, blondes Mädchen, welches nach vieler Zeugen Aussage der Photographie der Anna Böckler durchaus entsprach, in den Tagen vom 11. bis 13. Juli sich bei einer am 2. August in Flatow, Regierungsbezirk Marienwerder, verhafteten Grünholzschen, und sodann am 15. und 16. Juli wieder bei einer andern, am 28. und 29. Juli in der Gegend von Polnisch-Lissa
verhafteten Krause-Antonschen Zigeunerbande befunden habe. Wenn man die Orte, wo sich die wartiner, die flatower und die polnisch-lissaer Zigeunerbande bewegt hatten, mit den den Zigeunern zu Gebote stehenden Communicationsmitteln verglich, so erschien es durchaus nicht unglaublich, daß das geraubte Kind in den angegebenen Zeiten von einer Bande zur andern geschafft worden sein konnte; und man durfte sich eine Zeit lang Glück wünschen, daß es gelungen sei, die »Fluchtlinie« der Verbrecher so
genau festzustellen.
Wir können es uns jedoch ersparen, die Ergebnisse der Nachforschungen bei den genannten Banden so ausführlich wie die in Wartin zu schildern. Ihr Resultat war schließlich überall nur ein negatives. Das gesuchte Kind kam nirgendwo wieder zum Vorschein und es wiederholten sich im allgemeinen überall die Vorgänge in Wartin. Wir beschränken uns daher auf Folgendes.
Die am 2. August in Flatow verhaftete Zigeunerbande, bei welcher insbesondere ein Gymnastiker
und ein Musikus Grünholz, zwei Brüder, die Concubine des letztern, Christiane Adler, ein Musikus Franz u. a. sich befanden, war am 12. Juli, also vier Tage, nachdem die wartiner Bande sich des bei ihr befindlich gewesenen Kindes entledigt, in Tarnowke (Kreis Flatow) eingetroffen und hatte daselbst übernachtet, war am folgenden Tage nach Petzin gezogen, hatte sich hier eine Weile aufgehalten, war dann über Klakowo weiter gewandert und endlich am 2. August wieder in Tarnowke eingetroffen.
Es haben nun zwei, elf, bezüglich neun Jahre alte, Schulmädchen bekundet: als die Zigeuner das erste mal in Tarnowke eingekehrt wären, hätten sie im Stalle des betreffenden Gasthauses, und zwar unter einer Krippe, ein kleines, blondes Mädchen gesehen, welches geweint habe. In der Photographie der Anna Böckler glaubten sie das Kind wiedererkennen zu können. Als die Bande zum zweiten male nach Tarnowke gekommen sei, habe jenes Kind sich nicht mehr dabei befunden.
Ganz wie in Wartin,
bestritten auch hier die Zigeuner anfänglich durchaus, ein fremdes Kind bei sich gehabt zu haben. Später jedoch gaben nicht nur die Zigeunerkinder Anton Grünholz, Michael Grünholz und Pauline Franz, sondern auch die Musikus Grünholzschen Eheleute es zu. Die Angaben aber, welche sie über die Erlangung und den Verbleib des Kindes machten, widersprachen sich untereinander so sehr, standen auch mit andern, sonst ermittelten Umständen in solchem Widerspruch, daß sie als ein Gewebe frecher Lügen
gelten mußten.
Zuerst traten die beiden Grünholzschen Knaben mit der Erklärung hervor, der Musikus Grünholz habe das Kind von einem Gute mitgenommen. Während aber Anton angab, es sei dasselbe demnächst in Posen für 2 Thaler verkauft worden, behauptete Michael, das Kind sei dem Musikus Franz und von diesem weiter dem Schauspieler Franz übergeben, der es zu Kunststücken habe anlernen sollen. – Pauline Franz erzählte, daß der Musikus Grünholz das Kind in Gnesen in einem großen
reichen Hause abgegeben habe. – Der Musikus Grünholz gab zu vernehmen, daß eines Tages im Sommer, als der Roggen noch grün gewesen, auf dem Wege nach Krojanke (im flatower Kreise) der Musikus Franz mit seiner Familie und einem fremden, der Anna Böckler ähnlichen Kinde zu ihnen gestoßen und mit ihnen bis nach Tarnowke gegangen sei; Franz habe gesagt, er wolle das Kind an jemand zum Auslernen bringen; auch habe derselbe dem Kinde gedroht, ihm den Hals abzuschneiden, wenn es nicht
schweige. In Tarnowke hätten sie sich von der Franzschen Familie wieder getrennt. – Dagegen erklärte dann wiederum die verehelichte Musikus Franz: die ganze Bande sei im Sommer in Pommern gewesen; dort hätte eines Tages der Musikus Grünholz das fremde Kind zu ihnen gebracht und dasselbe sodann in Exin (Regierungsbezirk Bromberg) dem Gymnastiker Grünholz übergeben, der sich später von ihnen getrennt habe. – Michael Grünholz und Pauline Franz behaupteten im Widerspruch mit ihren
frühern Angaben: der Musikus Franz habe das Kind von einem Gute in Pommern mitgenommen; der Vater des Kindes habe sie zu Pferde verfolgt, sich aber zurückziehen müssen, weil er von der ganzen Bande mit Todtschlagen bedroht worden sei. Als das kleine Mädchen ihn von weitem erblickt, habe es gerufen: »Das ist mein Papa Böckler!« Später, nach dem 12. Juli, hätten der Musikus Franz und der Musikus Grünholz das Kind in einem Walde bei Plötzmin unweit Tarnowke mit einer Holzschaufel erschlagen und die
Leiche vergraben. – Zwei Tage später gab die Pauline Franz an, das Kind sei von den beiden Männern schon in dem Stalle in Tarnowke mit einem hölzernen Stiel erschlagen und beim Kirchhofe vergraben worden, die Christiane Adler habe dem Kinde vorher einen Finger abgeschnitten. – In ähnlicher Weise sagte der Musikus Grünholz, das Kind sei in dem Stalle von dem Musikus Franz und einem gewissen Anton Wiese mit einem hölzernen Stiel erschlagen und bei dem Kirchhofe beerdigt worden. Gleich
darauf erklärte er diese Angaben für erlogen. Einen Tag später wiederholte er sie abermals als wahr.
Sowol im Walde bei Plötzmin wie bei und auf dem Kirchhofe zu Tarnowke haben unter Führung der genannten Personen die eingehendsten Recherchen und Nachgrabungen stattgefunden, aber von der Leiche des Kindes ist keine Spur ermittelt worden. Die ganze Erzählung von der Ermordung des Kindes scheint ebenso erlogen zu sein, wie es zweifellos die Geschichte von dem Zusammentreffen der
Bande mit dem Vater der Anna Böckler ist.
Die lissaer Bande anlangend, so bestand dieselbe aus den beiden Familien Anton und Krause, bei der letztern befanden sich die drei Kinder der verwitweten Hammerling. Sie übernachteten am 14. Juli in Langen Guhle, am 15. in Gußwitz, am 16. in Pankowo, trennten sich dann und wurden am 28. und 29. Juli an verschiedenen Orten verhaftet, weil eine erhebliche Zahl von Zeugen aus den Ortschaften, die die Zigeuner passirt hatten, Kinder sowol wie
Erwachsene, mit großer Bestimmtheit bekundete, daß, als die Bande jene Ortschaften durchzog, sich bei derselben zwar ebenso viele kleine Mädchen wie bei ihrer Verhaftung, nämlich drei, befunden hätten, daß aber damals von den drei Töchtern der Witwe Hammerling nur die beiden ältesten dagewesen seien, an Stelle des jüngsten dagegen ein anderes, mit dieser nicht identisches Mädchen, etwas größer als jene, von hellerer Gesichtsfarbe, hellerm Haar und gar nicht wie ein Zigeunerkind aussehend. Es sei
dies den Zeugen schon damals aufgefallen, obgleich sie von dem Verschwinden der Anna Böckler noch nichts gewußt hätten. Jenes Kind erkannten die Zeugen mit größerer oder geringerer Bestimmtheit in der Photographie der Anna Böckler wieder. – Der einen Zeugin, verehelichten Gastwirth Müller, war es aufgefallen, daß das Kind von den Leuten mit besonderer Sorgfalt behandelt wurde und u. a. Eier zum Kaffee bekam. – Der Gastwirth Müller sah, wie eine zu der Bande gehörige Frauensperson
mit dem Kinde Kunststücke zu machen, es auf den Händen zu balanciren versuchte, das Kind aber der Frau ängstlich in die Haare griff und diese von den Versuchen abstehen mußte. – Die dreizehnjährige Ernestine Seiffert hörte, wie das Kind, das auf die Straße gelaufen war, von der Witwe Hammerling zurückgerufen wurde, und darauf in gutem Hochdeutsch erwiderte: »Du denkst wol, ich werde wieder fortlaufen!« Die Hammerling hatte dabei ein Stück Kattun in der Hand, das Kind bat sie um etwas
davon, die Hammerling erklärte jedoch, daß sie daraus der Kleinen eine Jacke machen müsse, und das Kind rief: »Ja, warum habt ihr meine guten Sachen verkauft und zerschnitten!« – Der vierzehnjährige Pferdejunge Altmann sah das Kind im Wagen neben einer Frau und hörte, wie dasselbe rief: »Wo ist mein lieber Papa, meine liebe Mama!« Darauf schlug die Frau das Kind in den Rücken, sodaß es weinte. Später, als die Zigeuner verhaftet worden und vorläufig im Keller des Gutshauses untergebracht
waren, lauschte Altmann nebst dem neunzehnjährigen Oekonomielehrling Haak an der Kellerthür und beide vernahmen, wie eine der dort verhafteten Frauenspersonen klagte: »Ach, meine armen Kinder! Hätte ich doch das nicht gemacht! Hätte ich es doch lieber aus dem Wege gebracht!« und eine andere: »Allmächtiger, ewiger Gott! Warum habe ich das Kind immer mit fortgebracht! Warum habe ich es nicht lieber gleich getödtet!«
Trotz aller dieser doch in der That erheblich verdächtigenden Umstände
bestritten die sämmtlichen Mitglieder dieser Bande auf das entschiedenste und bis zuletzt, daß sie ein fremdes Kind bei sich gehabt hätten, und behaupteten, die Anna Marie Hammerling, und keine andere, sei das Kind gewesen, welches die Zeugen gesehen hätten. Dem traten aber wiederum die Zeugen mit der größten Bestimmtheit entgegen, insbesondere erklärte der Obstpachter Ziegler, daß er eine erhebliche Strecke Weges neben dem Wagen mit dem fremden Kinde hingewandert sei und sich dessen Gesicht
so genau eingeprägt habe, daß bei ihm eine Verwechselung jenes Kindes mit der kleinen Hammerling ganz undenkbar sei. – Aber irgendetwas Weiteres über den Verbleib des Kindes und seine Identität ist trotz aller Mühe nicht zu ermitteln gewesen. –
Daß man den verdächtigen Personen, welche am Tage des Raubes in der Nähe des Hofes gesehen worden waren, nach Möglichkeit nachgespürt hat, bedarf nicht erst der Erwähnung. Jedoch ist es nicht gelungen, ihrer habhaft zu werden.
Ebenso wenig hat man es versäumt, die Möglichkeit eines an dem Kinde verübten Unzuchtsverbrechens ins Auge zu fassen. Es sind deshalb umfassende Ermittelungen angestellt worden, jedoch ebenfalls ohne Erfolg.
Inzwischen widerriefen die in Wartin geständig gewesenen Zigeuner, ins Gefängniß übergeführt, ihre Geständnisse. Die Nachforschungen in Wartin nach der Leiche des Kindes und die Feststellung des Weges, den die Bande bis nach Wartin genommen hatte, bewiesen, daß die
frühern Geständnisse zum Theil in der That unwahr gewesen waren. Endlich gelang es trotz aller Mühe und aller hier und dort auftauchenden Anzeichen nicht, den Rudolf Schröder, der das Kind von Wartin fortgebracht haben sollte, aufzufinden.
So fiel denn das mit so vielen Mühen und Kosten aufgerichtete Gebäude unter der prüfenden Hand des Untersuchungsrichters Stück für Stück zusammen. Es blieb zuletzt kein einziger positiver Anhalt mehr, die Untersuchung fortzusetzen, und trotz alles
noch fortbestehenden Verdachtes sah sich das Gericht genöthigt, wegen Mangels an Beweisen die Untersuchung einzustellen. Am 27. Februar 1873 wurde der letzte der verhafteten Verdächtigen – nach und nach waren 57 Zigeuner verhaftet worden – in Freiheit gesetzt.
Man nahm nun an, daß Anna Böckler, wenn nicht nachträglich noch ermordet, jedenfalls in so unerreichbare Ferne, nach Rußland oder Ungarn, entführt, oder aber so tief versteckt sei, daß vorläufig an ein Wiederfinden
nicht zu denken war. Man hoffte von der Zeit dermaleinst die Lösung des so ergreifenden wie beschämenden Räthsels, daß die große Opferwilligkeit der trauernden Aeltern, die angespannteste Thätigkeit des Staates nicht im Stande gewesen war, weder durch Gewalt und Zwang, noch durch lockende Belohnung den Räubern ihre Beute zu entreißen.
Es verlohnt sich hier wol, über die Anstrengungen, die in diesem ungewöhnlichen Falle gemacht wurden, einen Ueberblick zu geben. Erwähnt ist schon, daß
auf die Wiederauffindung des Kindes vom Staate eine Prämie von 300 Thlrn., von dem Vater eine solche von 100 Thlrn., dann von 500 Thlrn., endlich von 2000 Thlrn., und für die Auffindung der Leiche eine Belohnung von 1000 Thlrn. aussetzt wurde. Erwähnt sind die mühevollen Durchforschungen der Gewässer auf der Feldmark Treuen, die von den Suchenden zu Boden getreteneu Saaten. Das ganze Jahr hindurch unterhielt der Vater mit theuerm Gelde Agenten und war selbst, mit Hintansetzung seiner
Wirtschaft, fortwährend auf Reisen, um bald hier, bald dort aufgefundene Kinder, die seiner Tochter ähnlich sehen sollten, zu recognosciren, – stets mit neubelebter Hoffnung und mit desto bittererer Enttäuschung!
In nicht weniger als zwanzig gewaltigen Actenvolumen, während eines halben Jahres zusammengeschrieben und weit über 3000 Folien (fast lauter enggeschriebene Zeugenvernehmungen, Berichte u. dgl.) enthaltend, liegt der Fleiß der Behörden vor uns aufgespeichert, derjenigen
Acten nicht zu gedenken, die bei auswärtigen Polizei- und Gerichtsbehörden beruhen geblieben und nicht hierher gelangt sind. Ueber 300 Telegramme sagen uns, daß man den Werth einer schnellen Correspondenz wohl zu schätzen gewußt hat.
Die entstandenen Kosten lassen sich leider nicht genau berechnen, da die Kostenliquidationen sich vielfach nicht bei den Acten befinden, vielfach auch, z. B. die Kosten für Insertionen in Zeitungen, gar nicht liquidirt worden sind. Jedoch mag die
Bemerkung nicht uninteressant sein, daß für Photographien, der Anna Böckler sowol als auch von angehaltenen Zigeunern nicht weniger als 89 Thlr. 10 Sgr. 6 Pf. verausgabt worden sind, und, daß die Nachsuchungen nach der Leiche in Wartin einen Kostenaufwand von 96 Thlrn. erfordert haben.
So thätig die Justiz, so willig und bereit zu helfen war die Polizei und die gesammte innere Verwaltung. Der Minister des Innern entsandte aus Berlin drei besondere Polizeibeamte, gab die Spalten
sämmtlicher Regierungsamtsblätter zu den umfangreichsten Publicationen her; eine allgemeine Landesvisitation sogar wurde in Aussicht genommen, und nur wegen der Unzweckmäßigkeit der Maßregel unterlassen. Statt dessen erging an sämmtliche Landräthe und Amtshauptleute der Monarchie eine dringende Mahnung zur äußersten Vigilanz.
Eine ähnliche Verfügung wurde auf Anregung eines Anonymus, anscheinend eines Postbeamten, von seiten des Generalpostamts an sämmtliche Landbriefträger
erlassen.
Das auswärtige Ministerium endlich setzte sich mit den Regierungen der übrigen deutschen Staaten, Oesterreichs und Rußlands in Verbindung und erhielt nicht blos die bereitwilligste Zusage der Hülfeleistung, sondern diese Regierungen ergriffen auch in der That energische Maßregeln gegen Vagabunden, bei denen man das verlorene Kind vermuthen durfte.
Diese übermäßigen Kraftanstrengungen, diese gewaltige Arbeitsleistung, diese Opferwilligkeit und Hülfsbereitschaft
aller angegangenen Behörden und Personen, – wahrlich das ist eine hellstrahlende Lichtseite der Untersuchung! Denn wohlgemerkt, es handelte sich nicht etwa um eine besondere staatliche Angelegenheit, nicht etwa um einen Proceß Bazaine, sondern es handelte sich darum, – einem unglücklichen Aelternpaare zu dem verlorenen Töchterchen wieder zu verhelfen!
Allein wenn wir auch sagen dürfen, daß der Staat und die Staatsbehörden ihre Schuldigkeit in vollem Maße gethan haben, so
wird dadurch doch der peinliche Eindruck nicht verwischt, daß alle diese Anstrengungen vergeblich gewesen, daß dabei nicht blos Geld und Arbeit nutzlos aufgewendet, sondern auch fast 60 Menschen wochen- und monatelang in Haft gehalten worden sind. Man darf deshalb wohl fragen: Sind die verfolgenden Behörden nicht etwa doch zu bereitwillig auf die Annahme eingegangen, daß Anna Böckler geraubt worden sei? Haben sie nicht zu vorschnell, auf einen, bald darauf als unbegründet erwiesenen Verdacht
hin, so viele Menschen verhaftet? War es wirklich gerechtfertigt, die höchsten Spitzen der Behörden, die Diplomatie sogar in Mitleidenschaft zu ziehen? vor dem Auslande die Schwächen und Irrthümer unserer Criminalpolizei und Criminaljustiz ohne Noth zu enthüllen? Es ist nicht unseres Amtes, Lob oder Tadel auf die Behörden zu werfen, die in dieser merkwürdigen Untersuchung thätig gewesen sind. Aber das Eine müssen wir betonen: Auch für uns und im gegenwärtigen Augenblicke noch gilt als
erwiesen, daß, von der flatower, der lissaer, der pencuner u. a. Banden zu schweigen, bei der wartiner Zigeunerbande am 8. Juli ein blondes Kind vorhanden war, welches in der Zeit von 6 bis 10 Uhr abends spurlos verschwunden ist.
An diesem Resultat kann namentlich der Jurist nicht zweifeln, wenn er sich nicht die Grundlage, auf der alle seine Feststellungen ruhen, unter den Füßen fortziehen lassen will, die Berechtigung nämlich, Glauben schenken zu dürfen den Zeugenaussagen, die
materiell und formell die Anzeichen der Glaubwürdigkeit an sich tragen. Und diese Anzeichen tragen die Zeugenaussagen, auf welche die obige Annahme sich stützt, in hohem Grade an sich, mag man sie prüfen nach freier, oder nach irgendwelcher formellen Beweistheorie.
Geirrt hat also die Untersuchung nur darin, daß sie das in Wartin verschwundene Kind für die Anna Böckler hielt, und vielleicht (!) darin, daß sie annahm, das verschwundene Kind sei ein geraubtes, während das erstere
später widerlegt und das letztere bisher nicht erwiesen ist. Die in Scene gesetzte Verfolgung war daher mitnichten eine Jagd nach Schatten; sie hatte ein durchaus reales Ziel, die Wiederauffindung eines wirklich auf unerklärte Weise, fast unter den Händen der Behörden verschwundenen Kindes. Das Räthsel jenes Verschwindens ist auch durch die Auffindung der Leiche Anna Böcklers nicht gelöst. Denn wo jenes Kind, welches die Bande bis zum 8. Juli abends in Wartin bei sich hatte, hingekommen, ob es
ermordet oder einer andern Bande übergeben, aus welchen Gründen dies geschehen ist? das sind Fragen, deren Beantwortung wir von der Zukunft erwarten müssen.
Wenn dem aber so ist, dann ist es zwar tief zu beklagen, daß alle aufgewendeten Mittel nicht hingereicht haben, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, aber durchaus nicht ist es zu tadeln, daß jene Mittel angewendet worden sind, daß Polizei und Gericht sich nicht besonnen haben, fest zuzufassen, wo Verdacht hervortrat, daß sie
sich nicht gescheut haben, die gesammten Kräfte des Staates aufzubieten; und nicht beschämend ist es für den Staat, daß er sich erfolglos hat in Thätigkeit setzen lassen, sondern es verdient Lob, daß er es so bereitwillig gethan im Dienste der Justiz!
Mit diesen Erwägungen dürfen wir indeß nicht schließen. Denn so tröstlich sie auch sein mögen, – das Wünschenswerthere ist denn doch, daß solche Untersuchungen in Zukunft sich nicht wiederholen. Wir haben also noch zu erörtern: was
hat die Wissenschaft aus dieser Untersuchung gelernt? Wie können wir in Zukunft vermeiden, daß solche enorme Kraftanstrengungen vergeblich gemacht werden?
Zu unserm Bedauern müssen wir gestehen: die Wissenschaft hat so gut wie keinen Gewinn gehabt. Nichts als die Bestätigung ein paar schon längst bekannter und zwar nicht einmal positiver, sondern lediglich negativer Sätze:
1) daß ohne einen unzweifelhaft feststehenden, objectiven Thatbestand eine Untersuchung schwierig
zu führen ist;
2) daß erzwungene Geständnisse keinen Werth haben, und selbst, wenn sie nicht unter dem Einflüsse des Zwanges abgelegt werden, nicht immer Glauben verdienen;
3) daß Recognitionen stets bedenklich sind, namentlich auch Recognitionen nach Photographien.
Die im ersten Satze betonte Schwierigkeit kann nicht gehoben werden, wenn es sich, wie beim Menschenraube, um Delicte handelt, deren Thatbestand eben in dem Fortschaffen des corpus delicti besteht.
Der zweite Satz ist in aller Munde und bedurfte kaum noch der neuen Bestätigung durch die Affaire in Wartin; – doch zeigt der Vorgang mit der Reitpeitsche, wie wenig durch die theoretische Anerkennung auch die praktische Uebung garantirt wird.
Der dritte Satz endlich gehört ganz in das Gebiet der tiefsten psychologischen Speculationen, und seine befriedigende Erledigung ist davon abhängig, ob es der Psychologie gelingen wird, die Relation aufzufinden, welche in der Seele
besteht zwischen zwei ähnlichen Wahrnehmungen. Bis dahin aber verzichten zu sollen auf das Beweismittel der Recognition, weil seine Schwächen hier so besonders scharf hervorgetreten sind, – das wäre eine Zumuthung, der die Criminaljustiz Folge zu leisten nicht vermöchte.
So also erweist sich der Nutzen, den die Wissenschaft aus dem so umfangreichen Material gezogen hat, so ziemlich gleich Null. Denn was sonst noch von allgemeinerer Bedeutung zu Tage getreten ist, namentlich
Beobachtungen über das Leben und Treiben der Zigeuner und Vagabunden, ist so sehr von Lüge und Dunkel umwoben, daß es zur Zeit noch nicht darauf Anspruch machen kann, in den Büchern der Wissenschaft Aufnahme zu finden.
Hiermit könnten wir diesen Abschnitt unserer Darstellung schließen, und müßten es eigentlich; denn der Fall Böckler ist erschöpft. Aber wir würden dann unserer Aufgabe doch nicht vollständig genügen. Mit Recht kann man von uns Auskunft darüber verlangen,
welche Bewandtniß es gehabt hat mit den übrigen Anzeichen von der Auffindung der Anna Böckler, die doch so vielfach die Zeitungen füllten, und wie es sich verhält mit den fremden Kindern, die bei den Zigeunern aufgefunden worden sind.
Zu unserer eigenen Ueberraschung ist die Ausbeute dieser sozusagen romantischen Seite der Sache eine ganz unerwartet dürftige. Zwar quantitativ ist das Material fast überwältigend, wie aus einer kurzen Uebersicht der Ortschaften, wo überall Anna Böckler
gesehen sein sollte, sofort klar werden wird. Aber sachlich zeigten sämmtliche Anzeigen eine nur zu triste Gleichartigkeit. Fort und fort kehren in ihnen dieselben trügerischen Indicien wieder als Beweise für die Identität des Kindes: blonde Haare, blaue Augen, gewölbte Stirn, »gänzlich anderes Aussehen als das der andern Zigeunerkinder«, bessere Kleidung, gesitteteres Wesen, bescheidene Zurückhaltung, namentlich beim Betteln, der Name Anna, den das Kind führt, bald eine besonders
zuvorkommende, dann wieder eine besonders rauhe Behandlung von seiten seiner Begleitung, der Ruf nach »Papa« und »Mama«, Weinen und betrübtes Aussehen – das ist es, was sich immer wiederholt: man kennt fast alle Anzeigen, wenn man eine kennt. Fort und fort tragen dabei die Anzeigen schon deshalb den Stempel der Unzuverlässigkeit an sich, weil sie sich meistens beziehen auf Wahrnehmungen, die schon vor mehrern Tagen und Wochen gemacht sein sollen, als man dort von dem Verschwinden der Anna
Böckler noch nichts wußte. Fort und fort wird das Kind in der Photographie der Anna Böckler wiedererkannt mit »völliger Bestimmtheit« – und nirgends verdienen diese Recognitionen Glauben. Es würde uns nicht verziehen werden, wenn wir hier irgend vollständig sein wollten. Aber wenn der Leser uns dankbar ist für die gekürzte Darstellung des ermüdenden Materials, so wolle er dabei nicht versäumen, sich recht lebhaft vors Auge zu führen die qualvolle Lage der Aeltern, denen jede sich
wiederholende Anzeige nicht Langcweile brachte, sondern den furchtbarsten Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung, die aufreibende Thätigkeit des Richters, an dessen Arbeitskraft sie alle die unerhörtesten Anforderungen machten, dem, bei dem lebhaften telegraphischen Verkehr, nicht bei Nacht und nicht bei Tage Ruhe gegönnt ward, dem neben dem Mitleiden mit den unglücklichen Aeltern auch die schwere Verantwortlichkeit für so viele Verhaftungen oblag, und der dann schließlich auch – mit
monatelanger Krankheit die übermäßige Anstrengung seiner Kräfte büßen mußte!
Nach den in den Acten befindlichen Anzeigen sollte Anna Böckler (außer an den schon erwähnten Orten) gesehen worden sein:
Ende Juni: bei Demmin (Pommern), bei Franzburg (Pommern), bei Egeln (Provinz Sachsen).
Anfang Juli: in Stettin, bei Gmünd (Würtemberg), in Prechlau (Westpreußen), bei Krojanke (Westpreußen) im Kreise Kottbus.
Ferner an speciell genannten Tagen: Am 6. und
7. Juli: im Kreise Mansfeld.
Am 8. Juli: bei Garz a. O., bei Schwedt a. O., bei Dümmer (Mecklenburg)!
Am 10. Juli: in Boddin (Mecklenburg).
Am 11. Juli: in Wyssogotowo (Posen).
Am 12. Juli: in Dannenberg auf Usedom, in Kohlfurth (Schlesien).
Am 13. Juli: bei Radolfzell (Baden), bei Wiche (Provinz Sachsen).
Am 14. Juli: auf der Bahnstrecke Elbing-Bromberg, in Woldyck (Mecklenburg).
Am 15. Juli: in Tluczewo
(Westpreußen).
Mitte Juli: bei Ludwigsburg (Würtemberg), bei Landsberg (Schlesien).
Am 16. Juli: in Dziencelitz (Westpreußen).
Am 17. Juli: in Königsberg in Preußen.
Vom 17. bis 23. Juli: bei Horsens (Dänemark).
Am 18. Juli: bei Louisdorf (Schlesien), bei Pölitz (Pommern).
Am 19. Juli: in Löcknitz (Pommern), in Wildemann bei Klausthal.
Am 21. Juli: bei Neustettin (Pommern), bei Myclowitz (Schlesien), bei Czarnikau
(Posen), bei Bramsche (Hannover), bei Jäckheim (Ostpreußen), bei Neuenheim (Baden), bei Gladowken (Ostpreußen), bei Kuttenberg (Böhmen).
Am 21. Juli: bei Lötzen (Ostpreußen), bei Alt-Damm (Pommern), bei Obermaßfeld (Meiningen), bei Schwetz a. W. (Westpreußen).
Am 22. Juli: bei Neuzelle (bei Frankfurt a. O.), bei Reichenbach und Görlitz, bei Tettnang (Würtemberg).
Am 23. Juli: bei Ravensberg (Würtemberg), bei Hedersleben (Provinz Sachsen).
Am 24. Juli:
bei Grabowke (Schlesien), bei Klein- Katz (Westpreußen).
Am 25. Juli: bei Annaberg (Provinz Sachsen), bei Sandhübel (Oesterreichisch-Schlesien).
Am 26. Juli: bei Leunenburg (Ostpreußen).
Am 27. Juli: bei Groß-Sachsenhausen (Würtemberg).
Am 28. Juli: bei Straßburg (Westpreußen), bei Rothenburg a. d. Tauber, bei Wurzen bei Leipzig.
Am 30. Juli: bei Ruhland (Provinz Sachsen), bei Weingarten (Würtemberg).
Ende Juli: in Antwerpen, bei
Cannstatt (Würtemberg).
Im Juli und August: an mehreren Orten in Rußland.
Anfang August: bei Horn (Nieder-Oesterreich), bei Olterndorf (Hannover), bei Angerburg (Ostpreußen), bei Falkenburg (Regierungsbezirk Potsdam), bei Lezajsk (Galizien), bei Wolfenbüttel, bei Tempelburg (Pommern), bei Rzeptsch (Schlesien).
Am 1. August: bei Frankenstein (Schlesien), bei Königszell (Schlesien), bei Göppingen (Würtemberg).
Am 2. August: bei Atens (Oldenburg), bei
Flettmar (Hannover), bei Mergentheim und Tauberbischofsheim (Würtemberg).
Am 4. August: bei Frankfurt a. M.
Am 5. August: bei Eybach (Würtemberg).
Am 7. August: in Utenroth (Rheinprovinz).
Am 8. August: in Holxen (Hannover).
Am 9. August: bei Frankenhausen (Schwarzburg - Rudolstadt).
Am 11. August: in Broistedt (Braunschweig).
Am 12. August: in Donauwörth, in Hammelschein (Schwarzburg - Rudolstadt).
Mitte
August: in Lieberose (Provinz Brandenburg), in Kralowic (Böhmen), in Alten-Plathow (Kreis Genthin), in Tempelburg (Pommern).
Am 15. August: im Kreise Randow.
Am 16. August: bei Lichten (Oesterreich-Schlesien).
Am 18. August: bei Hersbruch (Baiern).
Am 19. August: bei Oldendorf (Regierungsbezirk Minden).
Am 29. August: bei Schwarzburg-Rudolstadt.
Ende August: bei Altenstein (Ostpreußen), in Thun und Münchenbucksee (Schweiz).
Im August und September: an mehreren andern Orten in der Schweiz und im südlichen Baden.
Am 4. September: in Salzungen (Meiningen).
Am 9. September: bei Nyitra-Zrambokost (Ungarn).
Am 10. September: bei Uerdingen (Rheinprovinz).
Mitte September: in Bern und Luzern, in Friedrichshagen (Regierungsbezirk Potsdam).
Am 19. September: in Havre, in Ischl.
Zu Anfang October: in Halle.
Am 30. October: bei Neustettin.
Anfang November: in Saint-Louis (Nordamerika).
Am 11. November: bei Spremhagen (Regierungsbezirk Potsdam).
Am 1. November: in Greifenberg (Pommern).
Im November sonst noch: in Luckau und in Freistadt (Provinz Brandenburg), in Gruenberg (Schlesien).
Im Januar 1873: in Bocina (Kroatien).
Im Februar 1873: in Odessa.
Und von diesen unzähligen Anzeigen blieb keine einzige ungeprüft, auch wenn sie lautete wie etwa die folgende
der Polizeibehörde von Lezajsk (Galizien):
»In Lezajsk ist von einer unbekannten Person ein Mädchen zurückgelassen worden. Dieses Mädchen nennt sich selbst Bosia, ist circa vier Jahre alt, behauptet, daß seine Mutter in Pommern gewesen, und die, welche sie zurückgelassen habe, sei ein altes Weib.
»Signalement: rundes Gesicht, schwarze Augen, hellblonde Haare, auf der linken Seite Geschwürnarben unweit der Achsel, hat ein gutes Gedächtniß und
stammt aus einem polnischen Hause, versteht etwas und ist ungewöhnlich heiter und lebhaft, behauptet auch, daß es mit der sogenannten Eisenbahn gefahren sei.«
Selbst eine solche Anzeige erschien nicht von vornherein der Berücksichtigung unwerth. Man zweifelte lieber an der richtigen Beschreibung des gefundenen Kindes, als daß man versäumen mochte, den angebotenen Fingerzeig zu verfolgen. Man ließ sich von dem kleinen Findlinge eine Photographie schicken, die
dann freilich sofort ergab, daß derselbe Anna Böckler nicht war, wie er es ja schon der Beschreibung nach nicht sein konnte.
Und doch war es keineswegs eine übertriebene Sorgfalt, wenn man auch in den Fällen, wo die Personalbeschreibung nicht stimmte, Nachforschungen anstellte. Man durfte sich nicht einmal zu streng an die angegebenen Erlennungsmerkmale binden, z. B. nicht an die angegebene Kleidung, sondern mußte auch die Möglichkeit mit berücksichtigen, daß das Mädchen in
Knabenkleider gesteckt sein könnte.
Bisweilen freilich fand man in den Knabenkleidern auch wirklich Knaben. So z. B. in einem Falle, wo die betreffende Polizeibehörde, ihrer Sache gar zu gewiß, eine Bekanntmachung dahin erlassen hatte:
»Am 15. Juli ist in Tluszewo (Kreis Neustadt) eine Zigeunerbande eingetroffen, welche anscheinend das dem Domänenpachter Böckler aus Treuen geraubte Töchterchen, Anna, mit sich geführt hat. Die Anna Böckler war mit einem Knabenanzuge
bekleidet u. s. w.«
In andern Fällen dagegen bestätigte sich die Vermuthung einer Verkleidung. So erwiderte der Förstersfrau S. in Leunenburg (Ostpreußen) eine in dem Kruge einkehrende Zigeunerin, die einen kleinen blonden Knaben bei sich hatte, auf die Frage: »Was sie da für ein hübsches Jungchen habe!« »Das Kind sei kein Knabe, sondern ein Mädchen; es sei in einem fremden Lande ein Kind geraubt, man habe das ihrige für das geraubte gehalten und sie daher (und zwar, wie die Acten
allerdings ergeben, bei Bartenstein) in Haft genommen, später aber wieder losgelassen, weil sich herausgestellt habe, daß das Kind das geraubte nicht sei.« – Der Grund der Verkleidung wird hier kein anderer gewesen sein als die Hoffnung, auf diese Weise fernern polizeilichen Belästigungen wegen des eigenen Kindes zu entgehen; in andern Fällen mochte sie freilich gewählt worden sein, um ein wirklich geraubtes Kind zu verheimlichen.
Daß übrigens dieselben Personen wegen desselben
Kindes wiederholte Verfolgungen zu erleiden hatten, kann eigentlich kaum wundernehmen, und ist auch in der That mehrfach vorgekommen. So wurde in Baiern und Baden eine und dieselbe Bärenführerbande nacheinander von mehrern Orten aus verfolgt, die sie mit einem zwei- und einem siebenjährigen Kinde nach und nach durchzogen hatte. Etwas Aehnliches berichtet die Polizeiverwaltung zu Goslar:
»Von den hiesigen Landgensdarmen wurde eine Hausirerfamilie Namens E. aus dem Nassauischen auf
der Landstraße angehalten und mir vorgeführt, weil sie in einem der vier mitgeführten Kinder, Namens Anna, eine Aehnlichkeit mit der Photographie der Anna Böckler zu finden meinten, und weil dieselbe bei geschehener Besichtigung eine kleine Narbe auf der linken Brustseite aufzuweisen hatte. Trotz dieses Umstandes und trotz des Zusammentreffens noch der fernern Umstände, daß das Kind auch etwa vier bis fünf Jahre alt sein mag, daß es kurzgeschnittenes, blondes Haar und blaue Augen hat, zeigt
dennoch eine kurze Prüfung, daß es die vermißte Anna Böckler nicht ist. – Die Photographie der letztern trifft mit der Anna E. durchaus nicht zu, die Stirnbildung und der Bau des Gesichts sind so wesentlich verschieden, daß eine Täuschung nicht für möglich zu halten ist. Die Narbe auf der linken Brust ist nach Aussage eines zugezogenen Arztes nicht die von einem Schnitt, sondern entweder eine Rißwunde oder eine Blatternarbe. Das Kind besitzt außerdem ein auffallendes Merkmal in einer
braunen Warze im Nacken, welche unbedingt den Aeltern bekannt sein mußte, in dem Signalement der Anna Böckler aber fehlt. Das Kind spricht in einem breiten Dialekt, wie er gerade in den untern Volksschichten gehört wird, es bewies entschiedene Zärtlichkeit gegen seine Aeltern, nannte mit vollster Unbefangenheit die Namen des Vaters und seiner Geschwister, und ist ein Kind in blühendster Gesundheit, welche gewiß nicht zu finden wäre, wenn eine sechswöchige Dressur ihm alle jene Aeußerungen hätte
zu eigen machen müssen. – Der Vater erscheint vollkommen unverdächtig, er beklagte sich darüber, daß er wegen gleichen Verdachtes nun schon zum dritten mal angehalten werde; er erklärte sich sofort bereit, hier in Goslar so lange zu bleiben, bis er durch Erwirkung eines Geburts- und Taufscheins die Namen und das Alter seiner drei ältesten Kinder (Anna ist die jüngste) nachgewiesen haben würde. Die Mutter erklärte, bei aller sonst dem Kinde bewiesenen Zärtlichkeit, daß sie das Kind dem
Domänenpachter Böckler mit Freuden, wenn es verlangt würde, überlassen wolle, da es dort ein besseres Los zu erwarten habe als bei den eigenen Aeltern.«
Diese Berichterstattung ist besonders werthvoll wegen der ruhigen, kühlen Beurtheilung der einzelnen Indicien, – leider eine nicht besonders häufige Ausnahme in dieser Untersuchung, bei der, im Publikum wenigstens, von Anfang an gar zu sehr das Herz mitgesprochen hat und – die Gewinnsucht! Zwei Momente, welche gar leicht
dazu verführen, daß man bloße Hoffnungen für Gewißheit hält.
Einen Fall vorschnellen Urtheils haben wir bereits in dem tluszewoer kennen gelernt; hier noch ein paar andere.
Im »Prager Abendblatt« vom 13. August 1872 war zu lesen:
» Anna Böckler in Böhmen. Die bisherigen Nachforschungen nach dem Aufenthalte der von einer Zigeunerin geraubten vierjährigen Tochter des Domänenpachters Böckler zu Treuen in Preußen haben zur Gewißheit ergeben, daß die
Zigeunerin mit dem Kinde sich in Böhmen herumtreibt. Am 26. Juli erschien nämlich in dem Selcherladen der Frau Swoboda in Kuttenberg eine Zigeunerin, die auf dem Rücken ein beiläufig vier bis fünf ein halb Jahre altes Kind trug, welches sie mit dem Rocke bis zum Halse zugedeckt hatte. Dieses Kind hatte ein dunkles Tuch um den Kopf gewunden und war sehr stark verweint, sodaß die Selcherin gerührt wurde und das Kind näher beobachtete. Als man der Selcherin später die Photographie des geraubten
Kindes vorwies, erkannte sie mit voller Bestimmtheit dasselbe auf den ersten Blick wieder. Sonntag, den 28. Juli, stand der Leierkastenmann Wenzel Horececk auf der Straße unweit Lorec. Da kam ein ganz eingehülltes Weib, das ein etwa vierjähriges Kind im Arme trug. Das Kind weinte und rief stets die Worte: »Nach Hause! Nach Hause!« Dem Manne war um das Kind leid, weshalb er dasselbe genau besichtigte und ihm einige Worte böhmisch zuflüsterte, die es jedoch nicht verstand. Als man dem
Leierkastenmann die Photographie des Kindes zeigte, rief er: »Das ist dasselbe, welches ich bei der Zigeunerin gesehen, darauf könnte ich schwören!« Am 26. Juli wurde das Kind auch von einem gewissen Alois Slezak zwischen Malin und Sedlec gesehen. Die Zigeunerin befand sich in Begleitung eines Zigeuners und eines andern Mannes. Elfterer drohte von rückwärts dem Weibe fortwährend mit dem Stocke und rief: »No ty si něco vyvedeš!« (»Nun, du wirst dir etwas anstellen!«) Aus allem geht
hervor (?), daß die Zigeunerin sich stets der Aufmerksamkeit der Polizeiorgane zu entziehen wußte. Da am 26. Juli in Neuhof ein Pferdemarkt abgehalten wurde und das Weib mit dem Kinde sammt einem Zigeuner und fremden Manne, wahrscheinlich einem Unterstandgeber, diesem Orte zuschreitend gesehen wurde, so läßt sich vermuthen, daß das Kind sich in einer zum Scheine den Pferdehandel betreibenden Zigeunerbande befindet. Die Zigeunerin ist u.s.w.« (Folgt eine Beschreibung derselben.)
Die
weitern Nachforschungen ergaben kein Resultat.
In ähnlich bestimmter Weise brachte »Der Tagesbote aus Böhmen« die Nachricht: »Die langgesuchte Anna Böckler sei nunmehr in Kralowic gefunden. Der Finder solle ein Militärurlauber sein. Derselbe habe aus dem Aufenthalte einer größern Zigeunerbande, die bei Kralowic ein förmliches Lager aufgeschlagen, die Muthmaßung geschöpft, die ihn auch richtig zum erwähnten Ziele geführt. Er habe sich mit zwei Mann in das Lager begeben und in
Gesellschaft einer kauernden Zigeunerbande ein Kind, welches nach der Beschreibung auf Anna Böckler hätte schließen lassen, bemerkt. Rasch heranschreitend habe er an das Kind die Frage gerichtet, ob es zu seinem Vater wolle. Mit unbeschreiblicher Freude sei auf diese deutsche Anfrage das Kind in die Arme des Urlaubers gestürzt, und nach einigen Fragen habe ein längerer Zweifel über die Identität der Gefundenen nicht mehr obwalten können. Zwei von den Zigeunern seien festgenommen worden, den
übrigen sei es gelungen, zu entfliehen.«
Das Bezirksamt zu Kralowic erklärte auf ergangene Anfrage die ganze Nachricht für unbegründet.
Ebenso ohne allen thatsächlichen Halt scheint eine Nachricht aus Montjoie zu sein, dahin gehend, daß in Antwerpen ein blondes Mädchen von vier bis fünf Jahren auf der Straße aufgefunden und auf das Polizeibureau gebracht worden sei, wo sich herausgestellt habe, daß dasselbe ein fremdes Kind sei, da es das Flämische nicht verstände. Die
Polizei von Antwerpen erklärte die ganze Anzeige für eine Fabel.
Fast noch frivoler erscheint eine telegraphische Anzeige aus Meiningen: daß dort ein Kind bei Zigeunern gesehen worden sei, welches, der Anna Böckler gleichend, diese wol sein möge. Sofort wurden die erforderlichen Ermittelungen angestellt und dieselben Zeuginnen, auf deren Mittheilung hin, wie man annehmen muß (genau läßt sich dies aus den Acten nicht ersehen), jenes Telegramm abgelassen worden ist, gaben nunmehr von
dem Kinde folgende Beschreibung: »Es habe loses kurzgeschnittenes Haar gehabt und allerdings hübsch hochdeutsch gesprochen; dies sei ihnen zwar aufgefallen, habe sie aber doch nicht zweifeln lassen, daß das Kind zu den Zigeunern gehöre; im Gegentheil habe das Mädchen ganz den Eindruck gemacht, als gehöre es zu den Zigeunern, habe auch nicht vier bis fünf Jahre, sondern sieben bis neun Jahre alt geschienen, habe nicht blonde, sondern dunkle, nach Aussage der einen Zeugin braune,nach der der
andern gar schwarze Haare gehabt, und im Gesicht viele Pockennarben.«
Es ist bedauerlich, daß in dieser frivolen Weise mit den schmerzlichsten Gefühlen der unglücklichen Aeltern gespielt worden ist, – sollte es auch nur aus Unverstand geschehen sein und nicht aus Begehrlichkeit nach den Prämien, – ganz abgesehen von dem Schaden, den diese Anzeigen dem ruhigen Gange der Untersuchung bringen mußten.
Noch schlimmer, wenn sich mit solchem Leichtsinn Feigheit und
Indolenz paarten.
In Celle läßt sich am 7. August der Gastwirth K. aus M. dahin vernehmen:
»Am Freitag voriger Woche sei ein Zigeunertrupp bei Flethmar eingetroffen, bestehend aus drei Männern, zwei Frauen und zwei Kindern, welche bei ihm Logis genommen. Bei ihnen sei ein kleines etwa viereinhalbjähriges Mädchen gewesen mit blauen Augen und durchfetteten, daher dunkel aussehenden Haaren, welches offenbar nicht zu ihnen gehört habe, sehr eingeschüchtert gewesen und sehr
streng behandelt, namentlich viel geschlagen worden sei. Das kleine Kindchen sei stets bei einer der Frauen gewesen und von dieser überwacht worden. Am Sonntage habe er in der Zeitung Näheres über das Abhandenkommen der Anna Böckler gelesen und nun sei in ihm der Verdacht entstanden, daß das Mädchen Anna Böckler sei. Er habe Gelegenheit gesucht, das Kind allein zu sprechen, allein man habe dies stets zu verhindern gewußt, obschon er gar nichts von seinem Verdachte geäußert. Endlich aber sei
es ihm dennoch gelungen, dem Kinde sich zu nähern, und als er gefragt: ›>Wie heißt du denn?<‹ habe das Kind scheu nach der Zigeunerin sehend mit weinerlicher Stimme gesagt: »Das weiß ich nicht.« Als er ihm leise zugeflüstert: »Heißt du Anna?« habe das Kind erwidert: »Anna Böckler«.«
Diese Anzeige erstattete K. erst, nachdem die Zigeuner seinen Krug verlassen hatten. Er war nicht muthig genug gewesen, sie nach der Herkunft des Kindes zu fragen und anzuhalten,
weil er, wie er sagt, »den Spectakel nicht in seinem Hause habe haben wollen«!! Selbstverständlich wurde sofort mit aller Eile den Zigeunern nachgesetzt; und als man sie erreichte, erwies das Kind sich – als das sechsjährige etwas verzogene Großkind des Bandenführers, das, wenn vielleicht auch streng gehalten, sich selbst über strenge Behandlung nicht beklagte, ganz anders aussah wie Anna Böckler und urkundlich als das Kind legitimirt wurde, für welches man es ausgab. Nunmehr erklärte der
Zeuge sogar, daß das Kind sich nicht Anna Böckler, sondern nur Anna genannt, und daß er seine frühere Angabe nur aus Unbedachtsamkeit (!) gemacht habe. –
Die meisten Kinder, die man bei Zigeunern anhielt, wurden von diesen als ihre eigenen Kinder, resp. die von Verwandten legitimirt, welche, wie es ja überall vorkommt, »ein wenig aus der Art geschlagen« waren bezüglich der Haare, der Augen u. dgl. In der großen Mehrzahl von Fällen freilich sind die Zigeunerbanden und die
Kinder, auf welche die Anzeigen sich bezogen, nicht aufzufinden gewesen, und bezüglich dieser Fälle schwebt ziemliches Dunkel über den betreffenden Vorfällen.
Vom Kaufen und Verkaufen von Kindern ist in den Acten mehrfach die Rede. Die Bürstenmacher D.schen Eheleute in Lissa z.B. erzählen von ihrer Tochter, daß dieselbe ihr uneheliches zweijähriges Kind an die Kr.sche Künstlerfamilie habe verkaufen wollen, daß aber sie, die Großältern, das Kind zu sich genommen und so das Geschäft
hintertrieben hätten. Diese Künstlerfamilie habe schon früher ein Kind von einer Waschfrau gekauft, welches sich noch bei der Gesellschaft befinde. Ein Schlossergeselle Reinhold E. in Halle gibt sogar den Preis – lO Thaler – an, für den eine ihm bekannte Zigeunerfamilie ein etwa fünf Jahre altes Mädchen gekauft habe. Die Schaubudenbesitzerin Witwe T. aus Hannover theilt mit, daß sie von dem Director einer Akrobatengesellschaft aus Arabien ersucht worden sei, ihm doch ein Kind von
vier bis fünf Jahren zur Ausbildung als Seiltänzer zu verschaffen, am liebsten hätte er einen Knaben, wenn es aber nicht anders wäre, so nähme er auch ein Mädchen. Dem dreizehnjährigen Albert Oertel in Mansfeld ward auf seine neugierige Frage, wo die andern Kinder seien, die früher sich bei dem Zigeunertrupp befunden, von einem Zigeuner die Antwort gegeben: »Sie hätten dieselben an Schauspieler verkauft.« Eine andere Zigeunerin sagte aus: der Vater des Kindes, welches sie bei sich führte, habe
nach dem Tode seiner Frau ihr das Kind »geschenkt«. – Ob aber alle diese Mittheilungen auf Wahrheit beruhen oder auf renommistischer Schwindelei? und ob unter Kauf und Schenkung hier die strengen civilrechtlichen Geschäfte zu verstehen sind, oder vielleicht nur etwas der Lehre und Pflege Analoges, – vermögen wir nicht zu entscheiden. Ebenso wenig, ob es richtig ist, daß, wie ein Lehrer B. aus Danzig mittheilt, in Rußland von den Zigeunern gar vielfach kleine Kinder gekauft und
verkauft, vertauscht und eingetauscht werden, und daß zu diesem Zwecke im Juli und August bei Riga sogar ein eigenes Bettlerfest, »Hungerkummer« genannt, jährlich abgehalten werde.
Zum Schluß noch zwei Fälle, die in sprechender Weise von dem Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung in dem Herzen der betheiligten Personen ein Bild geben.
Vor dem Landrathsamte zu Frankenhausen erklärte am 13. August der Handschuhfabrikant W., eine, wie es im Protokoll heißt, als
zuverlässig, wahrheitsliebend und glaubwürdig bekannte Persönlichkeit:
»Am vergangenen Freitag, den 9. August, reiste ich nach Berlin. In Roßla hatte ich die Bahn kaum bestiegen, als ich auch gleich zwei Persönlichkeiten bemerkte, eine weibliche und eine männliche, die ein Kind von etwa drei bis vier Jahren bei sich führten. Das Kind hatte kurzgeschnittenes Haar und große blaue Augen. Von der Sonne war es zwar tüchtig mitgenommen, es contrastirte aber immerhin noch sehr merklich gegen
den dunkeln Teint der anscheinenden Aeltern. Eingedenk des abhanden gekommenen Böcklerschen Kindes beobachtete ich die erwähnten Personen. Dabei fiel mir auf, daß das Kind stets scheu bald die Frau, bald den Mann ansah, ohne diese auch nur Ein mal mit ›Vater‹ oder ›Mutter‹ anzureden. Es verlangte auf der ganzen Tour bis nach Berlin weder Essen noch Trinken. Die anscheinenden Aeltern selbst sprachen fast gar nicht miteinander. Das ganze Verhalten des Kindes sagte mir, daß
es nicht das eigene Kind derjenigen sein könne, welche es begleiteten. Auch im Falle eines Verwandtschaftsverhältnisses würde das Verhalten ein anderes gewesen sein. Die in mir aufsteigende Vermuthung, das Kind sei vielleicht die gesuchte Anna Böckler, drängte sich mir immer mehr auf, und ich faßte den Entschluß, auf einer der folgenden Stationen einem Gensdarmen Mittheilung zu machen. Meine Bemühungen, eines solchen ansichtig zu werden, waren indeß vergeblich. In Wittenberg kam mir der
allenthalben sichtbare Anschlag, das Böcklersche Kind betreffend und das demselben angefügte Bildniß, nach welchem das Kind das rechte Aermchen mit gestrecktem Zeigefinger in die Höhe hält, zu Gesicht. Auch das mir auffällige Kind im Wagen erhob sehr häufig den rechten Arm und zeigte mit dem ersten Finger. Alle diese Umstände bestärkten mich in meiner Vermuthung, sodaß ich mich sehr aufgeregt fühlte und in diesem Zustande, wie ich gestehen muß, ängstlich und befangen, ja, förmlich rath- und
thatlos wurde. Zu den Mitreisenden, zufällig lauter jüngere Mädchen, sagte ich: es sei doch eigenthümlich, daß man das Böcklersche Kind noch immer nicht wieder aufgefunden habe. Dabei beobachtete ich die das Kind begleitenden anscheinenden Aeltern. Ich bemerkte, daß besonders auf die Frau meine Aeußerung einen tiefen Eindruck machte. Sie wechselte die Farbe und ihre Augen wurden größer. Sie wollte sogar den Wagen verlassen, wovon sie nur durch die Bemerkung des Mannes, daß das Signal zum Abgang
des Zuges gegeben sei, abgehalten wurde. Bald nachher verbarg sie das Kind unter ihrem Umschlagetuch oder ihrer langen Mantille (ich habe in meiner damaligen Aufregung nicht einmal recht gesehen, was sie trug) und entzog es auf diese Weise meinen fernern Beobachtungen. Das Kind wurde nur zuweilen unruhig, und ich bemerkte, daß es durch Anstoßen bald von seiten der Frau, bald von seiten des Mannes in Ruhe erhalten wurde. Dies Anstoßen geschah stets in fast unbemerkbarer Weise, was mir wiederum
ein neuer Verdachtsgrund war. – Da ich keine Gelegenheit fand, von meinen Wahrnehmungen Mittheilung zu machen, beschloß ich, diese Leute beim Aussteigen nicht aus den Augen zu verlieren. Am Abend des 9. August in Berlin auf dem Anhaltischen Bahnhofe angekommen, behielt ich sie fortwährend im Auge; allein noch ehe ich einen Polizisten finden konnte, waren sie mir aus dem Gesichtskreise gekommen. Etwa eine Stunde später, um 8 Uhr, theilte ich alles, was ich wahrgenommen hatte, einem
Geschäftsfreunde mit. Diefer machte mir wegen meines unklugen Verhaltens mit Recht die bittersten Vorwürfe.« – Von dem Institut der Bahnpolizei will Zeuge keine Kenntnitz gehabt haben u.s.w. (Folgen Signalements der betreffenden Persönlichkeiten.)
Bei Vorlegung der Anna Böcklerschen Photographie erklärt Zeuge, »beschwören zu wollen, daß die Photographie die des von ihm gesehenen Kindes sei«.
Auf diese Mittheilung hin stellte der Criminalcommissarius v.D. aus Berlin
sofort die umfassendsten Recherchen an und ermittelte schließlich, daß die von dem Zeugen W. beschriebenen Personen wahrscheinlich – die Gutsbesitzer W.schen Eheleute aus P. gewesen seien, die am 9. Juli mit ihren Kindern nach Lippspringe reisten.
Die Etikette dieses Fascikels, auf der der Untersuchungsrichter, wie auch sonst, den Stand der Sache kurz zu vermerken pflegte, zeigt zuerst die hoffnungsreiche Bemerkung »Identisch!«, dann ist dieselbe in »Zweifelhaft« umgeändert und
endlich in das verzweifelnde »Wahrscheinlich nicht identisch«. Drei vielsagende Worte!
Noch beweglicher ist der folgende Fall:
Am 30. December 1872 wurden in Tharow bei Neustettin eine Manns- und eine Frauensperson angehalten mit einem kleinen Mädchen, welches große Aehnlichkeit zeigte mit der Photographie der Anna Böckler, allerdings aber die diese kennzeichnende Schnittnarbe auf der Brust nicht an sich trug.
Der Mann und die Frau, die sich für Eheleute und für
die Aeltern der Kleinen ausgaben, sich aber ziemlich verdächtig benahmen, wurden in Haft genommen.
Das Kind, von Ungeziefer starrend und sichtlich schwer krank, nahm der Gymnasialdirector Dr. Lehmann zu Neustettin in sein Haus. Hier wurde es gereinigt und zu Bett gebracht. Dabei schrie es, wie Director Lehmann erzählt, unaufhörlich nach seiner »Mama«, klagte auch die ganze Nacht hindurch und zwar in Ausdrücken, wie man sie bei Kindern von Landstreichern sonst nicht hört.
Am
nächsten Morgen begann die Kleine zu spielen, mit Puppen namentlich, die sie so geschickt aus- und anzog, daß man annehmen mußte, sie habe sich damit vielfach beschäftigt, kannte auch allerlei anderes Spielzeug, und zeigte namentlich beim Essen eine so reizende Sauberkeit, daß man sich der Meinung nicht verschließen konnte, sie sei aus guter Familie.
Sofort wurde dem Domänenpachter Böckler Nachricht von dem Vorfall gegeben. Am Tage darauf kam er nach Neustettin. Auch ihn ergriff die
Aehnlichkeit des Kindes mit seiner Anna, und als die Kleine von seiner auf dem Rande des Bettes ruhenden Hand den Siegelring abzog und denselben auf ihre beiden kleinen Finger steckte, brach er in die Worte aus: »Das hat meine Kleine wol hundertmal so gemacht!« Er war so sehr voll Hoffnung, daß er der fehlenden Narbe wegen erst noch an seine Frau telegraphirte, und erst, als er die Antwort erhielt, dass die Narbe noch ganz kurz vor dem Verschwinden Annas bemerkt worden sei, gab er die
Hoffnung auf, sein Kind wiedergefunden zu haben.
Inzwischen legitimirten sich die Begleiter des Kindes, zwar nicht als das, wofür sie sich anfänglich ausgegeben, aber doch in genügender Weise, er als Arbeiter aus einer Maschinenfabrik, sie als die ihrem Manne fortgelaufene Ehefrau eines Schlächtermeisters, und wurden der Haft entlassen.
Nunmehr kam die Frau, die das Kind für das ihrige ausgab, um dasselbe wieder abzuholen. An sein Bettchen geführt, rief sie unter Tränen:
»Ach, es stirbt!« Das Kind erwachte und jauchzte bei ihrem Anblick. Darauf ging das Weib, tat sich mit einem andern Landstreicher zusammen und ließ sich nicht wieder blicken.
Die Kleine blieb in ihrer neuen Heimat, – erlag aber in wenigen Wochen der Abzehrung, an der sie schon krankte, als sie angehalten wurde. Bis zuletzt bewahrte sie die an ihr so auffällige Sauberkeit. Sie war auch bald zutraulich geworden und spielte ganz allerliebst. Wenn man sie aber fragte, wie sie heiße,
so zog es wie ein Schatten über ihr Gesicht, sie wurde still und verschlossen, und ging dahin, ohne daß es auch nur ein einziges mal gelungen wäre, sie zur Angabe eines Namens zu vermögen.
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