Frei Lesen: Geschichten aus dem Neuen Pitaval - 3

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Willibald Alexis

Geschichten aus dem Neuen Pitaval - 3

Das verratene Beichtgeheimnis

eingestellt: 7.8.2007



Im Jahre 1700 lebte in Croix Daurada, einem Dörfchen in der Nähe von Toulouse, ein Pfarrer namens Peter Cölestin Chaubard. Der Mann besaß weder außergewöhnliche Energie noch hervorragende geistige Fähigkeiten, aber er war gewissenhaft und unermüdlich in der Erfüllung seiner Pflichten, einfach in seinen Gewohnheiten, tadellos in seinem Wandel, liebenswürdig im Umgang und wurde wegen dieser Eigenschaften von allen seinen Pfarrkindern geehrt und geliebt.

Eine der angesehensten und wohlhabendsten Familien in der Gemeinde war die des Herrn Siadoux. Sie bestand aus dem Herrn Saturnin Siadoux selbst, einem Witwer von sechzig Jahren, aus drei erwachsenen Söhnen, die dem Vater in dem Betrieb einer ziemlich bedeutenden Ölsiederei zur Hand gingen, und aus zwei blühenden Töchtern.

Eine Schwester des Herrn Siadoux, Frau Mirailhe, war vor kurzem Witwe geworden. Ihr verstorbener Mann hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, sie wohnte noch in Toulouse, um zunächst die Nachlaßangelegenheiten zu ordnen, wollte aber später nach Croix Daurada übersiedeln und den Rest ihres Lebens im Hause ihres Bruders verbringen. Sie liebte ihre Neffen und Nichten von ganzem Herzen, und da sie keine eigenen Kinder hatte, sollten jene einst ihre Erben werden. Frau Mirailhe war freilich über die Jahre, in denen sich eine Frau vorkommendenfalls entschließt, eine zweite Ehe einzugehen, noch nicht hinaus. Mancher angesehene Bürger von Toulouse hatte ein Auge auf die hübsche und wohlhabende Witwe geworfen, aber nur einem einzigen gestattete sie, sie zu besuchen und mit ihr in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten. Dieser Bevorzugte, der Fleischermeister Contegrel, war einer ihrer Nachbarn, er hatte ihr beim Ordnen der Bücher ihres Gatten wesentliche Dienste geleistet, und deshalb hieß sie ihn, sooft er ihr Haus betrat, gern willkommen und zog ihn auch bei allen wichtigen Angelegenheiten zu Rate.

Dem Herrn Saturnin Siadoux wurde die Sache nach und nach bedenklich. Da er recht gut merkte, daß Contegrel anfing, seiner Schwester den Hof zu machen, und daß diese ihm täglichen Zutritt gestattete, so fürchtete er, sie würde sich doch am Ende entschließen, die Bewerbungen Contegrels anzunehmen, und dann war das reiche Erbe für seine Kinder verloren. Herr Siadoux erkundigte sich nach dem Rufe und dem Vorleben des Metzgermeisters Contegrel und hörte darüber so seltsame Gerüchte, daß er sich veranlaßt sah, nach Toulouse und von da nach Narbonne zu fahren; dabei hoffte er im stillen, daß er über das, was er Ungünstiges vernommen hatte, in Narbonne, dem früheren Wohnort Contegrels, Genaueres erfahren und Frau Mirailhe den Freier abweisen würde, wenn sie die Wahrheit über ihn erführe.

Siadoux sagte keinem Menschen etwas von dem Zweck seiner Reise. Von Narbonne aus schrieb er an seine Kinder, daß er den Rückweg über Castnaudry zu nehmen beabsichtige und dort bei einem alten Freunde zwei Tage verweilen werde. Ferner setzte er sie davon in Kenntnis, daß er Dienstag, den 26. April, wieder in Croix Daurada eintreffen werde, und ordnete an, sie sollten ihn gegen Abend zur Zeit des Nachtessens erwarten und zur Feier seiner Rückkehr ein reichliches Mahl herrichten. Außer seiner Schwester sollten zwei Nachbarn, Geschäftsmänner, die mit Siadoux befreundet waren, und der Herr Pfarrer Chaubard, ein in jeder Familie gern gesehener Gast, zu dem Abendessen eingeladen werden.

Die Befehle des Vaters wurden befolgt. Die Einladungen waren abgeschickt und bereitwillig angenommen worden, und die Töchter hatten in Küche und Keller zu tun, um für den Abend die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Herr Chaubard nun war nicht bloß mit den amtlichen Verpflichtungen eines Dorfpfarrers betraut, es lag ihm auch ob, in der Kathedrale von St. Stephan zu Toulouse Messe zu lesen. Am frühen Morgen des 26. April ging er in die eine kleine Stunde entfernte Stadt. Nach Beendigung des Gottesdienstes begab er sich in die Sakristei, in die unmittelbar nach ihm der Mesner eintrat und nach dem Abbé Mariotte, der ebenfalls diensttuender Priester an der Kathedrale war, fragte.

»Der Abbé ist eben weggegangen«, antwortete Herr Chaubard. »Wer fragt nach ihm?«

»Ein anständig gekleideter Mann, dessen Aussehen aber sehr verstört war, als er mit mir sprach«, erwiderte der Mesner.

»Sagte er, was er bei dem Abbé wollte?«

»Ja, Herr Pfarrer, er wünschte dringend, sofort zu beichten.«

»Wenn es das ist, so kann ich ihm ja in Abwesenheit des Abbé Mariotte dienlich sein. Gehen wir in die Kirche zurück, und sagen Sie dem Manne, daß ich auf ihn warte.«

Der Fremde ging unruhig im Schiff der Kirche auf und ab, seine Blicke waren scheu und verwirrt, er machte den Eindruck eines Geisteskranken. Herr Chaubard redete ihn an:

»Ich bedaure, daß der Abbé Mariotte nicht mehr hier ist und Sie nicht empfangen kann.«

Der Unbekannte schien die Worte gar nicht gehört zu haben, sah den Priester ängstlich an und sagte: »Ich will beichten.«

»Das können Sie sofort, wenn Sie wollen«, entgegnete Herr Chaubard. »Ich gehöre zu dieser Kirche und bin berechtigt, hier Beichte zu hören. Oder sind Sie mit dem Abbé Mariotte persönlich bekannt? Dann warten Sie vielleicht lieber?«

»Nein! Ich möchte so bald als möglich beichten, wäre es auch einem Fremden.«

»Dann haben Sie die Güte und folgen Sie mir.«

Der Priester ging auf den Beichtstuhl zu, das Beichtkind folgte ihm. Der Mesner, dessen Neugierde rege geworden war, blieb stehen und wartete, was nun weiter geschehen würde. Nach einigen Minuten sah er, daß der Vorhang, der dazu diente, das Gesicht des diensttuenden Geistlichen zu verbergen, rasch zugezogen wurde. Der Büßende kniete, den Rücken gegen das Innere der Kirche gewendet, nieder. Es verfloß mehr als eine Stunde, endlich wurde der Vorhang wieder zurückgezogen, Priester und Büßender verließen den Beichtstuhl.

Der Mesner erschrak, als er die Veränderung wahrnahm, die mit Herrn Chaubard vorgegangen war. Das gesunde, rote Gesicht des Pfarrers hatte alle Farbe verloren, es war so weiß geworden, als wenn Chaubard eben von einer langen Krankheit aufgestanden wäre. Er starrte ganz entsetzt vor sich hin und verließ die Kirche in fieberhafter Hast, ohne sich von seinem Untergebenen mit einem Wort oder einem Blick zu verabschieden. Der Fremde hatte sich schon vorher entfernt, der alte Kirchendiener ging auf den leeren Beichtstuhl zu, er sah ihn fragend an, als wenn das tote Holz das Geheimnis hätte verraten können, und brummte: »Der gute Herr Chaubard hat mehr gehört, als ihm lieb ist.«

Inzwischen wurde es Abend. Im Hause des Herrn Siadoux wurde der Tisch gedeckt, und man erwartete die Heimkehr des Hausherrn. Die Töchter sahen oftmals zu den Fenstern des oberen Stockes hinaus, von denen aus man ein großes Stück der Landstraße übersehen konnte, aber von ihrem Vater war keine Spur zu entdecken.

Die Witwe Mirailhe und die beiden Nachbarn fanden sich pünktlich ein. Herr Chaubard dagegen, der sonst niemals auf sich warten ließ, kam nicht. Die Sonne ging unter, es fing an zu dunkeln, und noch immer waren weder Siadoux noch der Pfarrer erschienen.

Die kleine Gesellschaft saß wartend um den Tisch herum. Nach einer Weile wurde aus der Küche heraufgeschickt, die Speisen müßten nun gegessen werden, sonst würden sie verbrennen.

Man beriet, was zu tun wäre. Endlich sagte Frau Mirailhe: »Ich glaube, mein Bruder kommt heute nacht gar nicht mehr nach Hause. Es ich wohl das beste, wenn wir mit dem Essen beginnen, sobald Herr Chaubard kommt.«

»Dem Vater wird doch kein Unglück zugestoßen sein?« fragte eine der beiden Töchter.

»Das verhüte Gott«, versetzte die Witwe.

»Das verhüte Gott«, wiederholten die Nachbarn und warfen einen sehnsüchtigen Blick auf den leeren Eßtisch.

»Es war ein höchst ungünstiger Tag zum Reisen«, sagte Ludwig, der älteste Sohn.

»Es regnete gestern fortwährend«, ergänzte der zweite Sohn Thomas.

»Und deines Vaters Rheumatismus erlaubt ihm eigentlich nicht, daß er bei nassem Wetter reist«, bemerkte die Witwe nachdenklich.

»Das ist ganz richtig!« stimmte der erste der beiden Nachbarn zu und schüttelte beim Anblick seines untätigen Besteckes ärgerlich den Kopf.

Abermals wurde von der Küche heraufgeschickt, die Gesellschaft möchte doch nicht mehr länger warten lassen.

»Wo bleibt aber Herr Chaubard? Ist er etwa auch verreist? Warum ist er denn nicht da? Hat ihn denn heute niemand gesehen?« fragte die Witwe Mirailhe.

»Ich habe ihn heute schon gesehen«, erwiderte der jüngste Sohn, der bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte. Der junge Mann hieß Johann; er war nichts weniger als zungenfertig, dafür hatte er aber schon bei mancherlei Veranlassungen bewiesen, daß er, wenn es sich um scharfe Beobachtung oder eine rasche Tat handelte, das brauchbarste Mitglied der Familie war.

»Wo hast du ihn gesehen?« fragte die Witwe.

»Ich begegnete ihm heute morgen auf dem Wege nach Toulouse.«

»Er ist doch hoffentlich nicht krank geworden? Sah er vielleicht krank aus, als du ihm begegnetest?«

»Er sah gesund und wohlgemut aus. Er sah in seinem Leben nie besser aus.«

»Und ich habe gefunden, daß er niemals schlechter aussah als heute«, warf der zweite Nachbar in dem verdrießlichen Tone eines hungrigen Menschen ein.

»Wie? Heute morgen?« rief Johann erstaunt.

»Nein, heute nachmittag«, antwortete der Nachbar.

»Ich begegnete ihm, als er hier in die Kirche ging. Er war so weiß wie unsere Schüsseln – die wir erwarten. Und was das auffallendste dabei war: er ging an mir vorüber, ohne mich auch nur im geringsten zu beachten.«

Johann schwieg, es trat eine Pause in der Unterhaltung ein; man hörte, daß draußen der Regen in Strömen herunterfiel und an die Fenster schlug; es war mittlerweile völlig Nacht geworden. Nach einigen Minuten hob die Witwe Mirailhe von neuem an:

»Wenn es nicht so heftig regnete, könnten wir jemand wegschicken, um nach dem guten Herrn Chaubard fragen zu lassen.«

»Ich will gehen und mich erkundigen«, erklärte sich Thomas Siadoux bereit. »Es sind ja keine fünf Minuten bis zu seiner Wohnung. Man kann einstweilen das Nachtessen anrichten; ich werde einen Mantel mitnehmen, und wenn Ihr vortrefflicher Herr Chaubard noch nicht im Bett ist, so bringe ich ihn mit, dann mag er sich selbst verantworten.«

Mit diesen Worten entfernte sich der Jüngling. Das Nachtessen wurde jetzt aufgetragen. Der hungrige Nachbar stritt von diesem Augenblick mit niemand mehr, und auch der andere Nachbar bekam wieder gute Laune.

Als Thomas Siadoux in das Haus des Priesters kam, fand er diesen allein in seinem Studierzimmer. Herr Chaubard sprang entsetzt auf, als der junge Mann bei ihm eintrat.

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer,« nahm Thomas das Wort, »ich fürchte, ich habe Sie erschreckt.«

»Was wollen Sie von mir?« fragte Herr Chaubard in einem eigentümlich barschen, halb verlegenen Tone.

»Haben Sie das heutige Abendessen bei uns vergessen?« versetzte Thomas. »Mein Vater ist zwar noch nicht zurückgekommen, wir müssen aber vermuten –«

In diesem Augenblick fiel der Priester in seinen Stuhl zurück, er schien von einem Fieberschauer erfaßt zu werden, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen schüttelte. Obgleich aufs äußerste erstaunt über diese merkwürdige Aufnahme, die die Wiederholung seiner Einladung gefunden hatte, dachte Thomas Siadoux doch daran, daß er sich verpflichtet hatte, Herrn Chaubard mitzubringen, und deshalb fuhr er in demselben Tone fort:

»Wir glauben, daß das Wetter meinen Vater unterwegs aufgehalten hat. Das ist aber für uns kein Grund, das Essen verderben zu lassen oder auf Ihre Gesellschaft zu verzichten, die Sie uns zugesagt haben. Hier ist ein guter warmer Mantel.«

»Ich kann nicht mitgehen«, erwiderte der Priester. »Ich fühle mich unwohl, ich bin schlecht aufgelegt und gar nicht in der Stimmung, auszugehen.« Dabei seufzte er tief und barg sein Gesicht in den Händen.

»Sagen Sie das nicht, Herr Pfarrer«, drang Thomas in ihn. »Wenn Sie schlecht aufgelegt sind, so wollen wir versuchen, Sie aufzuheitern, und Sie Ihrerseits werden zu unserer Unterhaltung beitragen. Man erwartet Sie in unserem Hause. Schlagen Sie es mir nicht ab, Herr Pfarrer, sonst müßten wir ja glauben, wir hätten Sie auf irgendeine Weise beleidigt. Sie waren doch sonst auf unsere Familie stets gut zu sprechen.«

Herr Chaubard erhob sich abermals von seinem Stuhl. Sein Benehmen hatte sich wieder gänzlich verändert, und zwar in ebenso auffallender Art wie zuvor. Seine Augen glänzten, als wenn Tränen darin standen, er faßte die Hand des Thomas Siadoux und drückte sie lange und herzlich. Es lag ein eigentümlicher Ausdruck von Mitleid und Angst in dem Blick, den er auf den jungen Mann richtete.

»Sie sollen nie an meiner Freundschaft zweifeln, auch heute nicht«, sagte er ernst. »So unwohl ich mich auch fühle, will ich doch an dem Abendessen teilnehmen, um Ihretwillen –«

»Und um meines Vaters willen!« fügte Thomas überredend hinzu.

»Lassen Sie uns also gehen.«

Thomas Siadoux legte ihm den Mantel um, beide verließen die Wohnung des Pfarrers und traten nach kurzer Zeit in den Kreis der wartenden Gesellschaft.

Herr Chaubard entschuldigte sein Ausbleiben mit einem Nervenübel, das ihn öfter befalle, er wolle jedoch sein möglichstes tun, um die Gesellschaft unterhalten zu helfen. Alle Anwesenden fanden das Aussehen des Pfarrers verändert, und nicht bloß sein Aussehen, auch sein Benehmen war merkwürdig. Er nahm zwar scheinbar teil an der Unterhaltung, aber sein Gespräch war unzusammenhängend und wirr, seine Heiterkeit gezwungen, er stocherte in dem Essen herum, trank dann schnell nacheinander mehrere Gläser Wein und versank oft in Gedanken, aus denen er nachher plötzlich wieder auffuhr. Die Nachbarn bedauerten die Abwesenheit des Hausherrn, verschiedene Male wurden die Fragen aufgeworfen, was ihn wohl unterwegs aufgehalten haben möchte, wo er wohl die Nacht zubringen und ob er wohl morgen kommen würde.

Sooft der Name des Herrn Saturnin Siadoux genannt ward, gab Herr Chaubard dem Gespräch eine andere Wendung, er allein erwähnte das Ausbleiben des Wirtes mit keiner Silbe und vermied es offenbar geflissentlich, dieses Thema zu berühren.

Johann, der jüngste Sohn, war schweigsam wie gewöhnlich; er sah den Priester gleich beim Eintritt aufmerksam an, seine Blicke wurden immer argwöhnischer und mißtrauischer, als er bemerkte, daß Herr Chaubard die Unterhaltung, sooft sie auf den Vater kam, ablenkte, und auch der Pfarrer schien wahrzunehmen, daß Johann ihn beobachtete, und fühlte sich sichtlich unangenehm berührt dadurch, Thomas und Ludwig Siadoux bemerkten, daß ihr Bruder kein Auge von dem verehrten Gaste verwandte, und beide ärgerten sich über diesen Mangel an Rücksichtnahme.

In Croix Daurada ging man damals frühzeitig zu Bett, um elf Uhr standen die Gäste von ihren Sitzen auf. Die beiden Nachbarn empfahlen sich der Familie Siadoux, Herr Chaubard aber war in der Verwirrung des Aufbruchs verschwunden, ohne eine gute Nacht zu wünschen. Er benahm sich sonst mit der ausgesuchtesten Höflichkeit, man schrieb daher sein merkwürdiges Wesen am heutigen Abend seinem Unwohlsein zu.

Die Witwe Mirailhe und die beiden Mädchen zogen sich in ihre Schlafzimmer zurück, die drei Brüder blieben allein im Speisesaal zurück.

»Johann,« sagte Thomas Siadoux, »ich habe ein Wort mit dir zu reden. Den ganzen Abend hindurch hast du unseren guten Herrn Chaubard auf eine wahrhaft beleidigende Weise angestarrt. Was wolltest du denn damit?«

»Warte bis morgen, vielleicht sage ich dirs dann«, erwiderte Johann, zündete sein Licht an und ging weg. Thomas und Ludwig sahen, daß seine Hand zitterte, sie konnten sich seine Aufregung nicht erklären.

Als am folgenden Morgen die Post angekommen war und keinen Brief von Herrn Siadoux mitgebracht hatte, nahm die Familie an, daß er das Schreiben für überflüssig gehalten habe und im Laufe des Tages selbst zurückkehren werde.

Stunde um Stunde verfloß, Herr Siadoux kam nicht. Gegen Mittag sahen die Töchter, die wieder einmal nach dem Vater Ausschau hielten, einen Trupp Menschen, der sich dem Dorfe näherte. An der Spitze schritt der oberste Gerichtsbeamte von Toulouse in seiner Amtstracht, hinter ihm her kam eine Polizeiabteilung und mehrere Ratsdiener, die etwas zu tragen schienen. Der Zug hielt vor dem Hause des Herrn Siadoux. Seine Kinder eilten an die Tür, um zu erfahren, was das zu bedeuten habe. Sie erblickten auf einer Bahre, die von den Ratsdienern getragen wurde, den Leichnam ihres Vaters.

Die Polizei hatte den leblosen Körper am Morgen des 27. April an den Ufern des Flusses Gers gefunden. Dem Toten war nichts geraubt, seine Uhr und die gefüllte Börse fand man unangetastet in den Taschen, die Brust und der Rücken waren durch elf bis tief in die inneren Teile gedrungene Messer- oder Dolchstiche durchbohrt. Der Mörder hatte die Tat offenbar aus Rache, nicht aus Gewinnsucht verübt.

Der Schmerz und der Jammer im Hause Siadoux lassen sich nicht beschreiben. Es verging geraume Zeit, ehe die Kinder es zu fassen vermochten, daß ihr teurer Vater, den sie noch vor wenigen Tagen gesund und kräftig gesehen hatten, jetzt als Leiche vor ihnen lag; und auch das konnten sie sich nicht erklären, daß ein Mann, der niemals einen Feind gehabt hatte, heimtückisch ermordet worden sein sollte.

Niemand war imstande, auch nur eine Vermutung über die Person des Täters aufzustellen, dem Beamten blieb daher nichts weiter übrig, als seine Teilnahme zu versichern und das Versprechen zu geben, daß er alles aufbieten werde, um den Verbrecher ausfindig zu machen. Er zog mit seiner Begleitung wieder ab, die Witwe Mirailhe und ihre Nichten legten sich, als der Abend herankam, erschöpft von der Gemütsbewegung nieder, und abermals waren die drei Brüder allein in dem Familienzimmer. Thomas und Ludwig sprachen über das gräßliche Unglück, das sie betroffen hatte, ihr südlich heißes Blut kochte, und Rachedurst loderte in den tränenlosen Augen.

Endlich nahm der schweigsame Johann das Wort und sagte zu Thomas: »Du hast mich gestern getadelt, weil ich den Herrn Chaubard so forschend angesehen habe. Ich bin jetzt bereit, dir und Ludwig den Grund meines Benehmens anzugeben.«

Er hielt ein wenig inne und stimmte, als er wieder zu reden begann, seinen Ton zu einem Flüstern herab.

»Als Herr Chaubard gestern bei uns zu Tische war, stand bei mir die Überzeugung fest, daß unserem Vater etwas zugestoßen sein und daß der Priester davon etwas wissen müsse.«

Die beiden älteren Brüder blickten ihn mit schrecklichem Erstaunen an.

»Unser Vater wurde uns ermordet ins Haus zurückgebracht«, fuhr Johann leise fort. »Ich sage dir, Ludwig – und dir, Thomas – der Priester weiß, wer ihn ermordet hat.«

Ludwig und Thomas prallten zurück, als wenn ihr Bruder eine Lästerung ausgestoßen hätte.

»Hört mich an«, bat Johann. »Über diesem Mord schwebt ein vollständiges Dunkel. Der Magistratsbeamte hat zwar versprochen, sein möglichstes zu tun – aber ich sah es seinem Gesicht an, daß er keine Hoffnung hat, den Mörder zu entdecken. Wir selbst müssen der Sache auf die Spur kommen, sonst hat unseres Vaters Blut vergeblich zu uns um Rache geschrieen. Denkt daran – und merkt auf, was ich euch sage. Ihr hörtet doch gestern abend, wie ich sagte, daß ich den Herrn Chaubard auf dem Weg nach Toulouse, und zwar bei trefflicher Gesundheit und in der besten Stimmung, getroffen habe. Ihr hörtet aber auch, wie unser alter Freund und Nachbar beim Abendessen mir widersprach und behauptete, daß der Priester einige Stunden später mit dem Gesicht eines tiefentsetzten Menschen hier in die Kirche gegangen sei. Du hast es selbst mit angesehen, Thomas, wie er sich benahm, als du zu ihm gingst, um ihn in unser Haus abzuholen. Dir, Ludwig, fiel sein sonderbares Wesen auf, als er bei uns eintrat. Jedermann bemerkte die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war.

Was ist der Grund davon gewesen? Ich habe die Ursache in den Mienen des Priesters gelesen, als unseres Vaters Name während des Abendessens erwähnt wurde. Nahm Herr Chaubard an diesem Gespräch auch nur den geringsten Anteil? Er war der einzige, der nicht ein Wort darüber sprach. War er es nicht, der jedesmal der Unterhaltung eine andere Wendung gab, wenn darauf die Rede kam? Viermal war das der Fall, und viermal lenkte er zitternd und stammelnd, indem er immer weißer und weißer wurde, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Das ist so wahr, als sich der Himmel über uns wölbt! Seid ihr Männer? Habt ihr noch einen Funken Verstand in eurem Gehirn? Seht ihr denn nicht, was das zu bedeuten hat? Bei meinem Seelenheil schwöre ich euch, der Priester kennt die Hand, die unseren Vater erschlagen hat!«

Die Gesichter der beiden älteren Brüder verfinsterten sich, die Richtigkeit der Schlußfolgerungen Johannes leuchtete ihnen ein, und sie fragten hastig:

»Woher sollte der Pfarrer das wissen?«

»Das soll er uns selbst sagen«, versetzte Johann.

»Und wenn er zögert – wenn er sich weigert, zu sprechen?«

»So müssen wir ihn mit Gewalt dazu zwingen.«

Nach dieser Antwort rückten sie die Stühle näher zusammen und beratschlagten eine Zeitlang.

Als die Beratung zu Ende war, erhoben sich die Brüder und gingen in das Zimmer, in dem der Leichnam ihres Vaters lag. Alle drei küßten einer nach dem andern den Toten auf die Stirn, dann reichten sie sich die Hände, sahen sich mit Blicken des Einverständnisses an und trennten sich. Ludwig und Thomas setzten ihre Hüte auf und begaben sich unverzüglich in die Wohnung des Priesters, Johann eilte in die Werkstätte im Hinterhause, in der die Ölsiederei betrieben wurde.

Nur einer der Arbeiter war anwesend. Er hatte einen ungeheuren Kessel mit kochendem Leinöl zu überwachen.

»Ihr könnt heimgehen«, sagte Johann, indem er den Mann freundlich auf die Schulter klopfte. »Nach dem Unglück, das uns zugestoßen ist, kann ich doch nicht schlafen – ich will daher Euern Platz beim Kessel hier einnehmen. Geht ruhig nach Hause, mein Lieber – geht nach Hause.«

Der Mann dankte und entfernte sich. Johann folgte ihm, um sich zu überzeugen, daß er wirklich weggegangen sei. Dann kehrte er zurück und setzte sich neben dem Kessel nieder.

Unterdessen entledigten sich Ludwig und Thomas ihres Auftrages bei Herrn Chaubard. Der Priester nahm die beiden Brüder freundlich auf und fragte, was sie von ihm wollten. Sie teilten ihm mit, der Schrecken über des Vaters furchtbaren Tod habe ihrer Tante und ihrer ältesten Schwester so sehr mitgespielt, daß für ihren Verstand zu fürchten sei, wenn sie nicht noch heute nacht geistlichen Trost und Beistand erhielten. Der unglückliche Priester – stets pflichigetreu und aufopfernd, wo es sich um sein Amt handelte – stand sogleich auf und erklärte sich bereit, die jungen Männer zu begleiten. Er zog seinen Chorrock an und nahm das Kruzifix mit. Herr Chaubard wurde also, ohne eine Ahnung von dem, was ihm bevorstand, zu haben, in das Trauerhaus gelockt und in die Werkstätte geführt; dort saß Johann wartend am Ölkessel.

Kaum war der Pfarrer eingetreten, so wurde die Tür hinter ihm zugeschlossen, und Thomas Siadoux sagte zu ihm:

»Nicht wir drei brauchen Sie, ebensowenig meine Tante oder meine Schwester. Wenn Sie der Wahrheit gemäß unsere Fragen beantworten, so haben Sie nichts zu befürchten. Weigern Sie sich aber –« er brach ab und blickte Johann und den kochenden Kessel an.

Der Priester, der ohnehin nichts weniger als ein entschlossener Mann war, war seit der Beichte in Toulouse überdies ganz außer Fassung, und so ließ er, ohne Widerstand zu leisten, die Brüder machen, was sie wollten.

Sie führten ihn an den Kessel, in dem das siedende Öl zischte. Ludwig nahm ihm das Kreuz ab und hielt es ihm vor das Gesicht, Thomas nötigte ihn, die rechte Hand daraufzulegen, Johann stellte sich ihm gerade gegenüber und richtete folgende Fragen an ihn:

»Unser Vater wurde uns ermordet ins Haus gebracht. Wissen Sie, wer ihn getötet hat?«

Der Priester zögerte, Thomas und Ludwig Siadoux drängten ihn näher an den Kessel hinan.

»Antworten Sie uns, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist«, fuhr Johann fort. »Sagen Sie uns, mit Ihrer Hand auf dem heiligen Kruzifix, ob Sie den Menschen kennen, der unseren Vater getötet hat?«

»Ich kenne ihn.«

»Wann haben Sie ihn kennengelernt?«

»Gestern.«

»Wo?«

»In Toulouse.«

»Nennen Sie uns den Mörder.«

Bei diesen Worten faßte der Priester das Kruzifix an und raffte seinen ganzen Mut zusammen.

»Niemals!« antwortete er. »Das, was ich weiß, erfuhr ich im Beichtstuhl. Die Geheimnisse des Beichtstuhles sind heilig. Wenn ich sie verrate, so begehe ich ein Sakrilegium. Lieber will ich sterben.«

»Überlegen Sie, was Sie sprechen«, entgegnete Johann. »Wenn Sie in Ihrem Schweigen verharren, so verheimlichen Sie den Mörder und werden sein Mitschuldiger. Wir haben bei dem Leichnam unseres Vaters geschworen, seinen Tod zu rächen. Wenn Sie uns das Geheimnis nicht entdecken, so werden wir den Mord an Ihnen rächen. Ich fordere Sie nochmals auf, den Namen des Menschen zu nennen, der unseren Vater getötet hat.«

»Lieber will ich sterben«, wiederholte der Priester, fest wie zuvor.

»Dann müssen Sie sterben!« rief Johann. »Werft ihn in den Kessel!«

»Laß ihm Zeit«, baten Ludwig und Thomas.

»Schön, wir wollen ihm Zeit lassen«, sagte der jüngere Bruder.

»Dort an der Wand hängt eine Uhr; wir wollen fünf Minuten warten: in diesen fünf Minuten mag er seinen Frieden mit Gott schließen oder sich besinnen, ob er reden will.«

Die Verschworenen saßen da, die Augen unverwandt auf die Uhr gerichtet. Der Priester kniete nieder und betete. Kein Laut unterbrach die unheimliche Stille, nur die Uhr tickte, und man hörte den Herzschlag des geängstigten Pfarrers.

»Sprechen Sie! Um Ihretwillen, um unseretwillen, sprechen Sie!« flehte Thomas Siadoux, als der Zeiger den entscheidenden Punkt erreicht hatte.

Der Priester blickte auf, er wollte sprechen, aber das Wort erstarb ihm auf den Lippen, kalter Todesschweiß bedeckte seine Stirn, der Kopf sank ihm auf die Brust herab.

»Hebt ihn auf!« befahl Johann, indem er den Priester am Arm packte. »Hebt ihn auf und werft ihn hinein.«

Die beiden anderen Brüder traten einen Schritt vor; unschlüssig zögerten sie noch einen Augenblick.

»Hebt ihn auf, bei eurem Eid auf unseres Vaters Leichnam.«

Jetzt faßten Thomas und Ludwig das Opfer am anderen Arm. Der Unglückliche wurde emporgehoben, er schwebte über dem Kessel, die Glut schlug ihm entgegen. Die Todesangst entrang dem Pfarrer einen Schrei des Entsetzens. Die Brüder hielten ihn schwebend über dem Rande, alle drei mahnten:

»Nennen Sie den Menschen! Wir beschwören Sie zum letztenmal.«

Die Zähne des Priesters schlugen aufeinander, er konnte nicht sprechen, aber er machte ein Zeichen der Bejahung. Die Brüder setzten ihn auf einen Stuhl und warteten geduldig, bis er die Sprache wiedergefunden hatte.

Das erste war, daß er Thomas Siadoux bat, ihm das Kruzifix zurückzugeben, Thomas gab es ihm, Chaubard küßte das Bild des Heilands und sagte mit matter Stimme:

»Ich bitte Gott um Verzeihung für die Sünde, die ich jetzt begehen werde.«

Dann hielt er inne und blickte zu dem jüngeren Bruder auf, der ihm noch immer gegenüberstand.

»Ich bin bereit«, fuhr er fort. »Fragt mich, und ich will antworten.«

Johann wiederholte seine Fragen:

»Sie kennen den Mörder unseres Vaters?«

»Ich kenne ihn.«

»Seit wann?«

»Seit er mir gestern in der Kathedrale von Toulouse gebeichtet hat.«

»Nennen Sie ihn.«

»Sein Name ist Contegrel.«

»Der, der unsere Tante heiraten will?«

»Derselbe.«

»Was führte ihn in den Beichtstuhl?«

»Seine Gewissensbisse.«

»Welche Gründe trieben ihn zu diesem Verbrechen?«

»Es waren nachteilige Gerüchte über ihn im Umlauf. Er hörte, daß euer Vater sich nach Narbonne begeben hatte, um jenen Gerüchten auf den Grund zu gehen.«

»Erfuhr unser Vater in Narbonne, daß das Gerücht auf Wahrheit beruhte?«

»Ja!«

»Würde das, was er erfahren hat, unsere Tante von Contegrel für immer getrennt haben, wenn unser Vater am Leben geblieben wäre und es ihr mitgeteilt hätte?«

»Gewiß. Wäre euer Vater am Leben geblieben, so hätte er eurer Tante gesagt, daß Contegrel bereits verheiratet ist, daß er seine Frau in Narbonne verlassen hat, daß diese Frau in Narbonne unter fremdem Namen mit einem anderen Manne lebt, und daß sie das alles in eures Vaters Gegenwart selbst bekannt hat.«

»Wo wurde der Mord begangen?«

»Zwischen Villefranche und unserem Dorfe. Contegrel war euerm Vater nach Narbonne gefolgt und auf dem Rückweg nach Villefranche fortwährend hinter ihm geblieben. Bis zu diesem Orte hatte sich Saturnin Siadoux selbst in der Gesellschaft von mehreren Leuten befunden, die dieselbe Straße gingen. Jenseits von Villefranche ritt er allein am Ufer des Flusses hin. Hier zog Contegrel das Messer, er wollte ihn töten, ehe er nach Hause käme und eurer Tante die Nachrichten bringen könnte, die er erhalten hatte.«

»Wie wurde der Mord vollbracht?«

»Er wurde vollbracht, während euer Vater sein Pferd am Ufer des Flusses trinken ließ. Contegrel schlich sich an ihn hinan, als er sich beim Halten über den Sattel herabbeugte, und erstach ihn.«

»Ist das bei Ihrem Eide die Wahrheit?«

»Bei meinem Eide, es ist die Wahrheit.«

»Dann können Sie gehen.«

Der Priester stand von dem Stuhle auf. Von dem Augenblick an, in dem die Todesangst ihm den Entschluß, den Namen des Mörders zu nennen, ausgepreßt hatte, war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Er antwortete mit der unerschütterlichen Ruhe eines Mannes, für den alle menschlichen Dinge ihren Wert verloren haben.

Als er sich anschickte, in seine Wohnung zurückzukehren, hatten seine Bewegungen die mechanische Regelmäßigkeit eines Schlafwandlers, der nichts von dem wahrnimmt, was um ihn her vor sich geht, er war so tief in sich selbst versunken, daß er einem Geistesabwesenden glich. An der Tür blieb er stehen: es war, als wenn er aus seiner Betäubung erwachte. Er sah die drei Brüder mit einem tiefbekümmerten Blick, den keiner von ihnen jemals vergessen konnte, mehrere Minuten lang an und sagte zu ihnen in einem langsamen, feierlichen Tone:

»Ich vergebe euch. Betet für mich, wenn meine Zeit kommt.«

Mit diesen Worten verließ er wankenden Schrittes das Haus.

Inzwischen war die Nacht weit vorgerückt. Trotzdem beschlossen die drei Brüder, sogleich nach Toulouse zu eilen und dort noch vor Tagesanbruch bei der Gerichtsbehörde ihre Anzeige zu machen.

Sie hatten keine Ahnung von den entsetzlichen Folgen, die ihre nächtliche Unterredung mit dem Priester nach sich ziehen mußte, denn keiner von ihnen wußte, welche furchtbare Strafe das Gesetz über einen Mann im heiligen Amt verhängte, der die Geheimnisse des Beichtstuhles verriet.

In der Gegend von Toulouse war seit Menschengedenken ein solcher Fall nicht vorgekommen, überhaupt geschah es zu jener Zeit äußerst selten, daß sich ein Priester der römischen Kirche ein solches Vergehen zuschulden kommen ließ.

Den drei Jünglingen schlug zwar das Gewissen; es machte ihnen Vorwürfe darüber, daß sie den Pfarrer gezwungen hatten, den Mörder zu nennen, aber sie beruhigten sich leicht damit, daß es ihre Kindespflicht gewesen sei, jedes Mittel zu ergreifen, um den Mord ihres Vaters zu rächen, und sie waren überzeugt, daß die härteste Strafe, die den Herrn Chaubard treffen könnte, der Verlust seiner Pfarrei sei, in diesem Falle aber – darauf gaben sie sich die Hand – wollten sie ihn entschädigen und gemeinschaftlich dafür sorgen, daß er sein genügendes Auskommen habe.

In Toulouse erst gingen ihnen die Augen auf. Als sie dem Beamten, der tags zuvor in ihrem Hause gewesen war, mitteilten, wer der Mörder sei und wie sie seine Spur entdeckt hätten, malte sich das größte Entsetzen in den Mienen des Richters. Er sagte zu ihnen mit bebender Stimme:

»Vielleicht wäre es besser, ihr wäret nie geboren worden, als daß ihr den Tod eures Vaters auf solche Weise sühnt, wie ihr es jetzt tut. Eure Handlung stürzt den Schuldigen und den Unschuldigen in dasselbe Verderben.«

Diese Worte erfüllten sich gleich einer prophetischen Wahrheit. Contegrel wurde verhaftet. Da jeder andere Beweis gegen ihn fehlte, mußte ihm die Aussage des Pfarrers vorgehalten und so der Bruch des Beichtgeheimnisses verraten werden. Das Parlament von Languedoc, das unter diesen Verhältnissen zuständige Tribunal, erließ sofort den Befehl, den Priester und die drei Brüder gefänglich einzuziehen und ihnen den Prozeß zu machen. Zunächst wurde nun Contegrel des Mordes überführt, zum Rade verurteilt und nach wenigen Wochen schon in Toulouse öffentlich hingerichtet. Die Brüder Siadoux gestanden ohne Zögern, daß sie den Pfarrer Chaubard durch die lebensgefährliche Drohung, ihn in den Kessel mit siedendem öl zu werfen, genötigt hätten, den Mörder ihres Vaters zu nennen; sie wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Eine weit furchtbarere Strafe erwartete den unglücklichen Priester. Das Urteil gegen ihn lautete: Es sind ihm die Glieder einzeln durch das Rad zu brechen, dann soll er noch lebend auf den Scheiterhaufen gebracht und verbrannt werden.

So barbarisch die Strafen in jener Zeit waren, und so sehr sich das Volk daran gewöhnt hatte, den grausamsten Torturen beizuwohnen, dieser Fall rief doch eine allgemeine Entrüstung hervor. Niemand fand in dem, was die Brüder getan hatten, ein todeswürdiges Verbrechen, noch weniger konnte man begreifen, warum Chaubard dem Feuertode verfallen sein sollte. Er war ja in der furchtbarsten Lage gewesen und hatte das Siegel der Beichte nur verletzt, weil er sonst in das kochende Öl geworfen worden wäre. Die Behörden empfingen zu ihrem Erstaunen nicht nur aus Toulouse, sondern auch aus der ganzen umliegenden Nachbarschaft eine Menge Begnadigungsgesuche. Aber das Los des Priesters war entschieden. Alles, was er durch die Fürsprache von Personen höchsten Ranges erreichte, war, daß der Nachrichter ihm den Todesstoß versetzen durfte, ehe sein Körper den Flammen übergeben wurde. Mit dieser einzigen Milderung wurde der Spruch in seiner ganzen Strenge an dem Pfarrer von Croix Daurada vollzogen.

Jetzt sollten auch die Brüder Siadoux sterben. Aber das durch den Tod des allgemein beliebten Priesters aufs tiefste erbitterte Volk empörte sich mit einer Entschlossenheit, auf welche die Behörden doch Rücksicht nehmen mußten. Die Sache der jungen Männer wurde von der heißblütigen Bevölkerung zur Sache aller Väter und Söhne gemacht, man erhob ihre kindliche Pietät bis in den Himmel, man machte ihre Jugend für sie geltend, ihre Unkenntnis der furchtbaren Verantwortung, die sie durch den gegen den Geistlichen verübten Zwang auf sich geladen hatten, wurde laut zu ihren Gunsten angeführt. Die Behörden erhielten Winke, daß das Erscheinen der Gefangenen auf dem Schafott das Signal zu einem organisierten Aufruhr und zu gewaltsamer Befreiung der Brüder sein würde. Unter diesen Umständen beschloß man, die Hinrichtung hinauszuschieben, die Gefangenen einstweilen in sicherem Gewahrsam zu halten und das Todesurteil erst dann zu vollstrecken, wenn die Stimmung sich beruhigt hätte.

Dieser Aufschub rettete den Brüdern nicht nur das Leben, sondern gab sie auch der Freiheit zurück. Die allgemeine Teilnahme war sogar durch die Tore des Gefängnisses gedrungen. Sämtliche drei Brüder waren hübsche, wohlgebildete junge Männer. Der sanfteste unter ihnen, Thomas Siadoux, flößte der Tochter des Gefängniswärters zuerst lebhafte Anteilnahme, dann heiße Liebe ein. Der Vater wurde durch die Bitten und die Tränen seiner Tochter erweicht, er ließ sich bestimmen, ein Auge zuzudrücken und ein einziges Mal nicht so wachsam zu sein wie gewöhnlich – das übrige besorgte das schlaue Mädchen. Eines Morgens vernahmen die Bewohner von Toulouse zu ihrer nicht geringen Freude, daß die drei Brüder in Gesellschaft der Tochter des Gefängniswärters entflohen waren.

Um der gesetzlichen Form zu genügen, ordnete die Behörde zwar eine Verfolgung an, aber im Grunde war man recht froh über diese Lösung der Verwicklung, und man gab sich nicht gerade besondere Mühe, der Flüchtlinge wieder habhaft zu werden, und so gelang es ihnen ohne große Schwierigkeit, über die Grenze zu kommen.

Drei Wochen später traf aus der Hauptstadt der Befehl ein, es solle an den Brüdern Siadoux die Sentenz in effigie vollzogen werden. Kaum war das geschehen, so erteilte man ihnen die Erlaubnis, nach Frankreich zurückzukehren, jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie weder ihren Geburtsort noch überhaupt die Provinz Languedoc jemals wieder betreten dürften. Mit dieser Einschränkung konnten sie sich niederlassen, wo es ihnen beliebte. Sie hatten nun Zeit, die verhängnisvolle Tat, durch die sie sich auf Kosten des Priesters an dem Mörder ihres Vaters gerächt hatten, zu bereuen.

< Das verratene Beichtgeheimnis
Der Schwarzmüller >



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