Willibald Alexis
Isegrimm
Der kleine Krieg.
eingestellt: 25.7.2007Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Der kleine Krieg.
Denselben Raketenstrahl, welcher in Haus Ilitz die Inlieger aufgeschreckt, hatte auch der Kornett Theodor gesehen, und er war vom Schemel, auf dem er schlummernd gesessen, aufgesprungen. Der Säbel, der von seiner Seite auf die Erde klirrte, sagte ihm, daß es kein Traum war.
Vielleicht hatte er über ein Billet geträumt, das vor ihm auf dem Tische lag. Es war vom Leutnant Wolfskehl und lautete:
»Unser kleines Ehrengericht hat entschieden. Nicht Du, nicht ich dürsten nach Blut, aber sie sagen: einer von uns muß seins lassen; und es sind gute Edelleute. Kerle sonst, die mir – aber unzweifelhafte Edelleute. Wem soll man glauben in einer verfluchten Zeit, wo keine Treue und Glauben ist! Also denen, die da sagen, sie könnten sonst nicht mit uns dienen. Hol sie der – aber sie haben recht. Einer – warst Du es, oder ich? – meinte, ob wir den Schimpf, der auf unserer Uniform sitzt, ich weiß nicht, ob Deiner oder meiner, nicht besser in Franzosenschädeln auswetzten? Umschichtig, wir beide drauf, die Augen zugedrückt, auf die Canaille hieben wir, und meinten uns. Sie schüttelten den Kopf. Einer führte auch an: Unrecht sei es, jetzt das Blut verspritzen, was dem Könige und Lande gehört, Numero eins sei der Feind, Numero zwei der Freund. Es hätte schon was, meinten sie, aber strichen die Bärte: es sei ihnen doch nicht fürgekommen. Bruderherz, sie haben recht; was ist uns denn geblieben, als die Uniform! Ich las einmal in der römischen Geschichte von zwei Gladiatoren, die mit dem Spartakus ihre Hundeketten zerbissen hatten. Auf einen kahlen Fels retiriert, sahen sie rings um sich römische Soldaten. Entweder gefangen, ans Kreuz genagelt oder verhungert, das war ihre schöne Aussicht von dem kahlen Felsen. Da fochten sie als Gladiatoren einen letzten kunstgerechten Kampf und stießen sich beide die Schwerter in den Bauch. Wenn wir nicht schon Gladiatoren sind, so werden wirs, – seine, des Unersättlichen! Ob wir für ihn kopffechten in Spanien, England, oder unsere Gebeine endlich bleichen in der Wüste, Sibirien oder Indien – es handelt sich nur um unsere Knochen. Was retten, als einen schönen vollen Tod! Ich bin satt, dürstet Dich noch? Armer Junge! Der Sperling, der noch einmal aus dem Bache trinkt, noch einmal auf der Firste flattert, der Sonne entgegen, als ob sich der große brennende Feuerklumpen um eine Sperlingsseele kümmerte, ist er unglücklich, wenn das Pustrohr des tölpischen Knaben auf ihn zielt, und im nächsten Moment rollt er, ein blutstäubendes Federklümpchen, das Dach herab. Niemand bemerkt es, die andern Sperlinge, kaum aufgescheucht, flattern und zwitschern so lustig als vorher, die große tote Sonne strahlt gleichgültig auf Aas und Leben, und nicht einmal den Knaben kümmert es, wohin seine Beute fällt, um gelegentlich von Würmern gefressen zu werden, denn er läßt ein neues Kügelchen ins Rohr rollen, um einen neuen Spatz als Ziel zu suchen. Oder ists darum, daß der Sperling unglücklich wird, weil er weiß, daß der Bengel unten das Pustrohr auf ihn anlegt? Nimm die Moral daraus, die Natur hat uns mit einem Ding beschenkt, was sie Bewußtsein nennt, nur um in unserem Vollkommenheitsgefühl uns zu necken. Wir sind und bleiben Sperlinge, auf die alberne Jungen und hohle Rohre von allen Seiten zielen. Wer fällt, der fällt, wir änderns nicht; aber Sperlinge, die außerdem Soldaten sind, haben noch die besondere Pflicht, nicht fortzuflattern, wenn sie die Mündung des Rohres sehen. Courage, lieber Junge, aber das ist nicht Courage, der Canaille in die Hirnschädel hauen, man muß, wie die Gladiatoren des Spartakus tun – ohne Augenzwinkern, einer den andern, in den Bauch oder ins Herz, es tut dasselbe – ein Liebesdienst. Denk an die beiden Fähnriche bei Saalfeld. Die Fahne, die sie nicht retten konnten, banden sie um den Leib und sprangen in den Fluß. Beide ersoffen. Unsterbliche Gloria nennen sies vielleicht in der Posterität. Wir haben nichts mit der Gloria zu tun; nur fort aus dem Hundeleben!
In Leben und Tod Dein.«
»Junker! Aufgewacht! – Nun gehts los!« Ein graubärtiger Wachtmeister rüttelte den Jüngling.
»Ach, was für ein Traum!« Theodor strich über die Stirn.
»Ist nicht zum Träumen Zeit, Junker! – Aufgesessen! – Kommandiert! – Die Feuerzeichen.«
»Die Feuerzeichen! Feuer! Feuer! Und es war Frühling.«
Unten stand die kleine Schar schon gesattelt, als der Kornett sich aufs Pferd schwingen wollte. Das Pferd bäumte sich; zweimal mußte er absetzen.
»Ein böses Zeichen,« murmelte der Müller hinter der Luke; er wollte sich nicht sehen lassen. Seine Weibsleute weinten: »Der hübsche junge Mensch!«
Der Müller hinderte den Sohn und Knecht, daß er den Torweg hinter den Reitern schloß. Wenn die Franzosen kämen,
müßten sies so finden, wie es ist: daß sie ja nur gezwungen gewesen, die wilden Gesellen aufzunehmen. »Daß Gott erbarm!« schluchzte die Müllerin. »Und sind so hübscher Leute Kind!«
»Es wird noch mancher ins Gras beißen müssen,« sagte der Müller, »und das Gras fragt nicht, obs hübscher Leute Kinder waren oder gemeiner Leute, und die Erde fragt auch nicht, und ob der Himmel danach fragt, weiß keiner hier, auch nicht der Herr Pastor.«
Die Hähne krähten hinter den Reitern, als
sie an den Hecken sich fortstahlen. Dann sprengten die Husaren einzeln über das schneebedeckte Feld, um im Schatten des Kiefernholzes sich wieder zu sammeln. Man sah, es galt einen nächtlichen Angriff oder Ueberfall. So hielten sie vereinzelt unter den hohen Bäumen und schauten und horchten über das weiße Brachfeld.
Tiefstill wars, als scheuten sie zu atmen. Der Kornett hatte verboten, die Waffen zu rühren; aber er selbst wars, an dessen Seite es klirrte. Hielt er doch die Hand am
Säbelgriff, und wie das Herz pochte, hob er sich und glitt wieder in die Scheide.
Hinter dem Junker hielt der alte Wachtmeister. Der hatte nicht die Hand am Griff, er saß wie angegossen auf dem Pferde, und schwören hätte man doch mögen, ob er schon den Kopf auch nicht sähe und zähle die Flöckchen, die über dem Schneemeer noch in der Luft stäubten.
»Junker,« sprach er leis, »haben heute vorm Ausritt gebetet?«
»Was solls, Krauskopf?«
»Kein Mensch weiß,
was vor ihm steht.«
»Der Tod,« antwortete Theodor. »Dem Soldaten allemal um fünfzig Schritt näher.«
»Nicht jedem. Die Leute erschraken, als des Herrn Kornetts Pferd sich bäumte, das nächste Mal warf es Sie beinahe aus dem Sattel. An der Schwelle scharrte es und wieherte, es wollte nicht hinaus. Die Leute –«
»Halts Maul.«
»Das Leichenhuhn krähte doch.«
Der Junker schauerte und schielte herum:
»Hast Dus auch gehört? – Aber sieh – sieh!«
Es flog noch einmal ein Funke durch die Schneeluft. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht die rechte Stelle – es will mir ohnedem nicht richtig scheinen.«
Da kam einer, den sie vermutlich zu Fuß voraufgeschickt, von seiner Kundschaft zurück; er schlich an den dunklen Hecken und Furchen, bis er im Holz aufsprang. Seine Botschaft, in Ilitz sei es still und leer, alles ausgeflogen, machte
lange Gesichter.
»Verdammt! hat der Colonel Wind bekommen? Es wäre ein so schöner Streich gewesen.«
Der alte Wachtmeister antwortete nicht, er horchte und schaute scharf nach rechts.
»Wer weiß, sie wären doch stärker gewesen, als wir dachten, und wenn der Herr Rittmeister und der Herr Leutnant von Wolfskehl nicht zeitiger zur Hand waren, als jetzo – wer weiß – und dann, es brummt da was im Winde –«
»Was horchst Du?«
»Der Wind ist uns konträr, sonst – und dann, Herr Junker, wer weiß, wenns da im Schloß beim Herrn Obristwachtmeister solche Wurstmacherei gegeben hätte! Der Herr Colonel ist nicht der Mann, der sich gutwillig gibt.«
»Oder hätte Wolfskehl schon – allein – Donnerwetter!«
Der Unteroffizier schüttelte wieder den Kopf. »Junker, Junker, das wäre schon gut gewesen, als wie Sie und ich gedacht. Wenn es gelang, war es was Großes
– das kam vor die andern nach Kolberg und wohl noch weiter, und sie hätten da ein ander Ehrengericht eingesetzt; denn wenns einem gemeinen Wachtmeister erlaubt ist, so was über Offiziere zu denken, so hätte da kein Blut fließen müssen, wo anderes Blut not tut. Nun ist das nichts – wer weiß, der liebe Gott fügts manchesmal, wie unsereins es nicht denkt, und ich denke so, zu der Mensur wird es nicht kommen, auf eine oder die andere Art, denn in der Bibel stehts doch und bleibt
geschrieben: Du sollst nicht töten; außer was nicht beigeschrieben steht, aber es versteht sich von selbst – Franzosen und ehedem Oesterreicher und so weiter – Halt! – daß Dich, da ist was los!« –
Er brauchte nicht vom Pferde springen und sich auf die Erde legen. Der Wind war umgesprungen – es pfiff, knallte, klirrte, als wäre ein Nebel, der die Töne bis da verborgen, von einer Gegend fortgezogen, und mit einem Male klingt, rauscht, braust es auf.
»Drauf los!«
Der Wachtmeister griff dem Junker in die Zügel: »Halt: das ist mehr – sie haben uns angegriffen. – Blitz und Wetter! – Von daher auch – da auch – das ist eine Hetzjagd, Junker.«
»Das Wild soll ihm stehen!«
»Erst den Jäger und den Wind gerochen, Junker. Dort in den Hohlweg –«
Ueber den Schnee brausten schwarze Punkte, versprengte Reiter. Sie
kamen auf die Holzung zu, offenbar um hier Schutz vor ihren Verfolgern zu finden, wenigstens einen augenblicklichen Versteck. »Der Rittmeister selbst – und verwundet!«
»Schwerenot Ihr!« rief er mit einem Satz über den Graben, der das Holz von der Ebene trennte. »Was macht Ihr hier? – Hat Euch der Satan noch nicht gepackt?«
»Wohin? Kommandieren Sie, Herr Rittmeister, zum Angriffe. Ein paar Dutzend Männer sehen Sie zum Sterben bereit!«
»Dummheit! Nichts
mehr von Angriff. Den Tod habt Ihr wohlfeiler. Wir sind verloren, umzingelt. Alles aus, alles Verrat! Rette sich, wer kann.«
»Und Wolfskehl?«
»Wird gefangen, wenn er es nicht schon ist. – Drüben in Querbelitz am Kirchhof. Machen Sie kehrt, Kornett. Vielleicht schlagen wir uns durch, nach Quilitz zu. Da stehen nur Italiener, Infanteristen. – Sporen in die Seite. – Rasch mir nach!«
Die Schar der Dutzend, oder ein paar mehr, stand noch stumm,
wie an den Boden gefesselt, als die flüchtigen Reiter knisternd durch das Dickicht brachen. Die Führer der Schar hielten ja auf ihren Rossen wie Versteinerte.
Da hob sich Theodor im Steigbügel und schaute seine Leute an. Seine Augen funkelten, Stirn und Wangen glühten: »Hört Ihr, sie schießen. Noch verteidigt sich Wolfskehl! Wer einen braven Offizier im Stiche lassen will, dem sage ich Ade! heut und auf ewig. Wer einen braven Kameraden nicht im Stiche lassen will, in seinen Nöten, die
Plempe raus, mir nach!«
»Wir müssen alle sterben,« hatte der alte Wachtmeister gerufen, als er den Säbel herausriß. Da klirrten in einem Augenblick alle stählernen Scheiden. Zuerst fühltens die trocknen Aeste, daß hier noch Herzen schlugen, nachher sollten es die Franzosen fühlen. Der erste über den Graben war Theodor. In der Faust die Klinge hoch, hob er sich im Sattel. Da war der Traum verschwunden, wie er vor sich schaute, rückwärts kommandierte. Er war der Feldherr geworden, der
Wachtmeister hätte sich s nicht unterstanden, noch ein Wort einzureden; er hatte es auch nicht Not.
Wer beschreibt ein Reitergefecht, abwechselnd in Dorf und Busch, auf Straße und Feld? Wäre es nicht der Schimmel, den wir uns freuen, immer in anderer Stellung wiederzufinden, wer verfolgte in den Kunstsammlungen noch Wouwermans Schlachtengemälde. Was Kraft und Gewandtheit, ein schnelles Aug und richtiger Blick vermögen, der Mann kann sich da noch zeigen, und doch wird die Rittertat vom
Zufall reguliert, vom Staub und Pulverdampf versteckt. Wo berichtet die Geschichte von dem, was ihre Skribenten Schnitzel und Abfall nennen für den Papierkorb!
Heldentaten waren hier geschehen, so erzählten nachher die Leute. Verzweifelt hatte sich im Kirchhof der Herr von Wolfskehl gegen die Uebermacht gewehrt; den von ihren Rossen Abgesprungenen war die alte Mauer des Gotteshauses zum Wall geworden, schon von Blut bespritzt, mit Leichen bedeckt, als die Hacken und Beile der
feindlichen Handwerkersoldaten das ausführten, was bei Festungen die Aufgabe der Batterie ist. Sie hatten eine Bresche gelegt, und über die niederrollenden Feldsteine waren schon die Bajonette geklettert, die jetzt gegen die Brust des Parteiführers zuckten, als – –
Ja, was in der Geschichte unterging, im Dorfe lebt es noch, und sie zeigen Dir den steinernen Pfeiler, der die morsche Kirche hält, wo der Wolfskehl von Ritzengnitz
wie ein Löwe stand. Hätten alle Offiziere so getan, sagte ein Französischer, dann wärs bei Jena anders ausgefallen. Fünf hatte er niedergestreckt mit seiner Klinge, da winkte ein Kapitän einem Tirailleur, er möchte ihn aufs Korn nehmen. Nicht, daß ers bös mit ihm gemeint, oder daß der Franzos den wunden Mann gefürchtet, sagt Dir der Küster, ders von seinem Vater hat, sondern den Kapitän jammerte der tapfere Offizier, der so viele Not hätte, um zu sterben; denn das sehe man ihm ja an, er kämpfe
wie einer, der, lebenssatt, den Tod sucht. Doch wie der Scharfschütz angelegt, dort hinter der Lehmwand, sauste schon der Säbel, der ihm den Ellenbogen spaltete.
Wie ein Wunder, das aus der Luft kommt, war der Kornett Theodor Hurlebusch im Dorf und mitten unter den Feinden. Nachmals, als man die Toten und Verwundeten zählte, kam es heraus, daß ihrer höchstens achtzehn gewesen; den Franzosen aber dünkte es, als wärens Tausende, und so fuhren sie auseinander, zwischen die Häuser und
durch die Hecken. Die Preußischen hinter ihnen drein, bis sie vor den knatternden Flinten zurück mußten, und bis die französischen Kürassiere sie in hellen Haufen wieder ins Dorf geführt.
Was dann weiter geschehen, da weiß auch der Küster nicht recht Bescheid, denn, obgleich er gedient, hat er doch die Kriegskunst nicht studiert und ist auch kein Geschichtsschreiber. Einmal ist der Theodor, so wird er im Dorf genannt, an der Kirchhofmauer vorübergesprengt, und, den blutigen Säbel
schwingend, hat er zum Wolfskehl gerufen: »Das nehmen sie doch vielleicht für Revanche, Bruderherz.«
Dann hats nach vielem Getümmel noch eine Attacke gegeben. Nur noch mit sieben oder achten hinter ihm, die alle bluteten und zerfetzt waren, und ihm selbst war der Hut vom Kopf geschlagen, stürzte sich der Theodor auf die anpreschenden Kürassiere. Daß sie zurückgewichen und in Unordnung geraten, wollten die Franzosen nicht zugeben; aber leugnen konnten sies doch nicht, ihr Oberster war
durch einen Säbelhieb getroffen. Auf dem Pferde wankte er, und hätten ihn nicht zwei gehalten, er wäre gefallen und unter den Hufen zertreten worden. Denn nun ging das tolle Gemetzel los. Theodors Pferd, am Ohr gespalten, war rasend geworden; es schoß durch die dichten Massen und trug seinen Reiter ins Freie, bis es mit einem Todessatz ihn zur Erde schleuderte. Die sieben mit ihm sollen alle unter den Klingen der Kürassiere gefallen sein.
Einer aber, der alte Wachtmeister, war schon
vorhin aus dem Sattel gestürzt und lag, auf den Tod getroffen, an der Kirchhofsmauer. Als der Ritzengnitzer, der, am Bein verwundet, mit einer Muskete wacker auf den Feind gefeuert, doch nach einem Pferd schrie, und er wollte hinauf, um sich auch zu revanchieren und seine guten Kameraden zu retten, redete ihm der alte Wachtmeister ab: was denn zwei sollten, wos an einem genug sei, und der Tod hole sich jeden, den er will, der Soldat brauche ihn nicht zu suchen.
»Den Kornett retten
Sie nicht, den hat sich der Tod schon gesucht, so oder so, als wie mich auch – das wußt ich gestern schon – drum retten Sie noch den Leutnant dem König.«
Das hat der alte Mann vor seinem Tod gesprochen. Gedacht hat er: warum mußte der Leutnant nun davonkommen, und der Kornett dran glauben! Er meinte, es sei mehr zu trauern gewesen um seinen Kornett, als um den Leutnant.
Wie gesagt, es steht nicht so im Kirchenbuch geschrieben, noch hat es überhaupt wer
aufgeschrieben. Von den Bauern hats einer dem andern erzählt, und da ist wohl manches dazu gekommen, und noch mehr vergessen worden. Es war auch ein Brand ausgebrochen in einem Kätnerhause, und weil der Wind gegen das Dorf wehte, stürzten die Feinde dorthin, um zu retten, denn die Bauernhäuser lagen voller Verwundeten. Dem Umstande soll der Ritzengnitzer seine Rettung verdankt haben. Er hatte sich doch aufs Pferd heben lassen, um den guten Kameraden rauszuhauen, der ihn herausgehauen. Aber ehe
sie das Roß über die eingestürzte Mauer zogen, vergingen ihm die Kräfte.
Da lehnte er sich an die Steine und rief den wenigen um ihn ein Valet zu: es möge sich jeder salvieren, wers könne und noch Lust hätte zu leben. Er wankte durch die Sakristeipforte in die Kirche und wollte dort sterben. Von seinen Leuten, meint der Küster, wäre keiner davongekommen, alle seien niedergehauen, hier und dort; so gut hatten die Franzosen ihre Posten aufgestellt.
Der junge Herr von
Wolfskehl aber ist in der Kirche nicht gestorben, auch nicht gefangen worden. So viel ist gewiß, denn er hat noch lange nachher gelebt. Wie er aber davongekommen, ist noch heute ein Geheimnis. Die Leute meinen, der Schulze Gottlieb Köpke, der die Gefallenen hinausschaffen ließ, daß sie am Busch in die große Grube geschüttet wurden, welche die Bauern graben müssen, hätte den Leutnant in einem groben Husarenkittel, als einen Toten unter den Leichen mit hinaus gekarrt. Dort hätte er ihn nochmals im
Busch in ein Bund Reisig gewickelt und so wieder ins Dorf gefahren. Im Heu versteckt auf dem Boden, wovon niemand gewußt, bis auf ihn und die Marte, hätte die den jungen Herrn verbunden und gepflegt, bis die Luft wieder still ward und ein Loch sich fand, um ihn fortzuschaffen.
Der Schulze hats in Abrede gestellt gegen jedermann, auch als die Franzosen längst aus dem Lande, und auch da noch, als sie bis Paris geschlagen waren. Die Leute glaubtens aber doch. Gottlieb Köpke war ein
vorsichtiger Mann, er traute keinem Frieden, und hatte oft geäußert, man wisse nicht, ob die Franzosen nicht doch mal wiederkehren. Wenn aber Freunde in ihn drangen, er solle doch nur mit der Wahrheit rausrücken, das könne ihm, wenns an die rechte Schmiede käme, am Knopfloch was Buntes eintragen, und drunter etwas Blankes, da machte er ein ganz eigen Gesicht, den Mund weit auf und die Augen groß, daß man ihn hätte für dumm halten sollen, er war der Klügste und Pfiffigste weit um, und sagte:
»Darum?« und weiter sagte er nichts. Aber nach dem Frieden hatte er auf den birkenen Schreibsekretär eine große Stutzuhr gestellt, von schwerem, getriebenem Silber, die die Stunden und halbe Stunden schlug.
Er hielt viel darauf. Zu den Leuten, die sich über den Reichtum wunderten, sagte er, er hätte sie von einem polnischen Juden um ein Billiges erhandelt und brach dann kurz ab. Andere glaubten sich zu erinnern, daß sie die Uhr vordem in Schloß Ritzengnitz stehen gesehen und meinten,
sie wüßten nun, was die Glocke geschlagen, auch wenn sie nicht nach der Uhr sähen.
Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.