Willibald Alexis
Isegrimm
Wendisch oder germanisch.
eingestellt: 25.7.2007Neunundzwanzigstes Kapitel.
Wendisch oder germanisch.
Der Major war bei der Rückkehr durch eine Nachricht überrascht worden, die ihm nicht willkommen schien. Ein älterer Militärfreund war unerwartet angekommen, um so unerwarteter, als Obrist Heißborn ihm eine Zeitlang als Toter galt. Erst vor kurzem hatte er nur gerüchtweise gehört, daß derselbe bei der Erstürmung Lübecks zwar auf den Tod verwundet worden, aber noch lebe. Vor der völligen Genesung die Rückreise antretend, war er vor einer Stunde krank aus dem Wagen gehoben worden, um auf dem Gute seines Freundes seine Erholung abzuwarten.
Oberst Heißborn war einer jener preußischen Hitzköpfe und Bewunderer der alten Disziplin, die, voll unendlicher Verachtung gegen die Neu-Franzosen, damals gemeint hatten, Friedrichs Taktik gegen sie in Anwendung zu bringen, sei unnütz, man müsse die Kerle nur mit Knütteln traktieren. Er hatte vor der Entscheidung einige taktische Verstöße begangen, meinten andere Offiziere, um so verderblicher, als er Stabschef eines der Feldherren und von großem Einfluß war. Er hatte darauf die Besinnung verloren und durch unsinnige Ordres noch mehr Verwirrung in den geschlagenen Heeresteil gebracht, dafür in den letzten Tagen jedoch und namentlich bei Lübeck eine außerordentliche persönliche Bravour bewiesen. Er hatte den Tod gesucht, den er nicht finden sollte. Der Herr von Ilitz war ein Gesinnungsgenosse des Obristen gewesen, in vielem, nicht in allem; er tadelte seine Heftigkeit; sein Ungestüm schade ihrer Sache, auch an Friedrich sei nicht alles vollkommen gewesen. Den Mann sollte er jetzt wiedersehen, in allen seinen Hoffnungen, seinem Sinnen und Trachten zerknickt, einen Riesen von unbändiger Kraft, dem man alle Sehnen und Muskeln durchschnitten, aber das volle Leben ließ. Und der Major wußte nichts, um ihn zu trösten. Sollte er sich an Vorwürfen und Erinnerungen, wie alles hätte besser werden können, gegen ihn erholen?
Noch unangenehmer gerade jetzt das Zusammentreffen mit dem fanatisierten Manne, wo er einen ihm lieb gewordenen Gast zu schonen hatte. Heißborn, in Ekstase, kannte keine Rücksichten, sein unruhiger Geist mußte beständig komplottieren, wenn nicht gegen andere, gegen sich selbst. Mit dEspignac wäre er wie Stahl und Feuerstein aneinander geraten; er hätte seiner Natur nach vielleicht andere Komplotte versucht und – der Major hatte ja eben noch dem französischen Offizier sein Wort gegeben, daß er in seinem Schlosse sicher sein könne, er wache darüber.
Um so angenehmer war es ihm, daß der Sprudelkopf sich für heute jeden Besuch verbeten hatte.
»Wo er einkehrt, muß er herrschen,« hatte der Vater Minchen zugeflüstert. »Richte Dich danach, ich will nichts wissen, ich will heut einen heiteren, ungestörten Familienabend.«
Wo Wilhelmine sorgte, war alles wohlgetan, aber kann der Mächtigste durch sein Gebot auch nur eine heitere Stunde sich schaffen? Von dem Vorfalle in Quilitz sollte nicht gesprochen werden, aber die Nachricht war längst vor der Rückkehr der Reiter eingetroffen, und die Familie schon in Streit darüber, ob jene Radikalkur gegen die Einquartierung vom Hofmarschall oder seiner Frau ausgegangen. Die Mutter wollte doch alles verwetten, daß das ein Einfall der langen Rike sei, die Töchter waren anderer Ansicht. Die Tante in Quilitz hätte ihre Menage zu lieb gehabt, und ein Horreur vor den niedrigen Amtsstuben in Schmachtenhagen: die Spekulation rieche nach dem Onkel, und es würde wohl vorher viel rotgeweinte Augen gesetzt haben.
Umsonst verbot der Vater durch Worte und Blicke die Fortsetzung des fatalen Gespräches – schickte sich ein Disput darüber vor den Ohren der Einquartierung, zu welchen Opfern man sich entschließen kann, um sie los zu werden? Aber was half es, die Vermutungen platzten immer unwillkürlich heraus, der Streit hob immer wieder an, und dEspignac, wie geschickt er sich auch mit anderem beschäftigte, um nichts davon hören zu wollen, mußte doch davon Notiz nehmen. Er ließ etwas fallen von Monomanien, die oft in den Familien erblich seien. Er kenne eine, wo mehrere Glieder aus Angst vor Mörderhänden einen Selbstmord begangen hätten, ja von einem, der, von der fixen Idee verfolgt, daß seine geheimen Feinde sein Schloß anstecken würden, es selbst in Brand gesteckt.
»Sie haben recht, es steckt im Blute,« entgegnete der Major, »aber gewiß nicht in dem der Quarbitze. Treibe einer aus den Quisten die Kammerdienergesinnung aus!«
Wenn der Colonel es nicht bereits wußte, erfuhr er jetzt, daß diese Familie von einem Lakaien Joachims II. abstammte, welchem der Fürst mit der Hand einer seiner Maitressen die Klostergüter Schwanebück und Schmachtenhagen geschenkt. »Wie viel Generationen sind nun darüber hingegangen, man sollte denken, das Blut müsse sich gereinigt haben, denn sie heirateten in gute Familien, aber wo es hineingespritzt, klebt auch etwas von der alten Bedientenseele. Selbst bei den Ritzengnitzen; sonst ein ritterbürtiges Geschlecht, wenn auch nur Burgmannen; aber mit dem Gelde der Queiste kam auch gleich die Ueberhebung und der Schachergeist.«
»Auch hier die Bourgeois gentilhommes!« lächelte dEspignac. »Ich meinte, die edle Einfachheit der deutschen Sitten vertrüge sich mit dieser Krankheit nicht.«
Sie kamen auf das Gespräch zurück, welches durch den Eintritt ins Haus unterbrochen war.
»In den Geschichtsbüchern werden Sie freilich nichts davon finden,« hub der Hausherr an, »weil die Herren Historiker lieber aus ihren kritischen Konjekturen, als aus den Traditionen schöpften. Aber es ist höchst wahrscheinlich, daß das Heergefolge der ersten deutschen Eroberer aus jüngeren Söhnen gerade der vornehmsten deutschen Familien bestand. Die Slaven aus den Landen hinter der Elbe zurückzudrängen, welche ehedem germanisch gewesen, wo Tacitus noch unsere Väter gefunden, galt dem jungen unbändigen Adel an den sächsischen Fürstenhöfen als Ehrensache. Ich sage Fürstenhöfe, aber was waren diese Fürsten anders, als größere und kleinere Dynasten, die sich selbst nur nach harten Kämpfen der fränkischen Kaisermacht unterwarfen. Sie waren Freie, Reichsfreie, die nur sehr allmählich in die Lehnsbande sich fügten. Aus Liebe zu ihrer alten ursprünglichen Freiheit, und da sie die Hoffnung aufgeben mußten, gegen die fränkische Oberherrschaft wieder aufzukommen, drängten sie sich unter die Kreuzfahrer gegen die heidnischen Wenden. Im Osten wollten sie sich Luft machen, wieder freies Eigentum gewinnen, wo sie im Westen es verloren und sich gedrückt fühlten. Dies gelang freilich nicht allen. Der Arm der Askanier war zu kräftig. Aber die Zahl der Reichsunmittelbaren war weit größer, als man annimmt; die Lindau, Ebernburg, die Gänse zu Puttlitz, die Quiritz waren es nicht allein. Und wie der alte widerborstige Sinn in unseren Geschlechtern nicht erloschen war, sie vielmehr jede Gelegenheit benutzten, ihre alten Rechte und Freiheiten wieder geltend zu machen, dafür ist Ihnen die Geschichte der großen Einigung, bei der man mit Unrecht immer nur an die Quitzowe denkt, die Affäre vom Kremmer Damm und der faulen Grete ein Beweis. Wenn Sie nun die ältesten deutschen Dynasten- und Herrschaftsnamen mitten in diese slavischen Distrikte verpflanzt sehen, die Sternberg, Lindau, Frankfurt, spricht das nicht, wie in Kur-, Esth- und Livland, wo Sie dieselbe Erscheinung finden, dafür, daß Deutschland seine edelsten und besten Kräfte in dies Slavenland aus- und absetzte? So weit, mein Herr, gehen meine Beweise. Nun müssen wir es freilich dem Bewußtsein überlassen, von woher jeder seinen eigenen Ursprung leitet und zählt; was jeder wüßte, dafür bedurfte es, so meinten unsere Altvorderen, keiner schriftlichen Aufsetzung.«
Die Mutter war beim Strickstrumpf eingeschlummert, Minchen gähnte, und Karoline flüsterte ängstlich zur Schwester: »Ach, nun kommt die Kaisergeschichte. Was muß der Colonel davon denken!« Bis zur Kaisergeschichte kam es indes nicht.
»Ich will zugeben,« fuhr der Hausherr fort, »daß die Querbelitze ursprünglich eine wendische Rasse waren. Vielleicht ein Schimpfname; wie oft wird der aber in Parteikriegen zum Ehrennamen! Ich folge der Sage, daß sie eine räuberische Verbrüderung zu Lande gewesen, wie die Yomsburger und andere Wickinger-Gesellschaften zur See; ein Schrecken der Umgegend, in die sie von ihrer Sumpffestung aus Raubzüge unternahmen. Je größer der Schrecken, den sie über die deutsche Grenze verbreiteten, um so mehr Verpflichtung der deutschen Kaiser, einen Pfahl ihnen ins Fleisch zu treiben. Denn man weiß, daß es mit einfacher Besiegung und Unterwerfung bei den Wenden nicht getan war; kaum daß das deutsche Heer den Rücken gekehrt, ihre Sümpfe und Seen wieder aufgetaut waren, so schüttelten sie mit der Taufe den Oberherrn ab. Der Pfahl ins Fleisch war ein deutscher Oberaufseher, Zwingherr, wie Sie wollen, Gau- und Markgraf. Nehmen wir diese natürliche Erklärung an, so lösen sich von selbst alle scheinbaren Widersprüche der Chronisten und Urkunden. Das castrum Quorbeliza dort im Moor war das befestigte Lager der alten Heiden, die arx illustrix Werbeliz aber das Schloß, die Zwingburg des deutschen Vogtes oder Grafen. Der deutsche Herr wird nun das widerborstige Geschlecht ordentlich gezaust und gebändigt haben. Beweis die Geschichte: Die Slaven haben nicht die Germanen, sondern diese jene überwunden, und meine Familie blieb im Besitze der Güter, die ursprünglich beneficia, das ist Lehen des Reiches, waren. Aber bei jahrhundertelang dauernden Kämpfen zwischen Völkern verschiedener Abkunft nimmt eines nur zu leicht die Sitten, den Aberglauben, die Beschäftigung, selbst die Sprache und die Namen des anderen an. Wurden die Nachkömmlinge der Goten im Kampfe mit den Mauren nicht halbe Araber? Sehr möglich nun, daß auch uns das passierte. Indem man Wilde zähmt, wird man selbst etwas wild, und außerdem erbt der Sieger und Eroberer die Rechte der Besiegten. Die Herren identifizierten sich mit ihren Untertanen, sie haben auch wohl ihre Einfälle und Raubzüge fortgesetzt. Wir sind die Querbelitze, vor denen die Chronisten in den Chroniken ein Kreuz schlagen, aber um deshalb bleiben wir, was wir gewesen waren, und am wenigsten sind wir, wie einige Heraldiker behaupten wollen, darum wendischen Ursprungs.«
Der Colonel fand diese Auslegung ebenso sinnreich als wahrscheinlich. Das blaue Auge in der Ilitzer Familie spreche gleichwie die blonden Haare des Quilitzer Zweiges für die germanische Abkunft.
Der Major verzog die Lippen. Die blonden Haare, meinte er, könnten wohl erst von der polnischen Gräfin kommen. »Unter uns,« sagte er leise, »ich gebe nicht viel auf unsere Blutsverwandtschaft. Die Quilitzer müssen wendischen Blutes sein, entweder eine sitzengebliebene kleine Slavenfamilie, oder unsere Vorfahren waren auch nicht immer Josephe, und die wendischen Mütter von leichtem Blut. Gewisse Väter begünstigten ihre natürlichen Söhne oft über Recht und Gebühr. Uebrigens glaube ich auch nicht, daß die Quilitzer ursprünglich ritterbürtig sind.«
dEspignac fand auch in dieser Konjunktur Wahrscheinliches. Er wußte ein Beispiel aus den Traditionen seiner eigenen Familie aus den Kreuzzügen, und wollte eben die merkwürdige Geschichte eines Usurpators erzählen, als der Major abgerufen ward. Ein Fremder, der sich schon während seiner Abwesenheit gemeldet, wünschte den gnädigen Herrn zu sprechen.
Karoline benutzte die Pause, am Stuhl des Colonel vorüberzustreifen.
»Nur nichts von den Kreuzzügen! Das ist ein wunder Punkt.«
»Warum?« flüsterte er.
»Wir haben keine Kreuzritter in unserer Familie.«
Sie hätten nicht nötig gehabt, leise zu sprechen. Wo jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, gab niemand auf den anderen acht. Waren die so trüb wie die Kerzen, die niemand putzte?
Die Mutter merkte nicht, daß ihr Strickzeug ihr entfallen und ihr Kätzchen damit spielte. Wilhelmine schien auch müde, aber als gute Oekonomin benutzte sie immer die heraldischen Diskurse des Vaters, um ihr Ausgabebuch in Ordnung zu bringen. Herr Mauritz hatte, als die Reiter zurückkehrten, in Symphonien am Klavier sich verloren. Er saß jetzt wieder halb davor, den Kopf im Arm, und seine Augen starrten auf die Klaviatur, als wolle er den Tasten eine neue Weise entlocken, die in ihm lebte, und für die er nach einem Ausdruck rang. Malchen war in Trauer, sie war es wenigstens allein, die seit Theodors Tode ihr schwarzes Kleid angelegt. Die Blässe ihres Gesichtes stand dem Kinde wohl, wenn man noch von einem Kinde reden durfte.
Sie schien in wenigen Tagen gewachsen, wenn auch nicht mit der Elle, man konnte es an ihrer Haltung, am Ausdruck ihres Gesichtes messen. Wenn der Flammenschein des Ofens, an dem sie nähte, ihr Gesicht anrötete, glaubte man in ihrem Auge einen Spiegel zu entdecken, in dem die Gegenstände sich tief abdrückten. Fiel der Blick auf den Kandidaten, nahm er den Ausdruck der Befriedigung an. Seine Unruhe schien sie nicht zu kümmern; es schwebte sogar zuweilen ein feiner lächelnder Zug um die Lippen. Aber anders war es, wenn sie auf Karolinen und den Obristen blickte. Sie verstand nicht französisch, aber sie ließ oft nachdenkend die Nadel fallen, und ihr Auge haftete mit einem besorgten Ausdruck auf den beiden.
Was die miteinander sprachen? Vielleicht von Luft und Wind. Karoline hatte eine Häkelarbeit ergriffen, sie knittete emsig daran; aber wer die Arbeit fortsetzen wollen, hätte Mühe gehabt, die Fäden und Maschen in Ordnung zu bringen. Wenn der Flammenschein sie traf, war man zweifelhaft, ob die flüchtige Glut vom Ofen kam, oder von innen ausströmte. In den südlich dunklen Augen des Militärs widerspiegelnd, verriet sie nichts von dem, was drinnen vorging. Die Unterhaltung schien von ihm geführt, wie es eben nur Franzosen können, glatt und anmutig über schroffe Klippen und brausende Strudel fortschwebend, und wo sie dürre Klippen berührte, wies er auf Fata Morganen in der Ferne.
Er hatte bewundernd über den Charakter ihres Vaters gesprochen: aus jedem Fältchen schimmere der Strahl eines echten Edelsteins. Je länger man ihn betrachte, so mehr schwinde die rauhe Hülle.
Sie ließ ihre Arbeit sinken und sah ihn forschend an. »Haben Sie vorhin über politische Gegenstände mit ihm gesprochen?«
»Nur die, wo eine Einigung war. Wir treffen immer auf dasselbe Ziel.«
»Und doch müssen Sie auf etwas gestoßen sein, was ihn unangenehm berührt hat. Ich kenne seine Art.«
Er sann nach. »Sollte das Bekenntnis meiner Jugendverirrungen –«
»Erhoben Sie Napoleon zu sehr? Zuweilen erträgt er es, aber mitunter –«
»Er verteidigt ihn sogar.«
»Wenn er von Unberufenen angegriffen wird. Vielleicht wurden Sie ungeduldig bei seinem Stammbaum. Und doch können Sie es als ein Zeichen seines Vertrauens nehmen, wenn er gegen einen Fremden auf das Kapitel kommt. Nehmen Sie es geduldig hin. Widerspruch verträgt er, aber ein ungläubiges Lächeln kann alles verderben.«
»Ich bin ja im Lande der Wunder, Mademoiselle, wo die Kritik im Zauberbrunnen des Glaubens versinkt. Ach, wie wohl befindet sie sich darin! Könnte sie immerfort in den kühlen Wellen plätschern, und kein rauher Arm streckte sich nach ihr aus, um sie aus dem lieblichen Helldunkel wieder ans blendende Tageslicht zu reißen, – dahin, was sie Pflicht heißen. O, Ihr Märchen vom Tannhäuser,« seufzte er, »das man mir in Berlin erzählte, ist schön. So ein anderer Rinaldo zu bleiben, auf schwellenden Rasenpolstern unter duftenden Nachtschatten ein besseres Leben zu träumen! – Ich träume hier, glauben Sie es mir, es kostet mir keine Mühe mehr, meine Vernunft gefangen zu geben, ich glaube alles, was man mir erzählt, und möchte noch mehr glauben. Was ist ein glückliches Leben denn anders, als eine Kette von Illusionen, eine Fortsetzung des Traumes der Kinderjahre, daß wir zum Glück geboren seien, den Tugendhaften das Verdienst immer belohnt wird, daß alle Menschen von Herzen gut sind. Wie oft hat meine Vernunft, die bittere Erfahrung so langer Jahre, mir das Gegenteil gepredigt, daß diese Welt ein Schlangenknäuel von Eigennutz, Tücke, Neid, von Bosheit und allen Lastern sei, daß das Verdienst selten oder nie belohnt wird, daß der Schleicher und der Unverschämte es am weitesten bringt, daß der Unschuldige ein Spielball ist in den Händen der Intriganten und Betrüger, und der Zufall die Dinge auf dieser Erde leitet. Heute, meine schöne Freundin, stehe ich wieder wie ein gläubiges Kind da, alle diese Erfahrungen sind untergesunken wie ein böser Traum, ich kann wieder froh sein, hoffen, lächeln, ich habe mich selbst vergessen und will unter diesen reineren, edleren Naturmenschen, die ich kennen gelernt, alles hinnehmen, nennen Sie es Traum, nennen Sie es Offenbarung einer Wahrheit, die ich noch nicht kannte.«
Karoline meinte, er schwärme.
»Soll ich mich denn nicht verzaubert fühlen? Ich, ein gespornter Soldat des neuen Kriegsgottes, der seinen Siegeswagen, alles zermalmend, über die Welt peitscht, sitze hier in Frieden. Ein teurer Verwandter kam durch mich um. In Korsika hätte jeder einen Dolch für mich, in Italien hätte man mir Gift gekocht, in Spanien längst, wenn ich einsam über die Heide ritt, ein Trabuco aus den Hecken geknallt, und am Morgen hätte vielleicht mein entzügeltes Pferd vorm Tore gescharrt, damit man den verbluteten Leichnam im Hohlweg suche. Hier bin ich wie ein aufgenommener Sohn, wie das Kind einer glücklichen Familie. Ich gehe zur Ruhe, ohne meine Tür zu schließen, ohne das Pistol zu laden, den Degen an mein Bett zu legen. – Ist nicht alles, was ich sehe, höre, Wunder! Da die gute Mutter. Wie der Friede der Gerechtigkeit um ihren Schlummer spielt! Sie weiß nichts vom Krieg, von der Ungerechtigkeit der Welt, von den Lasten der Einquartierung. Da die liebliche Wilhelmine, ein Bild, wie es nur ein deutscher Dichter findet, sie sieht uns nicht, sie kneift nur die Lippen, wenn eine Addition oder Subtraktion nicht stimmen will. Der Kandidat, o, sehen Sie diesen melancholischen Blick des halb geschlossenen Auges, wie er nach Accorden aus einer anderen Welt sucht. Und die sinnige Kleine, wie die Schöne aus einem Märchen; zurückgezogen sitzt sie am Ofen, auf dem niedrigen Schemel, und ich wette, sie sinnt und spinnt, eine gütige Fee, ich weiß nicht was, für uns. Ich fürchte mich fast, wenn sie Blicke auf uns schießt – der Kandidat da braucht sich nicht zu fürchten. – Und soll ich noch weiter mich umschauen in dem altersgrauen Zimmer! Was atmet und wallt in diesem verglimmenden Kerzenduft! Ich scheue mich fast, zu scharf zu sehen, ich fürchte immer, es sei nur ein Traum, und ich erwache beim Hahnenschrei aus meinem Strohlager im Biwak, und die Trompete schmettert zum Aufsitzen. Der Vater wird nun eintreten, dies grau gekräuselte Haar, die gefurchte edle Stirn, der Blick aus dem Auge, dessen helles Blau die Jahre nur verklärt haben, welches Bild aus einer untergesunkenen Vergangenheit! Und soll ich nicht glauben, wenn er von ihr erzählt? Ich soll die nüchterne Vernunft zitieren, um an dem schönen Märchen zu mäkeln, ich soll zweifeln – mein Gott, weshalb, wenn er mich unter die Abkommen eines verklungenen Kaisergeschlechts einführt. Nein, nein, nichts von der nackten, traurigen, dürftigen Wirklichkeit, fort mit der Aehrenlese der Kritik, die nur Stroh und Steine in ihren Rechen fängt, wo eine andere schöne Wahrheit nun um mich blüht.«
Die nächste Wahrheit oder Wirklichkeit war aber nicht schön. Der Vater war mit verdrießlichem Gesicht zurückgekehrt. Vielleicht hatte schon die Botschaft des Fremden ihn verstimmt. Aber während er mit ihm gesprochen, war er durch ein Geschrei unterbrochen worden.
Der jüngste Sohn heulte im Korridor: »Ich werde es Vatern sagen!«
Der Major war mit einem Fluch hinausgestürzt; er konnte Tränen nicht leiden, am wenigsten bei den eigenen Söhnen; wenn aber seine Jungen in ihren Balgereien, statt sich selbst zu helfen, mit dem Lehrer oder Vater drohten, empörte es ihn. Diesmal fuhr indes die schon geschwungene Hand nicht um die Backen des Schreiers, denn sie bluteten. Hinter Ludolf stand der ältere Wolf, das Ritterschwert des Colonel in der Hand.
Die kurze Untersuchung hatte ergeben, daß sie, glücklicherweise für sie, mit Erlaubnis der Einquartierung in deren Stube gespielt, dort den alten Degen gezogen, und Wolf den Ludolf bei einigen Kreuzhieben in die Luft an der Stirn getroffen hatte.
Die strenge Hand des Vaters war um die Ohren des nicht schreienden Wolf gefahren, und einige Schmerzenslaute hatten eine Verschärfung der Strafe sofort zuwege gebracht. Auch seine Entschuldigung, daß er nur versucht, wie es sich mit einem Ritterschwert haue, lockte nur die Antwort hervor, daß man Ritterschläge erst dann führen dürfe, wenn man selbst den Ritterschlag erhalten.
Die gute Mutter schrie auf; sie wollte zu dem armen Jungen springen, Minchen und der Kandidat auch; ein Wort des Majors hielt alle zurück. Es mußte eins der Worte sein, die jeden Widerspruch unmöglich machten. Man gab sich, einigermaßen beruhigt, als der Vater hinzusetzte, es hätte nichts zu bedeuten, die Magd hätte den Jungen verbunden.
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