Frei Lesen: Isegrimm

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Kapitelübersicht

Die Schwedenschanze | Die Blutsteine. | Der Quilitzer Knecht. | Die Querbelitzer Schenke. | Schemelbeine. | Isegrimms Haus. | Isegrimm. | Eine Rückfahrt. | Alte Geschichten. | Die erste Nacht in Haus Ilitz. | Eine Erscheinung im Walde. | Der Ball muß sein. | Zwei Anstands-Visiten. | Malchen. | Ein Wetterstrahl im Ratskeller. | Zum Ball oder nicht zum Ball? | Die Ouverture zur Ballmusik. | Die Ballnacht. | Vorm Scheunentor. | Im Schnee. | Jede Schlacht fordert Präparationen. | Schulze und Edelmann. | Die Einquartierung. | d'Espignac. | Der kleine Krieg. | Der Versucher im Hause. | Scheiden. | Ritter und Reiter. | Wendisch oder germanisch. | Das Schwert des Cid. | Der Beichtvater. | Chaotische Besuche. | Der unbegreifliche Brief. | Das Vaterland und bürgerlichen Offiziere. | Die Brücke in die Zukunft. | Eine deutsche Konversation. | Nachtgespenster. | Der Krieg ist nicht Zeit zu Hochzeiten. | Das Ahnenbild stürzt. | Ein verhängnisvoller Brief. | Die Katastrophe. | Ein Doppelgänger. | Eine dunkle Tat. | Ein politisches Geheimnis. | Ihr von Ilitz, Ihr von Ilitz, Solltet nimmermehr nach Quilitz! | Ein Gewitterschlag. | Ein ernstes Zwiegespräch. | Friede und Resignation. | Nach sechs Jahren. | Von Hochgezieten. | Gräfin Heilsberg. | Querl. | Schluß. |

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Willibald Alexis

Isegrimm

Chaotische Besuche.

eingestellt: 25.7.2007

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Chaotische Besuche.



»Wo in Gegenwart und Vergangenheit sahen Sie eine Herrschergröße seiner gleich! Dieses Auge, das die Schlachtreihen anordnet und durch den Pulverdampf dringt, als läge vor ihm heller Sonnenschein, diese Seele, die Feuer schnaubt, und über sein Apolloantlitz schwebt das Lächeln der Ruhe! Wir, Sie, alle scharren nach dem Körnlein auf dem Dunghaufen, sein Adlerblick mißt die Ernte der Zukunft, dort schichtet, ordnet, teilt er, indes wir wähnen, mit aufgeschütteten Maulwurfshaufen seinen Riesenschritt aufzuhalten. Er ist der Held, nicht der Gegenwart, der Zukunft, das Ideal aller Herrschergröße, der Mann, den die göttliche Vorsehung geweckt und gesandt, in das erschlaffte und abgelebte Europa neues Leben zu hauchen – ja, meine Freunde, sehen Sie mich verwundert an, wie ich vor Ihnen stehe, der Mann mit weißem Haar, mit zerhackten Gliedern, diese Züge, verwittert von so vielen Campagnen, mehr noch von so vielen Täuschungen, der Schmerz schüttelt und rüttelt an dem zerbrochenen Körper, und doch spritzt heißes Jugendblut bis in die Stirnadern und die Fingerspitzen. Aber das ist es nicht. Hier der alte Soldat mit den weißen Gamaschen, den drei gepuderten Locken, daß auch der Mann mit dem pour le mérite am Halse ausgetauscht ist: Tollheit, Undank, Verwirrung, nennen Sie es, wie Sie Lust haben, daß der glühendste Verehrer Friedrichs jetzt Napoleons Lobredner ist. Ich bin nicht ausgetauscht; die Dinge haben sich nur vertauscht. – Ja, ja, Friedrich war groß, der Genius seines Jahrhunderts, aber wenn das Jahrhundert wie ein leckes Schiff in den Wogen der Unendlichkeit versinkt, fliegt der Genius auf und sucht eine neue Verkörperung. Schelten Sie mich blind – immerhin! Ja, auch der Knopf, die Litze, die von ihm kam, war mir ehrwürdig, alles, alles, die Sohle selbst, die der Fuß seines letzten Grenadiers von sich schleuderte, denn wo ich nichts Besseres kannte, hielt ich am Besten fest. Hörten Sie mich nicht einen barbarischen Exerziermeister schelten, weil ich jeden Verstoß gegen seine Vorschrift rügte, weil ich nichts von den Alfanzen, den jungen Genies, die alles korrigieren, wissen wollte! Was helfen neue Lumpen auf ein Kleid, das in Fasern zerrissen, aus dem der Moder duftet! – Jetzt weiß ich es, das Licht ging mir auf, Friedrich hatte eine Mission, er hatte sie erfüllt, was an ihm. Konnte er dafür, daß seine Nachfolger sie nicht begriffen, daß er dem Staube seinen Zoll abstatten mußte, ehe sein Volk seinen Geist erkannt? Konnte er dafür, daß der Weltgeist in Decennien den Marsch von Aeonen zurücklegt, und daß die Mission von heute eine andere ist, als die vor fünfzig Jahren? Er schlummert, und der größere Genius, der von heut, hat an seiner Gruft zu Potsdam ihm die Hand geschüttelt und ihm das Gelöbnis abgelegt, daß er seine erfüllen will, – seine, er, der Mann dieses Jahrhunderts, mit der welthistorischen Aufgabe, eine Universalmonarchie zu gründen. So ists im Rat des Allweisen beschlossene und die menschliche Ohnmacht ändert daran nichts.«

Es war nicht Deklamation, es war ein riesenhafter Schmerz, mit dem der Obrist rang, er schluchzte auf, die Tränen stürzten ihm von den Wimpern; der Schmerz war es, die Wahrheit bekennen zu müssen, daß sein Leben hinter ihm ein verlorenes sei, und er hatte vor sich keines, um es wieder gutzumachen.

So übermannt von der Heftigkeit der Gefühle hatte er das Zimmer verlassen. Die Tür, die hinter ihm zuschlug, dröhnte wie ein Wetterschlag aus reinem Himmel denen, die heut am Frühstück in Haus Ilitz saßen. Es war vieles in kurzer Zwischenzeit vorgegangen.

Kaum daß an dem frühen Morgen der Colonel das Hans verlassen, war eine Postchaise mit zwei Herren von der Straße nach Pommern ins Tor eingelenkt. In dem bescheidenen Aufzuge, der kotbespritzten Kalesche, hatte man den vornehmen Gast nicht erwartet, für den Wilhelmine bereits das beste Zimmer eingerichtet; noch mehr überraschte der Begleiter, der, in einen militärischen Mantel gehüllt, zuerst heraussprang, um dem andern, sichtlich Kranken zu helfen.

»Der Reichsgraf von Waltron-Alledeese! Und von der Armee! Was bedeutet das?« rief der Major.

»Daß er auch den Abschied nahm; weiter nichts!« hatte der Reichsgraf hingeworfen, indem er seine ganze Kraft nötig hatte, um den von einem Schwindel Ergriffenen herauszuheben.

Der Diener und der Major mußten zuspringen, um ihn zu unterstützen.

»Wenn auch diese Männer schwach werden!« hatte der Major beim Eintritt ins Haus gemurmelt. »Denken Sie nur nicht,« war die rasche Antwort des Grafen, »daß die Geschichte da in Königsberg meinen Freund umwarf. Rein physisch! Die Strapaze zur See, und dann bei Stettin gerieten wir Polen in die Hände, die mit den Schillschen Partisanen scharmutzierten. Was wußten die vom Freiherrn von Stein! Und dann Tag und Nacht über Stock und Block. Wir werden einige Tage Ihre Gastfreundschaft beanspruchen müssen.«

Es mußte noch mehr vorangegangen sein. In dem Saal, wohin man den Reichsgrafen, nachdem er für den kranken Freund die nötigste Sorge getragen, zum Frühstück führte, stand schon jemand im, wie es schien, lebhaften Gespräch mit dem Kandidaten: dieselbe Person, die wir als Viehhändler kennen gelernt. Er trug diesmal einen bescheidenen bürgerlichen Ueberrock, seine Manieren aber verrieten, daß er in die Gesellschaft gehörte, wenigstens sich darin zu bewegen wußte.

Bei der Begrüßung der weiblichen Mitglieder der Familie vor der Tür schien zwischen dem Grafen und ihnen nur eine alte Bekanntschaft erneuert; der Graf trat, am einen Arm die Mutter, am anderen Wilhelminen, unter scherzhaftem Gespräch ein. Wo man bange und was man nennt lange Gesichter an allen zu bemerken glaubte, verriet seines mehr die Heiterkeit eines Weltmannes und Militärs, der, täglich den Wechselfällen der Schlachten und des Glückes ausgesetzt, die Ruhe gefunden hat, welche vor nichts Unerwartetem mehr zurückschrickt.

Beim Anblick des Fremden hatte er mit einem: »Ah, Sie schon da! Auch ein alter Bekannter!« ihm leicht die Hand gereicht. »Sie kommen jetzt zu früh, und doch, besorge ich, zu spät. Wir sind außer Aktivität. Man braucht unsere Dienste nicht mehr. Doch davon ein andermal!« hatte er rasch zum Gutsherrn sich umgewendet. »Wie steht es hier? Wie ertrugen Sie die Drangsale der Zeit? Ich hoffe, gut. Ich sehe blühende Gesichter; mein Patchen Wilhelmine hätte ich nicht wiedererkannt. Das letzte Mal schaukelte ich sie noch auf meinen Knien. Das würde sie sich heute verbitten. – Haben Sie Einquartierung? Hatten Sie viel von ihr zu leiden?«

Der Ernst auf dem Gesicht des Fremden, sekundiert von dem leuchtenden Blick im Auge des Kandidaten, brachte auch augenblicklich wieder den Ernst in den Zügen des Grafen zum Durchbruch.

»Meine Freunde,« hatte er gesagt, »alles zu seiner Zeit. Wir wollen den häuslichen Frieden edler Frauen nicht durch unsere Geschäftsangelegenheiten stören.«

Da hatte der Hausherr das Wort ergriffen.

»Erlaucht treten in ein Haus, wo, Gott sei gelobt, auch die Frau begreift, was zu des Hauses Ehre not ist. Das Haus ist ein Teil des Landes, und wo das Land trauert, können seine Bewohnerinnen nicht Bänder mit Freudenfarben ins Haar stecken.«

»Die armen Frauen!« Unwillkürlich war die Hand des Reichsgrafen über den glatten Scheitel Wilhelminens gefahren. Sie errötete, und er auch etwas. »Ja, so geht es, wenn man sich das Vergangene immer noch als gegenwärtig denkt. Man verfällt in lauter Irrtümer. Nicht wahr, wenn wir diese fatalen Gedanken los werden könnten, um wie viel glücklicher könnten wir sein, Herr von Quarbitz?«

»Ich kann mir kein Hineinleben in die Zukunft denken, wenn ich nicht Trost und Kraft in der Vergangenheit suchen kann,« war des Majors Antwort gewesen, worauf der Graf ebenso ruhig erwiderte: »Auch wahr. Es ist Steins täglicher Wahlspruch.«

Die Unterhaltung am Kaffeetisch war peinlich gewesen. Das Wichtige, was die Gäste zusammengeführt, sollte und konnte nicht verhandelt werden; gewiß nicht vor der Familie, und doch blitzte es immer unwillkürlich heraus. Es drückte die unausgesprochene Ueberzeugung, daß etwas sich zerschlagen, verfehlt sei, auf die Gemüter. Noch hatte keiner dem andern gesagt, was das sei, und doch fühlten alle, daß es nicht der Verlust einer neuen Schlacht, daß es ein innerer Schade sei, an dem ihr Mut erkrankt war. Die Namen Beyme, Hardenberg, Rüchel, Kabinettsregierung wurden nur genannt, mit hingeworfenen Bemerkungen, es waren mehr Seufzer als Hoffnungsstrahlen.

»Wer hatte an solche Verhandlungen gedacht, wer, daß sie auf diese Weise sich zerschlagen sollten!« hatte endlich der Hausherr das Wort ergriffen.

Der Fremde schwieg, mit einem ernsten Blick auf den Major. »Muß denn alles zerschlagen sein?« sagte der Graf.

»Wie dem auch sei, Erlaucht, wir haben Zeit, uns zu besinnen,« hatte der Major entgegnet, »aber in meinem Hause weilt ein anderer Gast. Eine Pulvermine im Keller und ein Trunkener, der mit einer Fackel darüber tanzt, ist nicht gefährlicher als der Oberst Heißborn, wenn er von Anschlägen gegen die Franzosen hört. Da ist nicht mehr Zeit, zu bestimmen und zu verhandeln, er läßt die Raketen steigen, gleichviel, wohin ihre Funken sprühen. Wir fliegen auf, ehe wir es uns versehen, um deshalb ist es Pflicht, auch die ungeborenen Gedanken vor ihm zu verbergen.«

Das etwa war jener Rede vorangegangen, womit unser Kapitel anhebt. Der Oberst Heißborn war – wie eine Bombe, sagte man ehedem, unter die Versammlung gefallen. Und die Bombe war geplatzt; nur hinkt hier das Gleichnis, die Entladung war eine völlig unerwartete. Der Graf, der Major, auch der Fremde schienen den sanguinischen Mann zu kennen. Nach seiner stürmischen Entfernung dauerte das peinliche Schweigen noch eine Weile.

»Beim allmächtigen Gott, das ist zu arg,« rief der Major endlich aufspringend. »Und einem solchen Manne war das Schicksal einer preußischen Armee anvertraut. Himmel und Hölle! da könnten arge Gedanken im Hirn entspringen.«

»Heißborn ist nur der Mann des Impulses,« entgegnete der Reichsgraf.

»So war hier das Schicksal von zwanzigtausend Tapfern einer Wetterfahne anvertraut!«

»Nur hier allein, Herr Kamerad? Ists nicht überall ein Würfelspiel, welchem General ein Fürst das Kommando seiner Armee anvertraut? Habe er sich bis da noch so umsichtig gezeigt, noch so viel Geschick, wer steht denn dafür, daß ihm die Geistesgegenwart im Augenblick der Entscheidung bleibt, daß der Löwenmut ihn nicht im Moment verläßt, weil er eine Spinne erblickt, eine Maus, irgend was, wovor er eine Idiosynkrasie hat? Davon hängt die Bataille ab, und kein König, keine venezianische Zehn, kein Pariser Wohlfahrtsausschuß wägt mit dem Wert auch das Glück des Feldherrn ab, in deren Hände sie ihr Schicksal, das des Staates, der Nation legen. Auch aus der sichersten Vergangenheit sind keine sicheren Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Augenblick, Wind und Wetter, die Zeitströmung, Leichdörner, üble Verdauung, alles wirkt auf unsere Stimmung, und unsere Stimmungen bewirken unsere Handlungen, und unsere Handlungen, von solchen Stimmungen bewegt, haben Königreiche gesprengt, zuweilen gerettet. Heißborn ist eine Natur, die keine Widerrede duldet. Wenn der König ihm damals nicht den Rücken gewandt, hätte er ihm den Hut vor die Füße geworfen. So zornig, außer sich war er, daß man 1805 nicht losschlug. Nun hat sich das Blatt gewandt; er nicht. Wenn die Opposition in ihm zu stark wird, schlägt sich der ganze Mensch auf die Seite der Opponenten; merkwürdig ist nur der schnelle Prozeß, und ich meine achtungswert, daß er nicht heuchelt und nicht Vermittlungen und Uebergänge sucht, die seinem Umschlag einen anderen Schein bereiten sollen. Er wäre imstande, es dem Könige selbst ins Gesicht zu sagen: ich verlasse Dich! Nicht diese Fanatiker, die plötzlich sich vor dem neuen Licht auf die Erde werfen, sind Deutschlands Verderben, vielmehr die Vorsichtigen, Berechnenden, die Mantelträger, die mit gekrümmtem Rücken lavieren, bis sie mit einiger Ehrenhaftigkeit in des Feindes Lager hinüberrutschen. Der Schweif hängt sich an die Macht, das ist ein Naturgesetz; darüber grollen, Torheit. Wir sollten uns über Charaktere freuen, die noch selbständig handeln, die noch in unserer morschen Zeit jugendfrisch der Blutwärme gehorchen, ohne Rücksichten, ohne Furcht vor der Blame. Denn daß diese ihn treffen wird, wie es auch ausschlägt, dafür darf der Feuerbrand nicht sorgen.«

Der Herr von Ilitz hatte keine Worte für das, was er gehört. Die Hände geballt, die Miene glühend, schritt er auf und ab.

»Wenn greises Haar, Narben voll Ehren, wenn ein makelloser alter Name, ein Adel, der an den Kaiserthronen zunächst stand, nicht vor der Schande bewahren, was dann – was schützt uns vor uns selbst!«

Der Fremde ergriff zum ersten Male das Wort mit bescheidener Stimme, aber mit einer überlegenen Ruhe, welche auf eine gereifte Lebenserfahrung deutete:

»Vor sich selbst ist jeder sein eigener Versucher, sein eigener Ankläger, Verteidiger und Richter. Aber weißes Haar schützt so wenig als uralte Namen vor der Macht des Genius. Dem erliegen alle Potenzen, wie sie sich auch dagegen sträuben. Es ist die Aristokratie, die endlich alle Aristokratien besiegt. Und wehe dem Volke, dem ganzen Menschengeschlecht, wenn dies Naturgesetz aufgehoben wäre. Es wäre das Zeichen des herannahenden Marasmus, wenn die Materie dem Geist einst die Herrschaft aus den Händen ringen könnte. Schütze Gott die Völker und Staaten Europas vor dem Schicksal, dem das alte Asien erlag! – Meine Herren,« fuhr er nach kurzem Innehalten fort, »ich maße mir nicht an, lesen zu wollen, was in der Seele des Obristen Heißborn voranging, denn ich habe nicht die Ehre, ihn zu kennen wie der Herr Reichsgraf, diesmal aber weiß ich, daß Napoleons Genius unmittelbar ihn besiegt hat. Der Kaiser ließ den Gefangenen vor sich führen, und von dem Feuerguß einer dreiviertelstündigen Unterhaltung schmolz seine stolze Seele.«

Der Gutsherr lachte höhnisch auf.

»Es ist größeren Geistern als seinem so ergangen,« fuhr der Fremde fort. »Möge die Geschichte Verzeihung für sie finden!«

»Er wird auch schon wieder zur Besinnung kommen, ehe er zur Geschichte wird,« schaltete der Graf Waltron ein. »Wer sich so schnell bekehren läßt –«

»Wird nur durch sich selbst bekehrt,« fuhr der Fremde fort. »Geben Sie ihn auf, meine Herren, seien Sie zufrieden, daß noch keiner ihn ins Vertrauen zog. Der Art Naturen werden nur durch Sättigung geheilt. Alle unsere Gründe, und wenn wir mit Engelszungen redeten, prallten ab. Lassen Sie ihn vor der neuen Sonne anbetend niedersinken, bis ihre Macht sein Blut zum Zerspringen entzündet hat. Dann vielleicht –«

Obrist Heißborn stand wieder im Zimmer.

»Haben Sie Gericht über mich gehalten?« Seine Blicke flogen umher, ohne irgendwo zu haften; ihr Urteilsspruch, wenn er ihn las, war ihm gleichgültig, es waren ihm das wohl auch ihre Personen. So war er auf einen Stuhl gesunken. »Ich bin wohl schon ein Ausgestoßener! Man würdigt mich keines Wortes. Oder sehe ich bemitleidende Blicke? Ja, meine Freunde, wenn Sie mir noch den Namen erlauben, ich verdiene Mitleid. Wer mit Augen nicht sieht – mit Ohren nicht hört – aber beklagenswerter, welche sie jetzt noch verschließen.« Er atmete schwer auf. »Die preußische Monarchie ist aus! Ich ahne, was Sie hier zusammenführt; doch fürchten Sie keinen Verräter, ich kann Ihre vergeblichen Mühen nur bedauern. Wenn Ameisen den Bau wiederherstellen, den die Spitze eines Menschenfußes in Unordnung brachte, sehen die Fleißigen nicht, daß der Fuß schon wieder gehoben ist, um mit einem Tritt ihren ganzen Hausen zu zerstören. Gott schuf so die Welt; die Ameisen können nicht dafür. Aber den Weisen sollten sie trauen, den Sehern, die in die Zukunft wie in die Vergangenheit blicken. Johannes Müller kannte doch dies Preußen! Er sang der Monarchie schon das Totenlied, wie einer für immer begrabenen Leiche. Ist er der einzige Weise, der im Schacht des Wissens dasselbe Resultat fand? Pietät, wo sie hingehört, Ehrfurcht vor den Gesetzen, um die, wie um diamantene Achsen, das Weltgebäude sich dreht. Lasen Sie das Buch, das der Schwärmer aus Rügen schrieb, Moritz Arndt? Er hat den Geist der Zeit erkannt, dessen Prophet er sein will, aber nur zur Hälfte. Mit einem Auge blind, denn er sieht nicht Napoleons Mission, sieht er hell mit dem andern, was hinter der erträumten Größe der preußischen Monarchie lag. Dunst und Verwesung. Ging sie aus einer Nationalkraft hervor, war nur ein Volk da, sie entgegenzunehmen wie ein Geschenk des Himmels, um sie sich anzueignen? Nichts davon. Ein Genius, den Gott werden ließ im achtzehnten Jahrhundert, schuf Preußen, wie Gott die Welt aus nichts. Er gab der Schöpfung Arme, Füße, Glieder; einen Blutlauf glaubte man, einen Kopf und ein Gesicht auch, das frisch und keck in die Welt schaute; aber das Blut pulste, nur weil er an dem Räderwerk immerfort drehte, das Gesicht war eine geschminkte Maske. Nun die Hand verdorrte, der Atem ausging dem großen Musikanten, stockte das Blut, das Gesicht verschrumpfte. Wo blieb der Arm, das Auge – wo das Herz, Ihr Herren? Lüge ich, phantasiere ich? Mit dem Zauberer war sein Werk zerfallen, und nur weil er ein so großer Zauberer gewesen, daß man vermeinte, er könne nicht gestorben sein, er müsse sich noch im Grabe erheben, führte es noch ein zwanzigjähriges Scheinleben fort. Da zerfiel es in einem Tage in Staub, mehr als Staub. Alles war zerfetzt, aufgelöst, Verwesung in entsetzender Gestalt allüberall. Kein Glaube da und keine Treue, keine Religion und kein Rittertum. Wo war nun die berühmte Treue, unübertreffliche Disziplin geblieben? Ein zerrissenes Netz, in das sich die Fliehenden verstrickten. Alles eine verworrene Flucht ohne Ziel. Der Adel, der voran sterben sollte, nahm voran Reißaus, die geschulten und kontrollierten Beamten sich überstürzend, die vergessenen Kassen dem Feinde auszuliefern, dieser Werteifer der ruhmgekrönten Generäle, wer seine Festung zuerst übergäbe, diese Bürger, die die Bettdecken übers Ohr zogen, damit der erste Blick der einziehenden Franzosen sie nicht träfe, dem zweiten kamen sie entgegen mit der untertänigsten Bitte, es ihnen nicht zu verübeln, daß ihr Souverän sich unterstanden, den Degen zu ziehen. Die Gelehrten und Poeten – sprangen etwa Tyrtäen hervor? Sie stritten über den kategorischen Imperativ und das Ich, über Nibelungen und Homer, als des Feindes Trompete vorm Tor schmetterte. Nichts, gar nichts blieb gesund in diesem Pfuhl. Diese Wunden, Eiterbeulen, Pflaster, jetzt grinsen sie uns an in erschreckender Gestalt, wo das glänzende Leichentuch mit einem Ruck fortgerissen ist, und wer ist so vermessen, mit Pulver, Pillen und Klystieren die Säfte zu heilen, mit der Schneidernadel die klaffenden Wunden nähen zu wollen! Töte, was sterblich ist, aber der Geist des Lebens wandelt nur seine Hülle. Dort ist der Genius, der die Völker wieder gebiert, statt der Staaten einen Staat schafft, der Menschheit eine neue Aera eröffnet. Was kümmert den Geist, der die Welt regiert, wenn Geschlechter, Nationen und Staaten in deren großen Prozessen untergehen, wie Atome zersprengter Weltkörper, bestimmt, zu einem neuen, schöneren sich zusammenzufügen. Verleugnet die Sonne, sie strahlt doch, wie sie sich doch bewegte.«

Die Frau von Ilitz hatte mit Schrecken die Bewegungen und das Muskelspiel ihres Gatten verfolgt. Er war blaß aufgestanden.

»Herr Freiherr von Heißborn verzeihen die Frage,« hatte er mit der kalten Ruhe gesprochen, welche bisweilen seinen Zornausbrüchen vorausginge »ob wir in Ihnen schon einen Bediensteten des Kaisers der Franzosen erblicken? Für den Fall beugen wir uns als Besiegte unter dem Recht des Siegers. Er kann – in unserm Hause gebieten, also auch sprechen, wie es ihm gut dünkte

Der Obrist schien die Spitze nicht zu merken oder nicht merken zu wollen.

»Noch bin ich durch Eid und Vasallenpflicht an den König gebunden, der die Wahrheit nicht hören wollte. Darum fühle ich mich der Verpflichtung nicht entbunden, noch jetzt sie ihm zu sagen. Ich will laut sprechen, laut, laut, damit die Sykophanten, die ihn mit süßen Liedern einlullen, daß alles, was er tue, wohlgetan sei, vor Schrecken verstummen. Sagen ihm, wenn er es noch nicht weiß, daß sein Reich aus ist, daß, wenn er als Fürst bestehen will, er nicht allein bestehen kann, daß der Schwache einer Stütze bedarf, und wohl dem, der erkennt, daß er schwach ist und die rechte Stütze findet. Dem österreichischen Kabinett darf Preußen niemals vertrauen, ebenso wenig auf Rußland bauen. Sein einziger Ausweg, die einzige Rettung ist Frankreich. Den Stolz einer Alliance muß er fahren lassen, die ist zu spät. Der König muß sich Napoleon ganz unterordnen. Darin ist keine Ehrenkränkung, Napoleon ist Friedrichs Nachfolger im Geist. In Zivil und Militär muß die Administration, die notorisch nichts getaugt hat, umgeschaffen werden, jedem Regierungskollegium muß ein Franzose als Präsident vorsitzen, an die Spitze jedes Regiments ein französischer General. Ja, meine Herren, reißen Sie nur die Augen auf, es geht nicht anders; wir haben keine Genies, keine Talente, keine Erfahrung mehr, wo die Zeit aus ihren Fugen ging. Der Kronprinz, soll er einst noch zur Regierung kommen, muß aus seiner Umgebung, von seinen Erziehern fort, nach Paris geschickt werden. Dort mag er lernen, wie man eine Krone trägt.«

Der Reichsgraf, welcher den Kaffee nicht ohne Pfeife trinken konnte, hatte sie an den Ofen gestellt. »Heißborn, ins Teufels Namen, das wollen Sie Seiner Majestät proponieren?«

»Und hört er, sieht er auch jetzt nicht, will ich Feuerbrände schleudern, daß alles, was Augen hat, sehen muß!«

Wie Mutter und Tochter sich um den Vater schmiegten. Wilhelmine hing sich ihn an den Arm. Der Kandidat war einen Schritt vorgetreten. Er wandte fast dem Hausherrn den Rücken, um dem Gast ins Gesicht zu blicken.

»Gott schuf so die Welt, Herr Obrist, und die Ameisen können nicht dafür, wenn sie den Fuß nicht sehen, der sie zertreten wird. Und wenn sie ihn sähen, sie müßten doch fortarbeiten, denn es ist ihr Beruf. Sie lasen, Herr Obrist, in dem Buche von Arndt die eine Hälfte, wir auch die andere. Ihre lasen wir mit blutendem Herzen: Gott hat es so gefügt, warum haben wirs so verdient! Bei der anderen Hälfte schlägt unser Herz gewaltig und froh; es ruft, was du verschuldet, an dir ist es, es wieder gutzumachen! Wars kein Volk, aus dem die Schöpfung unseres Staates hervorging, so ward es eines unter der mächtigen Schöpferhand. Nahmen unsere Väter es nicht an, wie ein Geschenk des Himmels, weil sies nicht begriffen, so begreifen wir es, so ists an uns, ehe es uns entrissen wird, uns daran zu klammern als ein Heiligtum. Es gibt auf dieser Erde keines größer als das Vaterland. Es war kein Volk, nun ists eins. Das Unglück hat es zusammengeschmiedet. Wir haben nun ein Vaterland. Auch für dieses, mein entwürdigtes, werde ich mit Freuden zu sterben wissen; Gottes Beistand ruf ich an – nein, nicht für mich; unglückseliger Mann, für Sie, daß seiner Engel Hand Sie, am Abgrund taumelnd, festhalte, daß er Ihnen die Augen aufreiße, ehe es zu spät ist, daß auch Sie lernen, wie es keine größere, heiligere Pflicht gibt, als die schon der heidnische Dichter singt: dulce et decorum est pro patria mori!«

Aengstlich hatten die Frauen hingeblickt. Hätte der Hauslehrer je sich unterstanden, so dem Vater entgegenzutreten! Vor dem Freiherrn Heißborn hatten sie auch den eisernen Vater respektvoll zurücktreten sehen. Malchen war aufgesprungen; es war ihr in dem Moment, als müsse sie ihn am Arm zurückreißen. Aber es war nur ein Augenblick; dann hatte sie ruhig zugehört, ein stilles Lächeln schwebte über ihre verklärten Züge, als sie auch das zustimmende Lächeln auf dem Gesicht des Reichsgrafen sah.

Auch der Obrist hatte ein Lächeln auf den Lippen, als er halb über die Schulter dem unerwarteten Intervenienten ins Gesicht geschaut. Kräht das Insekt auch! schien der Blick zu sagen.

Er griff nach seinem Hut. Der Vater hatte dem Kandidaten heftig die Hand gedrückt, fast hatte es geschienen, er wolle ihn an die Brust drücken. Minchen und die Mutter nickten sich zu, das Gewitter war vorüber, der Strahl hatte ja einen Ableiter gefunden, als der Major vor den Gast trat.

»Herr Obrist, diese Mauern sind zu alt und baufällig, um zwei Elemente zu fassen, die eins das andere zerstören. Das Gastrecht ist mir heilig. Solange Sie die Gefälligkeit haben, das Haus mit Ihrer Gegenwart zu beehren, soll der Friede darin bleiben; ich werde bis dahin eine nötig gewordene Inspektion auf meinem zweiten Gute vornehmen.«

Der Friede blieb im Haus; nur bedeutete der über das Hofpflaster rollende Wagen nicht die Abreise des Majors auf sein Dorf, sondern die des Obristen. Es war auch ohne Gewitter vorübergegangen; der Reichsgraf als schützende Autorität mochte die Entladung der Wolken verhindert haben.

Nur der Kandidat und der Fremde waren im Saal zurückgeblieben.

»Der napoleonische Colonel scheint Sympathien im Hause zu haben,« sagte der Fremde.

»Doch keine, die uns gefährlich werden könnten,« entgegnete der Kandidat. »Sollten Sie die Verhältnisse nicht so gut kennen als ich?«

»Der Major traut mir noch nicht. Was Sie ihm sind, davon sprach der Händedruck vorhin.«

»Die Macht einer Wallung. Weiter nichts. Er sieht die Sterne am Himmel nicht vor den Sternenkreisen, die abgezirkelt auf seinen Pergamenten stehen.«

»Aber er hat Takt. Auf die Pergamente gebe ich nichts, aber ein richtiger Sinn erbt oft in alten Familien fort.«

Der Kandidat sah ihn verwundert an. »Erwarten Sie von alter Geburt unsere Rettung?«

»Mein Fundament ist sicherer. Dennoch bekenne ich Ihnen, trotz der traurigen Erfahrung, die wir gemacht, klopfe ich vertrauensvoller an, wo das Gefühl der Ehre seit Jahrhunderten, wenn auch nur als überkommene Pflicht, fortlebt, als da, wo es erst geweckt werden soll. Sei der Spiegel auch mit Staub und Spinngewebe überzogen! Holz brennt nur durch lange Reibung; dem verrosteten Stahl vermag ein Schlag wieder Funken zu entlocken.«

Ein wehmütiges Lächeln fuhr über die Lippen des Kandidaten.

»Sie kennen diese hier nicht.«

»Ich kenne sie, mein lieber, jüngster Bundesgenoß, und weiß, was hier verwüstet liegt; verwüstet kann aber doch nur werden, was ehedem gelebt und geblüht hat. Unsere Aufgabe ist es ja, in Sumpf und Brandschutt nach den lebenskräftigen Keimen der Nation zu suchen; wo wir diese auch finden, sie ergriffen, gepflegt!«

Nach einer Pause fuhr er fort:

»Immerhin ist es ja auch möglich, daß wir selbst an der Demoralisation des Adels schuld sind. Wir gossen zu ätzenden Sport auf ein Institut, dessen Wurzeln ins Altertum zurückgehen, als es noch ein deutsches Volk gab. Sind sie denn anderes Blutes, anderer Abkunft als wir, daß keine Reinigung, Korrektion möglich, daß wir das Kind mit dem Bade verschütten müßten? War, was sie uns zufügten, so unverzeihlich, ihre Hoffart so kränkend, daß man eine Kur des Uebels nur in der Vernichtung fand? Allerdings, drüben über dem Rhein haben sie die Bäume an der Wurzel abgeschlagen und die Wurzelfasern mit Blut ausgespült; ein Gottesgericht, weil sie Blutsauger gewesen. Das war unser Adel nicht. Den Druck des Dünkels, den sie auf uns geübt, rächten wir durch die Pfeile des Witzes. Unsere Komödienschreiber, Roman- und Fabeldichter trafen über das Ziel hinaus. Die Rache ist blind. Wäre es nicht besser gewesen, dem Adelsübermut den Bürgerstolz entgegenzusetzen? Ach, sie hatten auch keinen Bürgerstolz mehr. Statt ihnen ins Auge zu schauen, Männer gegen Männer, wichen sie ihrem übermütigen Blick aus, um, statt sie zu bekämpfen, die Lästigen zu vernichten, indem sie ihre Existenz wegleugneten. Das ist grundfalsch, das rächt sich, wenn nicht jetzt, es wirds später. Ich leugne nicht ihre schweren, großen Sünden, aber richten sollen wir nur, wo wir das Richtmaß auch an unsere eigenen Fehler legen. Jene altersschwachen, brutalen, aufgeblasenen Junkeroffiziere, wer leugnet ihren schweren Teil der Schuld, die an einem Tage Friedrichs Monarchie in Trümmer warf, aber tragen sie die Schuld allein? Wo waren denn die Bürger? Fühlten sie sich vorhin als Glieder des großen Körpers, atmeten ihre Seelen für den Gedanken, der Preußen zu einem Staat erhebt? Zufrieden, wenn andere für sie dachten, handelten, waren sie noch zufriedener in kleinlicher Eifersucht, wenn die Fürsten in die Rechte des Adels griffen. Vielleicht war das notwendig. Aber ihr Jauchzen war das des Egoismus, es galt nicht dem Gemeinwohl, es war die gemeine Lust kleiner Seelen, die keine Größe dulden, welche auf ihre Zwergnatur herabschaut. Vergaßen die erbittertsten Adelsfeinde doch häufig ihren Widerwillen gegen den Stand, wenn ein Gnadenblick der Majestät sie selbst hineinschob. Wenn man sieht, wer sich jetzt zum Ankläger berufen fühlt, wer die Hand erhebt, um den Stein auf das Junkerregiment zu werfen, schämt man sich fast, den Mund mit zu öffnen. Und ist dies der Weg, die Guten, die Treuen, die Erweckten, wo man sie finde, aus allen Schichten des Lebens, von der Wiege am Thron, aus dem Bürgerladen, aus der Hütte, zu sammeln, wenn wir den Bannfluch gegen einen Stand schleudern, der einst berufen war, dem Volk voranzugehen!«

»Sie sind doch Aristokrat!« rief der Kandidat

»Wenn Sie es so auffassen wollen.«

»Ihr Name deutet –«

»Nicht auf den Ursprung, den Sie daran knüpfen. Eben weil ich stolz bin auf mein Bürgerblut, blicke ich freier und unbefangener auf den Stolz anderer. – O mein Gott, wissen Sie nicht, liebster Mann, wie viel wohler, freier ich mich in dieser Umgebung fühle als in der Stadt? Dies Krautjunkertum mit seinen Gefühlen, Bestrebungen, Wünschen, die den Begriff eines Staates nicht erfassen können, ihre Ernte sammeln sie nicht zur Saat, nur wie der Hamster zum nächsten Winterbedarf, aus Verehrung ihrer Privilegien kennen sie kein Recht, das über den Besitz hinausgeht, sie können nicht glühen, zittern für Ideen von Menschheitswohl, weil ihr kleines Ich mit dem engsten Umkreis von Vetter- und Fraubasenschaft alle ihre Gedanken einnimmt und beschäftigt – und doch sind es Menschen, die der Natur näher stehen, man fühlt eine Verwandtschaft mit der Erde, die man tritt, und dem Geschlechte, das aus ihr geknetet ward; die Erdluft der umgeworfenen Aecker, die Sonne, der Hauch der Kieferwälder hat ihre Haut gebräunt, sie atmen wieder den Atem dieser rauhen Luft. Sie lieben auch etwas – sich selbst, ihre Kinder, Familie, die Verwandten der Verwandten, sie haben auch Respekt vor etwas, vor ihren Erinnerungen, ihren Namen; es erbt in ihnen etwas fort, wenn nicht die Tugend der Väter, doch ihre Güter und Titel. In dieser Welt, wo niemand mehr liebt, wo alles wankt und zittert, greifen wir nach dem geringsten Festen, um uns selbst zu halten.«

»Sie müssen fürchterliche Erfahrungen aus der Hauptstadt mitgebracht haben.«

»Schweigen wir heut davon. Auch in den Provinzen klopfte ich oft und vergebens an, aber es war doch nicht die mephitische Luft, die jedes Licht der Hoffnung augenblicklich auslöschte. Ich glaube, so muß den ersten Heidenbekehrern zu Mute gewesen sein. Nicht die Kerker und Scheiterhaufen dämpften ihren Mut, aber wenn sie in Rom, Byzanz den in Ueberbildung verdumpften Seelen, den Geistern, die keiner Begeisterung mehr fähig waren, das Licht des Evangeliums verkünden sollten, und hier nur auf spöttische Mienen, Achselzucken stießen, dort die blasse Furcht vor den bösen Folgen, dann eilten sie aufs Land; unter Hirten und Bauern, unter Sklaven und Räubern, unter den Barbaren fanden sie Herzen und Empfänglichkeit.«

»Sie schreiben ein Pasquill.«

»Ich werde es vor dem belegen, dem ich meine Botschaft schuldig bin.«

»Und der Orden oder Bund, in dessen Auftrag Sie reisen?«

»Nennen Sie ihn nicht so, Namen sind gefährlich, wo die Sache, der Begriff selbst noch im Unbestimmten schwimmen. Der Name ist ein Siegel, der dem Unbestimmten eine Bestimmung aufdrückt; er wird ein Zwang, der dem Unfertigen oft eine andere Richtung aufdrängt, als die beabsichtigte war. Es ist ein Bund ohne Zeichen und ohne Mysterien, ohne Namen und ohne Gelöbnis. Zu ihm gehört von selbst jeder Deutsche, der mit Abscheu den Gedanken erträgt, einer fremden Macht unterworfen zu sein, der des Charakters ist, wenn die Zeit kam, als Mann zu handeln. Kein Schwur und kein Handschlag, nur Gleichgesinntheit. Wer unsere Zeit teilt, hat sich selbst aufgenommen, er ist rezipiert. Das weitere, was jetzt geschehen kann, was geschehen muß, erwarten wir von dem Manne zu hören, auf dessen Willen ich hier bin, dessen Ruf ich erwarte.«

< Der Beichtvater.
Der unbegreifliche Brief. >



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