Willibald Alexis
Isegrimm
Der unbegreifliche Brief.
eingestellt: 25.7.2007Dreiunddreißigstes Kapitel.
Der unbegreifliche Brief.
»Er ist bei uns mit Leib und Seele. Ein Geist wie seiner rastet nie, nur der Körper bedarf der Ruhe,« so sprach der Reichsgraf zu dem eintretenden Major, indem er leise die Tür zum Zimmer des Kranken hinter sich zudrückte. Der Minister hatte zu lebhaft gesprochen. Als der Major um die Erlaubnis bat, den Informator seiner Kinder zur Konferenz mitzubringen, für dessen Gesinnung und Treue er bürgen wolle, hatte der Graf dem Kandidaten schon die Hand gereicht: »Ich kenne Sie durch Herrn Walter. In diesem Herrn stelle ich Ihnen, lieber Major, wenn Sie wollen, das alter ego des Freiherrn vor. Er wird Se. Exzellenz bei uns vertreten.«
Man hatte Platz genommen: »Wer konnte das erwarten!« sprach der Major dumpf vor sich hin.
»Wenn Sie die Verhältnisse an Ort und Stelle beobachtet, würde es Ihnen kein Rätsel sein,« nahm Graf Waltron das Wort. »Was dringt von Königsberg bis hier! Schon im November hatte man Stein das Ministerium angeboten. Er lehnte es ab. Es war kein Ernst gewesen, man wollte nur einen Namen von Klang ad interim bis die Kabinettsstreitigkeiten ausgeglichen waren; da drang, wer sollte es glauben, gerade Beyme in ihn: ein Mann von Ihrer Charakterstärke, schrieb er, kann unserer Regierung einen totalen Umschwung geben. Ich sehe in Ihnen den von der Vorsehung für uns bestimmten Retter. Kommen Sie bald, wenn nicht alles verloren gehen soll.« –
»Daß auch Komödianten die Wahrheit reden können!« murmelte der Major.
»Das Merkwürdigere scheint mir, daß sie zuweilen selbst an ihre Rolle glauben. Stein, wie gesagt, nahm nicht an, weil er kein leerer Schatten sein wollte. Darauf folgten, wie Sie wissen, die gemeinsamen Vorstellungen von Hardenberg, Stein und Rüchel. Sie sprachen von der allgemeinen Stimme, welche gebieterisch die Entfernung der Kabinettsräte, das Aufgeben der Kabinettsregierung fordere. Kein Minister des Auswärtigen könne Vertrauen bei den Höfen erwecken, solange sie den Einfluß solcher Vertrauten befürchten müßten, die jeden Augenblick Zutritt zu der geheiligten Person hätten. Was solle denn ein Minister, der am Morgen aus den Akten dem Könige vorträgt, aber nachmittags ist schon der Liebling durch die Hintertür geschlüpft und stellt die Sache anders vor, ohne Akten, gesprächsweise, mit einem Lächeln oder einem langen Gesichte, je nachdem. – Hardenberg besonders trat entschlossener auf, als jemand erwarten konnte, er sprach von einer Zeit, wo wir nicht am Rande des Abgrunds stehen, sondern schon tief darin. Resolut forderte man ein neu zu konstruierendes Ministerium als öffentliche Behörde mit Responsabilität und Anteil an der Ausführung seiner Verordnungen. Stets solle ein Minister beim Könige sein und sie gegenzeichnen. Da ward Friedrich des Großen Beispiel eingewandt. Es war schwer, darauf erwidern, daß wir keinen Friedrich hätten. Aber es ließ sich doch andeuten. Hardenberg ist dazu der Mann.«
»Und darauf kam das königliche Schreiben?«
»Nicht eigentlich darauf. Es ward noch viel hin und her verhandelt, das heißt, man gab den Dingen andere Namen und alles blieb beim alten.«
»Bis?«
»Bis der Hof, bei der Annäherung der Franzosen, nach Memel aufbrach. Stein war krank. Er ließ seinen Koffer packen, am nächsten Morgen wollte er fort, da erhielt er den Brief.«
»O noch einmal den unglaublichen Inhalt!« sagte der Major.
»Ich kann Ihnen nur das wiedergeben, was ich mir schnell notiert. Stein verschloß darauf den Brief und niemand soll ihn wieder zu Gesicht bekommen, bis nach fünfzig Jahren.«
Waltron übergab sein Taschenbuch dem Fremden, der daraus las:
»Ich hatte ehemals Vorurteile gegen Sie! Zwar hielt ich Sie immer für einen denkenden, talentvollen und großer Konzeption fähigen Mann; ich hielt Sie aber auch zugleich für exzentrisch und genialisch, das heißt mit einem Worte, für einen Mann, der, da er immer nur seine Meinung für die wahre hält, sich nicht zum Geschäftsmann an dem Flecke paßt, wohin ich ihn gestellt. – Aus allem diesen habe ich mit Leidwesen ersehen, daß ich mich leider nicht anfänglich in Ihnen geirrt habe, sondern daß Sie vielmehr als ein widerspenstiger, trotziger und ungehorsamer Staatsdiener anzusehen sind, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staats vor Augen zu haben, nur durch Kaprizen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt. Dergleichen Staatsbeamte u. s. w.«
Eine minutenlange Pause. Die Köpfe waren gesenkt. »Quos deus perdere vult!« stieg es wie ein Seufzer aus der Brust des Kandidaten; er verschluckte ihn wieder. Der Major ging einigemal auf und ab; es schien ihm nicht Luft genug, er riß das Fenster auf und starrte in den grauen, stürmischen Himmel.
»Darauf forderte der Freiherr seinen Abschied?«
»Am nächsten Morgen; früh am Nachmittage hatte er den Bescheid in zwei Zeilen, aber deutlich, es war nicht daran zu zweifeln.«
»Und die anderen!«
»O, an Teilnehmern fehlte es nicht; Kondolenzvisiten, Händedrücke, auch Briefe, voller Schmerz und Entrüstung, alle schön stilisiert. – Ich nahm meinen Abschied.«
»Und die anderen, Erlaucht?«
»Besannen sich. Was hätte es geholfen, wenn sie auch davonliefen! Ein wenig aufsieden, wenn man begangenes Unrecht hört, gehört zur Menschennatur; nachher besinnt man sich und schiebt den Deckel vorsichtig auf den dampfenden Kessel; das erhält uns und eigentlich das ganze Menschengeschlecht. Ich bitte Sie, was sollte aus allen Gemeinwesen werden, wenn jeder, in dem es kocht, dem Staate den Stuhl vor die Tür setzte!«
»Kein einziger handelte anders?«
»Preußischer Landeskinder Pflicht ist es, mit ihrem Könige zu stehen und zu fallen,« sprach mit Ernst der Reichsgraf. »Was wir anderen getan, ist eine Sache für sich. Wie Herr Niebuhr seinen Abschied nahm und wieder nach Dänemark ging, lassen Sie sich durch den Herrn erzählen.« Der Graf winkte dem Fremden. Der Militär schien die Pfeife nicht so lange ruhen lassen zu können.
»Der große Gelehrte,« sagte der Fremde »erblickte in Steins Entlassung eine Kalamität, die den letzten Kredit Preußens erschüttern müsse. In seinem melancholischen Geiste, nur von der Geschichte untergegangener und untergehender Völker genährt, sah er in dem Fall des einen Mannes einen Schlag, der ganze Gebäude bis auf die Wurzel erschüttern und zerreißen müsse. In seiner schwarzen Stimmung schrieb er den Brief, den Seine Exzellenz mir zur Beantwortung übergeben haben.«
Er las: » Nur durch die unermüdliche und unerschöpfliche Schlechtigkeit der Menschen, welche dies unglückliche Land ins Verderben gebracht, sind Euer Exzellenz genötigt, Ihren Abschied zu nehmen. – Das ist der härteste Schlag, der uns treffen konnte. Mit nur zu großem Recht rechnete Napoleon auf die Feigheit und halben Maßregeln dieser Leute. – – Mich konnte nur der Gedanke, unter einem Minister wie Sie zu arbeiten, diesem Staate befreunden. Was heißt nun bleiben? Die Gefahr laufen, zu diesen Menschen, die jetzt am Ruder sind, herabzusinken, statt sich zu erheben! Nein, meine politische Existenz in diesem Staate ist geendet. Keine Verlockungen sollen mich fangen. Ich scheide. Mögen Euer Exzellenz aber Ihren Blick über den Nebel des herabgewürdigten Zeitalters auf den letzten Strahlen des scheidenden Lichtes alles Guten und aller Größen ausruhen lassen, und dann ein Angedenken schenken – –« Er schließt mit den Worten, die leider wer nicht unterschreiben muß: »Der ungeheure, unbegreifliche Brief gehört der Geschichte an. Nur durch ein solches Maß der Verblendung läßt sich der Gang der Auflösung begreifen, der dieses Land zum Untergange geführt hat.«
»Der Brief ist das ungeheure Dokument einer Geschichte welche die Nachwelt unbegreiflich finden wird,« setzte der Vorleser hinzu, indem er das Taschenbuch dem Grafen zurückreichte.
Waltron hatte einige lange Züge aus der Pfeife getan, dann hub er nach einer allgemeinen Pause an: »Ihr Herren, die Ihr Geschichte machen wollt vor der Zeit, wie leicht Ihr Euch selbst täuscht! Wenn die Zeit heran ist, wo man das für wert hält, aufzuschreiben was uns jetzt passiert, wird man alles das ganz begreiflich finden, was uns als Unerhörtes echauffiert hat. Denkt doch nur zum Exempel an unser heiliges römisches Reich! Wie wackelig es auch war, wer dachte vor zwanzig Jahren an die Möglichkeit, daß ein Aventurier mit ein paar Stößen es über den Haufen werfen würde! Mein Vater war, ich war es auch noch, ein Souverän, und er stolzierte auf unserer Quadratmeile so kopfaufrecht, wie ein Soldatenkönig, ja, er musterte seine zwanzig Mann Leibwache mit dem fürchterlichen Ernst wie jener seine langen Leute! Hätten meine Ahnen, mein Vater, es für begreiflich gehalten, wenn einer gesagt, daß sein Deszendent und Thronfolger, als er seinen Abschied als Generalmajor aus der Armee der preußischen Majestät nahm, recht ernsthaft kalkulieren mußte, wie er ohne die Pension, auf die er natürlich verzichtet, leben könne? Ein Prozeß mit Napoleons Kreaturen steht mir bevor, ein ehemaliger Friseur hält in meinem Stammschloß als Kommissär-General Hof. Man hat mir stechen lassen, er wäre nicht unfreundlich gegen mich gesinnt, und wenn ich mich persönlich mit ihm stellte, würde die Auseinandersetzung dessen, was mein Privateigentum ist, mehr zu meiner Zufriedenheit ausfallen. Er wird mich an seine Tafel laden, beim hundertjährigen Steinwein aus meinem Keller wenden wir uns verständigen, ganz freundschaftlich, zusammen den Kaiser Napoleon betrügen, und jeder erträglich vergnügt mit seinem Anteil scheiden. Nicht wahr, das finden Sie unbegreiflich, und es ist nur alltäglich.«
»Was soll das, mit Verlaub?« rief der Major.
»Nur uns daran mahnen, daß wir Menschen sind, lieber Major, der Zeit und ihren Einflüssen untertan, wie Tiere und Pflanzen. Nur in der Zeitspanne ist ein Unterschied. Die Milbe und der Pilz widerstehen einen – ein paar Tage, der Elefant und die Eiche Jahrhunderte dem Sturm. So ists mit unseren Institutionen und Reichen. Die Eiche mit verdorrtem Mark und verfaulten Wurzeln halten wir so wenig gegen den brausenden Orkan, als es gelang, das bröcklige Deutsche Reich festzuhalten. Wir sind fortgeblasen und geschwemmt, eine Woge raffte und warf alle zusammen, Reichsfreie, Stifte Städte, Grafen und Fürsten, mit unseren Privilegien und jahrhundertlangen Prozessen. Macht die Akten zu Wetzlar zu Fidibus; sie sind Plunder geworden, und was übrig blieb, wird nur der Antiquar als Raritäten aufheben.«
»Alles?«
»Nun ja, einige von den glücklichen größeren klammern sich an den Kiel des Siegerschiffes; sie werden ihr Leben fristen durch Napoleons Gnaden. Wir anderen werden Spreu im Winde, Tropfen im Meer. Fügt Euch in die Zeit, es ist schlimme Zeit, und macht sie nicht schlimmer, indem Ihr an die Ansprüche aus der besseren Euch klammert. Aus der Pandorabüchse ist das der letzte ausgeschüttelte Klecks, daß wir die Vorstellungen nicht können fahren lassen. Was ist es anders mit diesem Briefe! Ich finde nichts Wunderbares darin, als daß König Friedrich Wilhelm III. noch heute die Sprache führt, die er vor Auerstedt geführt haben könnte. Seine Vorfahren sprachen gerade auch so zu ihren Untertanen, nur etwas derber klang es, weil sie in einer weniger humanen Zeit geboren wurden. Aber die preußischen Könige alle träumten sich ja in die Schöpfer- und Vaterrolle hinein. Meist, das muß man zugestehen, waren es recht gute Väter; aber auch gute Väter müssen alles besser wissen als ihre Kinder, sie immer beloben und strafen, zurechtweisen und am Gängelband führen. Das ist nun einmal Vätermanie, auch wenn die Kinder erwachsen sind. Darüber nahmen sie dem Adel seine Privilegien, den Ständen ihr Recht, mit- und einzureden, Kirchen und Korporationen ihre Immunitäten. Es ging, weil der Zeitstrom mit ihnen ging. Wenn er aber umschlägt! Was dem einen gelang, gelingt dem andern nicht mehr, leider aber bleibt allen der Kitzel und der Stolz, die Efforts immer zu wiederholen, welche den starken vor ihnen gelangen. Wenn Friedrich einen solchen Brief an einen Beamten geschrieben, wäre der Mann wahrscheinlich vor Schrecken gestorben. Die Zeiten wurden andere, und der Freiherr von Stein, der ernste Mann – unter uns gesagt, ich war bei ihm, als er ihn empfing – zuerst glaubte er es nicht, er riß die Augen auf, strich sich die Stirn, dann –«
»Er weinte doch nicht?«
»Nein, Herr von Quarbitz, er lachte. Ein konvulsivisches Lachen, aber er hat gelacht, ich habs gesehen. Und das ist, dünkt mich, das Beste, was der Reichsfreiherr von Stein tun konnte.«
Es war ein Riß in der Unterhaltung, es schien auch in den Gemütern, als der Graf Waltron seine Pfeife weggesetzt und ans Fenster getreten war. Er warf eine Bemerkung hin: wenn der kalte Wind so fortdauere, würden die Wege bald fahrbar. Der Hausherr stand am Ofen, den Kopf im Arm gelehnt.
»Wir waren doch um anderes zusammengekommen. Ich meinte um sehr ernste Dinge. Meinen Kopf, wenn der König und das Vaterland befiehlt, aber, meine Herren, verzeihen Sie, ich spüre keine Lust, fortgeschleppt und arkebusiert zu werden, um nichts anderes, als daß Mißvergnügte ihren Mißmut in meinem Hause zusammengetragen.«
Der Reichsgraf lächelte: »Was hier zutage kam, lieber Quarbitz, hätte Ihre Einquartierung mit anhören können, und Kaiser Napoleon, meine ich, würde zufrieden seine Lippen gestrichen haben.«
»Um so schlimmer! Denken Herr Reichsgraf uns zu verlassen?«
»Wenn mein Freund so weit hergestellt ist. Unsere Wege werden sich scheiden, Herr von Quarbitz.«
»Erlaucht reisen vielleicht dem Obrist Heißborn nach?«
»Ich war nie Phantast. Wer nie zu hoch fliegt in seinen Hoffnungen, kann auch nicht so tief stürzen. Er, Sie, Sie alle, meine Herren, haben Pflichten. Das Glied darf sich von seinem Körper nicht freiwillig trennen. Weil ich auf Preußen hoffte, opferte ich ihm freiwillig meine Existenz. Ich kann nicht mehr hoffen, somit ist das Band gelöst, und es ist mir erlaubt, zu versuchen, was ich von meiner Existenz retten kann. Selbst meine Schwester Thusnelda, die Sie ja kennen, das hochherzige Mädchen, schreibt mir: ›Komme zurück, wo du keine Ehre mehr holen kannst. Es war ein Traum; Deutschland ist nicht in Preußen.‹«
»Werden Sie es in Oesterreich suchen? Oder in Sachsen? Oder vielleicht in Bayern? Es wird dick und fett unter seiner Gunst.«
»Ich bin müde, so müde, daß ich selbst Beleidigungen nicht höre, die über die Lippen quellen, wo doch das Herz nichts davon weiß, ich will ausruhen, versuchen, den Reichsgrafen, die tausendjährigen Erinnerungen meiner Väter, meine eigenen von vierzig und einigen, zu vergessen. Schlafen, sagt ja wohl der dänische Prinz, vielleicht auch träumen! Aber das sollen nur Träume der Zukunft sein.«
»Denkt der Freiherr von Stein wie Erlaucht?«
»Er geht auf seine nassauischen Güter, weil es ihm im öden Königsberg zu langweilig ist, und man immer, wie er sagt, Dinge hören muß, die wegen ihrer Gemeinheit lächerlich, wegen ihrer Folgen betrübend sind. Er findet die Stellung eines Tagelöhners unpassend, der an der Straßenecke steht, bis er gerufen wird. Deshalb gab er auch Hardenbergs dringender Bitte kein Gehör, noch zu warten, bis die Kabinettspolitik sich geändert, was bald geschehen müsse.«
»Er wird warten, bis ein anderer ihn ruft!« sprach der Fremde mit gehobener Stimme, und seine Augen leuchteten. Das gehörte nicht hierher, oder war zu früh gesagt.
Es war wieder ein Riß eingetreten. Darum war man ja nicht beisammen. Das fühlte, es wußte es jeder, aber der Riß war zu tief, um ihn im Augenblick zu flicken. Was ist leichter in der großen Politik, als Vorwände zu finden, eine Sache aufzuschieben, zu deren Erledigung wir uns schwachmütig fühlen. Ist das in einem Haushalte schwieriger?
Der Arzt war aus der Stadt gekommen, die Botenfrau hatte Zeitungen und Briefe gebracht, der Schulze aus Querbelitz war auch mit einer Meldung da, und das Frühstück wartete im Saal auf die Gäste.
Die Zeitungen und Briefe mußten nichts gebracht haben, was der gedrückten Stimmung einen Aufschwung gab. Der Reichsgraf war das erheiternde Element. Es ist in alten Militärs eine eigene Kraft, die Zustände zu verarbeiten, wie eine Kost, die uns andern nicht schmecken will, weil wir an Besseres gewöhnt sind. Sie haben alles durchgekostet, nach dem Triumph des Sieges die schwellenden Tafeln, den schäumenden Becher der Lust, und die verschimmelte Brotrinde in Tagen und Nächten der Angst und Qual. Und in jedem Moment schwebte die Hand des Todes darüber, zum Ernst mahnend; die einen so, die andern so. Nur erweist sich das Leben auch darin aristokratisch. Wer von der Picke auf gedient, schleppt Sorge, Verdruß, Neid mit zu seiner höheren Stellung hinauf. Das ist eine lästige Bagage, und wer stets wachsam sein muß, daß das schwer Errungene, der Verdienst seiner Taten, ihm nicht wieder von der Geburt entrissen wird, kann nicht mit den Dingen spielen. Wer seine Worte immer abwägen, seine Schritte messen muß, damit sie nicht mißdeutet werden, ist selten ein heiterer und liebenswürdiger Gesellschafter.
Der Reichsgraf war es. Die Reihe der tausendjährigen Erinnerungen hinter ihm, die er vergessen wollte, mußte doch einen Bodensatz gelassen haben, auf dem sein Fuß sich sicherer fühlte. Da wurden Familienverwandtschaften besprochen. Durch eine Gräfin Wetter vom Strahl, im sechzehnten Jahrhundert, war eine zwischen den Waltron-Alledeese und denen von der Quarbitz ermittelt. Die Ermittelung hatte sich etwa vor achtzehn Jahren gemacht, als der Gutsherr und der Reichsgraf, beide als Kapitäne, bei einem Manöver im Feldlager zusammengekommen, und die Folge war, daß der letztere Gevatterstelle bei Wilhelminen vertreten. Eine große Ehre für die Quarbitz, die, vollkommen anerkannt, auch dann keinen bittern Gefühlen Raum gegeben, als der Reichsgraf im Verlauf der achtzehn Jahre bis zum General-Major, der kurmärkische Edelmann nur bis zum Major avanciert war. Es hatte jeder das Seinige getan, nicht mehr und nicht weniger, und der Major sagte wohl, wenn er recht vertraut gestimmt war, was den Kavalleriedienst anlange, so könne der berühmte Reitergeneral, Graf Waltron, noch bei jedem Leutnant in die Schule gehen, den er, Quarbitz, geschult.
Die Frau von Ilitz hatte sich nach der gnädigen Komteß Thusnelda erkundigt, ob sich da noch immer nichts gefunden, und sie sei doch so wunderschön? Sie sah nicht den Wink, den ihr Mann ihr zuwarf; der Reichsgraf hatte ihn bemerk und lächelte:
»Was mich betrifft, ich hätte nichts dagegen gehabt. Sie zog es aber vor, dem Prinzen statt der Hand einen Korb zu reichen.«
Jetzt fiel es zentnerschwer der guten Frau aufs Herz. Es war ja davon gemunkelt worden, daß ein napoleonischer General und Prinz, von den Reizen der Gräfin Thusnelda geblendet, um sie angehalten.
»Freilich, das ging nicht, daran hab ich auch wirklich gar nicht gedacht,« sagte die Errötende.
»Warum ging es nicht, meine Gnädige? Er ist jung, schön, mutig, mit dem Kaiser gewissermaßen verwandt. Eine glänzende Karriere hat er gewiß vor sich.«
Karoline, die auch errötete, fiel ein: »Es wird ja allgemein gesagt, daß sein Vater ein Metzger war.«
»Ich weiß nicht, ob das meine Schwester verhindert – vielleicht, ja es ist möglich – aber – sie will keinem Franzosen die Hand reichen. Das ist nun ihr Geschmack.«
»Und gewiß mit Approbation ihres Bruders.«
»Sie ist völlig frei, lieber Major.«
»Eine Waltron-Alledeese mit einem Franzosen und von niederer Herkunft?«
»Kennen Sie nicht die Sage von unserm Ursprung? Sie wird von vielen Chronisten erzählt. Der erste Waltron, der in Karls des Großen Heere sich zum Hauptmann aufschwang, soll von sehr niederer Abkunft gewesen sein. Nach einem Siege über die Sachsen, wo er durch einen verwegenen Angriff ihr Zentrum brach, zeigte Karl vom selben Tage, wo es geschah, auf die Gegend umher und sagte zu ihm: ›Alle deese Aecker schenk i die.‹ Davon der Name meiner Familie, – sagt die Heraldik und die Chroniken. – Die Schenkung half ihm aber nicht viel, denn die Sachsen eroberten ein paarmal wieder die Gegend, und die hochmütigen fränkischen Großen zeigten bei den Rückeroberungen wenig Lust, dem Sohn des Mannes, der ihres Königs Hunde fütterte, zu seinem Recht zu verhelfen. Da tat es die Liebe. Die blondgehaarte Tochter eines sächsischen Edlen verliebte sich in den hübschen Franken, und der Zufall wollte, daß die geschenkten Aecker nach Sachsenrecht das Erbteil der Schönen waren, die zum Ueberfluß eine Muhme von Wittekind gewesen sein soll. Auf diese Weise kam mein Ahnherr, der Franke Waltron, in ihren wirklichen Besitz.«
»Es ist nie bezweifelt worden,« sagte der Major darauf, »daß in den Adern der Waltron-Alledeese fränkisches Blut rinnt, obgleich ihr Besitztum mitten im westfälischen Kreise liegt.«
»In der Tat, ich habe, wenn eine Wunde blutete, nie untersuchen lassen, ob mehr fränkische oder sächsische Ingredienzien herausflossen. Aber meiner Schwester habe ich vorgestellt, daß ihr Ahnherr ja auch ein Franzose war. Zwar geringer noch als eines reichen Metzgers Sohn aus Bordeaux, aber mit den Jahren, wie man in meiner Familie sieht, gleicht sich auch dieser Fehler aus.«
»Die Reichsgräfin Thusnelda wird eine ihrer würdige Wahl treffen; davon bin ich überzeugt,« sagte der Hausherr.
Der Graf zuckte leicht seufzend die Achseln: »Sie hat leider schon gewählt. Sie will nur einen Sieger über die Franzosen lieben, und ihm nur die Hand reichen, wenn er sie über den Rhein geschlagen hat. Meine liebenswürdige Patin,« setzte er schnell hinzu, »ist keine Phantastin, und ich wette darauf, sie wartet nicht so lange.«
Wilhelmine sei ein unverbesserlicher Trotzkopf, scherzte die Mutter, sie traue ihr zu, daß sie ihnen allen zum Possen auch einen Franzosen heiraten könne. Minchen ging darauf ein: das müsse aber auch ein recht ordentlicher Possen sein, zum Beispiel, sollte sich eine ihrer Schwestern in einen verliebt haben, so würde ihr das der größte Spaß sein, ihr den Franzosen wegzukapern. Es waren zu viel ernsthafte Gesichter im Zimmer, als daß der Scherz dauern konnte. Aber das Gespräch wollte von demselben Gegenstande nicht fort. Die ruchbar gewordenen Liaisons der Franzosen in Berlin, die Galanterien des Prinzen Jerome in Breslau gaben reichen Stoff. Die Herren senkten die Blicke; die Damen, welche sich schwach gezeigt, gehörten nur zu oft den höchsten Ständen, den ältesten Familien an. Sie wüßten aber auch von einzelnen Verlöbnissen.
»So ist es recht!« rief der Fremde bitter aus. »Ueber dem rauchenden Altar, auf dem das Vaterland geschlachtet, sich zärtlich die Hände reichen, Lamm und Tiger, zum ewigen Bunde!«
»Ich sehe darin nichts Unrechtes,« sagte der Reichsgraf, »es ist nur der Weg, den die Weltgeschichte ging, seit es Krieg gab, also seit ihrem Anbeginn. Helena ward nach Troja geraubt, und gab es auch darauf einen Krieg, so ward der Orient doch dadurch mit dem Occident vermählt. Was war der Sabinerraub? Der Anfang der römischen Herrschaft, also der Kultur, welche die Welt erobern sollte. Und wodurch setzten die Barbarenvölker sich auf der römischen Erde fest? Sie heirateten die Töchter der Besiegten. Die feinen und gebildeten Frauen führten bald den Pantoffel über ihre rotbärtigen Barbarenmänner. Und siegte das Christentum nicht am sichersten durch die christlichen Frauen, die ihren heidnischen Eheherren so lange um den Bart gingen, bis sie sich taufen ließen?«
In dem Augenblick war der Arzt aus Nauwalk ins Zimmer getreten und hatte in etwas konfuser Art seinen Bericht über den vornehmen Kranken abgestattet. Man sah und hörte es dem Manne an, daß er nie mit Patienten der Art zu tun gehabt und nur durch die Umstände aus der Barbierstube in die Medizin berufen worden.
»Unser bester Doktor,« sagte der Major wie entschuldigend, als der Arzt sich unter ungeschickter Verneigung entfernt, »starb am Lazarettfieber, zwei andere mußten den Armeen folgen. Da muß man sich mit solchen Tölpeln behelfen.«
» Muß man!« lächelte Graf Waltron. »Ein Mann von seinem Geist, seinem Blick in die Natur und die Dinge, die einen Körper zusammenhalten, muß einem solchen Pfuscher Rede und Antwort stehen, sich gar in seine Anordnungen fügen. Und doch muß es sein, es ist eine Kopulation der Verhältnisse, welcher ein Freiherr Stein sich so wenig entzieht, als wir denen, die auch die Verhältnisse um uns geknüpft.«
Der Major war durch den Eintritt des Schulzen aus Querbelitz der Antwort überhoben: »Was ists denn nun so Eiliges?« Es schien wirklich nicht sehr eilig, was Gottlieb Köpke über die Wiederherstellung des Spritzenhauses vortrug, das beim Gefecht im Dorfe zerstört war. Auch die Kirchenmauer war es. Freilich eine nur von Lehm und Feldsteinen; aber so konnte sie ja nicht bleiben, denn die Schweine waren schon ehedem durch die Spalten auf den Gottesacker gedrungen, daß es eine Scham und Schande war, und da frage sich, ob man die Steine zur neuen nicht beizeiten anfahren lasse? Wer weiß, was im Frühjahr zu tun, und ob die Leute dann überhaupt noch Pferde im Stall hätten. »Laßt doch die Toten ruhen,« hatte der Gutsherr erwidert, und der Schulze darauf sein: »Das ist schon recht, gnädiger Herr!« gesetzt, bei dem »aber«, das immer darauf folgte, hatte er jedoch mit dem Finger übers Auge gewischt, daß der Major aufmerksam ward: »Schulze, ist Ihm etwas passiert? Was will Er?«
»Ich wollte nur bei meinem gnädigen Herrn anfragen, wie das mit dem Schulzenamt wird, wenn ich die Augen zutue? Es ist doch immer gut, wenn mans vorher weiß, damit man weiß, was man zu tun hat, denn sie sagen, mit der neuen Obrigkeit wird alles anders werden.«
»Denkt Er an den Tod, Köpke? Er ist ja noch rüstig wie einer.«
»Das ist schon recht, gnädiger Herr! Aber da mein Martin mir schreibt, daß er nun Husar bleiben will sein lebelang, und ans Retourkommen nicht denkt, und die Marte möchte heiraten, wer Lust hat, und die Marte weint doch auch und liegt mir Tag und Nacht in den Ohren, was nun werden soll –«
»Sein Martin, der Bengel aus Semmel und Milchbrei?«
»Rein wie ausgetauscht, schon seit er die Schnürjacke mit den Klunkern anhat, ist er ein anderer Mensch geworden, hat mir einer gesagt, der sich drüben von Kolberg durchschlich. Ist braun von Wind und Wetter, und die Knochen wachsen ihm aus der Schulter raus; er hat auch Aussicht, daß er einmal Unteroffizier wird. Und jetzt vollends schwört der Junge, Acker und Pflug, das wäre für Faullenzer und Schlafmützen, und er hätte keine Freude und Pläsier mehr auf der Welt, als den Franzosen auf den Dienst zu lauern.«
»Seit wann ist er so desperat?«
»Der Gottlieb war ihm doch immer so zu Herzen gewachsen. Die Marte hätte er ihm auch nicht gegönnt, und nun er sie haben könnte, denn der Tote streitet sie ihm nicht ab, nun mag er sie auch nicht.«
»Der Tote, was sagt Er, Schulz?«
Gottlieb Köpke fuhr noch einmal über die Augen: »Mein Gottlieb ist selig dem Herrn entschlafen. Ein Kürassier hat ihm bei Belgrad quer übers Gesicht gehauen; – sein hübsch Gesicht! Da stürzte er vom Pferde, – aber das hätte es nicht getan. Eine Kugel aus den Büschen ist ihm schon vorhin unter die Achselklappe gefahren; sonst hätte er den Kerl, den Kürassier noch niedergehauen. Denn zuschlagen konnte er. – An der Landstraße haben sie ihn eingescharrt – unter einem roten Akazienbaum; aber seine Seele ist unsterblich. – Zum Landwirt hatte er auch nie getaugt. – Er konnte die Oekonomie nicht begreifen – die Marte mochte ihn eigentlich auch nicht, und was das Schulzenamt anlangt, du lieber Gott! – Das Schreiben wollte ihm erst gar nicht abgehen.«
»Der arme Mann!« brach es von den Lippen. Die zerbrochene Sprache des Mannes, der immer sein Ziel fest im Auge hatte, war die deutlichste Notflagge, wie es im Innern gebrochen war. Der Herr wollte ihm die Hand drücken, aber der Bauer suchte hastig in der Tasche nach etwas.
»Sein Sohn ist gefallen, – aber der Tod fürs Vaterland ist ehrenvoll. Warum hält Er damit hinterm Berge?«
»Es tut doch vielleicht nicht gut, weil er drüben bei den Königlichen war!« hatte sich der Schulz gesammelt. »Aber Gott allein weiß, was gut tun wird. Rabiat sind sie jetzt alle bei uns, es war doch zu viel mit der Einquartierung. Wenn unsereins nur wüßte, wies mit dem Schulzenamt wird. Ein Husar kann nicht Schulz sein, das weiß Gott im Himmel, und der Marte ihr Aeltester steckt noch kaum in den Hosen, und Obrigkeit muß sein, das steht in der Bibel, und beim Schulzenhof muß sie bleiben, das ist auch so, als wenns in der Bibel stände.« Gottlieb Köpke war auch ein Mensch. Die Tränen rollten dem Vater von den Backen, um so stärker, als er sie lange zurückgehalten. Er fluchte auf die Franzosen. Einer hatte neulich auf die Marte geschlagen. Er stieß sogar eine Verwünschung aus gegen seinen gnädigen Herrn von Quilitz: »Was sei ein Gutsherr, der sich nicht hören und sehen lassen seit er nichts mehr aus dem Dorfe rauskriegt. Die vornehmen Herren hieltens mit den Franzosen. Er schilt uns rebellisch und infiziert. Nun, Gott sei Dank, wenns so weit ist, weiß unsereiner auch, was ist.«
Der Gutsherr machte eine abwehrende Bewegung: er konnte nicht gutheißen, was er gut fand. Der Fremde, Herr Walter, der den Bauer aufmerksam beobachtet, sagte zum Kandidaten: »Kam es schon so weit!«
Gottlieb Köpke hatte endlich das, was er gesucht, aus der Tasche geholt, ein Schreiben, das er vor sich hinwarf: »Die Marte haben sie geschlagen, meinen Gottlieb haben sie erschlagen, den Martin aus dem Vaterhaus gejagt. Da sei ein anderer ihr Briefträger; ich nicht.«
Es war ein Schreiben von der Armee an den Kolonel dEspignac, von einem Expressen nach Querbelitz überbracht, wo man den Offizier vermutete. Der Expresse hatte entweder nicht Lust gehabt, weiter zu reiten, oder ein Unfall ihn zurückgehalten, er hatte den Schulzen gepreßt, den Brief nach Ilitz zu überbringen. Der Schulze wußte, daß es ein eiliges und wichtiges Schreiben sei, aber die Wut in ihm kochte immer heftiger auf. Als der Fremde danach griff, schrie er: »Reißen Sies nur auf und sehen, was drin steckt, Verrat ists gewiß. Die Marte haben sie geprügelt und ihrem König den Kopf abgeschlagen. Da ists just recht, wenn man hinter ihre Schliche kommt. Wollten sie nicht den Herrn Major mal auf die Festung schleppen? Nun kanns wieder so sein. Einer ist ein Halunke wie der andere, und der Kolonel ist auch ein Franzose, und die Franzosen sind unsere Feinde, und wenn man einen hinter der Hecke totschlägt und seine Briefschaften nimmt, davon ist man noch kein Räuber und Mörder, sondern ein Patriot.«
Die gnädige Frau blickte ängstlich auf den Brief, den der Major unwillkürlich dem Fremden abgenommen und mit Blick und Hand wog, als könne von dem etwas wahr sein, was der Schulz gesagt.
»Der Mann hat insofern recht,« flüsterte jener dem Major zu, »es kann ein Recht gegen einen Feind, es kann zur Pflicht gegen das Vaterland werden. Sie müssen die Stellung und den Charakter des Kolonel am besten kennen.«
»Er ist ein Edelmann und –«
»Und der Brief an ihn gerichtet,« fiel Karoline rasch ein, und hatte ihn aus des Vaters Hand genommen, die zitterte. Auch ließ er das ruhig geschehen, was die Tochter unter anderen Verhältnissen nie gewagt hätte. Karoline fühlte das. Sie hielt ihn dicht ans Auge: »Sehen Sie, Vaters es ist ganz deutlich seine Adresse.«
Der Major war nicht ganz in seiner Fassung: »Es war mir etwas vor den Augen – es war mir,« setzte er leise hinzu, «als hätte ich den Brief öffnen müssen.«
Das waren Nebelstreifen, der Fremde aber sagte zum Kandidaten, als die anderen sich entfernt: »Die Medizin fängt an zu wirken. Und, Gott sei Dank, an den Teilen unseres Körpers, wo das Blut noch gesund ist.«
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